Walter-Borjans und Saskia Esken haben eine Chance verdient

Die Arroganz, mit der Vertreter anderer Parteien, aber auch die Mehrheit der journalistischen Kommentatoren dem neuen SPD-Führungsduo jede Kompetenz abspricht, ist widerwärtig. Wer ihren ätzenden Spott hört und liest, muss den Eindruck bekommen, der Untergang von Deutschlands ältester und größter Partei stehe unmittelbar bevor, weil „deren Schicksal nun zwei dahergelaufenen Würstchen anvertraut“ werde. „Unerfahren“, „blass“, „ohne Charisma“ sind noch die freundlicheren Adjektive für Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken.

Bei „Anne Will“ mussten sie sich herunterputzen lassen wie tumb-naive Schulkinder, beim Blick in Zeitungen und Kommentarspalten schlug ihnen geballte Ablehnung entgegen.

Wohl wahr (aber ja und), die beiden haben gerade einmal 53 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten – in einem Votum, an dem sich nur etwas mehr als die Hälfte der Parteimitglieder beteiligt hat. Im Fußball würde man von einem Zittersieg sprechen. Und, ja ebenso, anders als der konkurrierende Olaf Scholz haben die beiden keine Erfahrung in der Bundes- oder gar der internationalen Politik vorzuweisen (das aber gerade erstrecht viele Genossen veranlasst haben mag, eben diese Beiden aufs Schild zu heben. Und, dass die Beiden noch nicht mit der Kanzlerin per du sind wohl auch, und dass sie auf der Straße von den meisten Bürgern wohl auch nicht erkannt werden würden, diesen Vorteil werden sie wahrscheinlich nicht allzulange zu genießen das Vergnügen haben.

Mithin muß gefragt werden dürfen, was tumbe Sprüche meinen wollen. Und, warum gesteht der Chor der lästernden Besserwisser den Beiden in einem zwar langwierigen, aber basisdemokratischen Prozess gewählten Neulingen nicht einfach mal die Chance zu, sich freizuschwimmen? Warum bekommen sie nicht wenigstens die Schonfrist von hundert Tagen zugestanden, die man üblicherweise jedem neugewählten Amtsträger zubilligt? Könnte es daran liegen, dass aus Sicht der Mehrheit einfach nicht sein kann, was (aber warum?) nicht sein darf? Weil man sich daran gewöhnt hat, dass seit Jahren die immer gleichen Gesichter auf den Regierungsbänken, in den Parteizentralen und in den Talkshows sitzen und in der Glotze zu sehen sind? Weil man mit denen so prima kungeln kann, beim Brunch im „Café Einstein unter den Linden“ oder beim Bier in der „Ständigen Vertretung“?   Die deutsche Politik erlebt gerade einen Umbruch. Wer also sagt, er wisse genau, wie es jetzt weitergeht für die SPD und für die große Koalition, der traut sich ein bisschen viel zu.

Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken könnten – was Wunder – im erbarmungslosen Berliner Politikbetrieb straucheln, vielleicht sogar scheitern. Zugleich verkörpern sie aber einen Trend, der sich mehr oder weniger schleichend breit macht und in unseren europäischen Nachbarstaaten bereits weiter vorangeschritten ist als hierzulande: Immer mehr Bürger sind abgeschreckt von den Ritualen, der Mutlosigkeit und auch der Karrierefixierung vieler altbekannter Spitzenpolitiker. Sie sehnen sich nach neuen Köpfen. Nach bodenständigen Typen, die Klartext reden, statt Phrasen zu dreschen. Nach Führungskräften, die ihre Autorität nicht aus der Zahl der auf Berliner Chefstühlen abgesessenen Jahre beziehen, sondern aus ihrer Ausstrahlung und ihrer Verankerung draußen im Land. Sicher spielt die Sehnsucht vieler SPD-Genossen und besonders vieler Jusos nach einem Neuanfang ohne die erdrückende Umarmung Angela Merkels eine Rolle – aber der Sieg von Walter-Borjans und Eskens ist auch eine Folge der Elitenverdrossenheit. Zwischenruf: Eliteverdrossenheit? Wir sinds nicht …

Dies alles bedeutet nicht, dass die beiden unbedingt bessere Politik machen werden als Olaf Scholz und Co. Aber sie haben die Chance verdient, zu zeigen, was sie können. Ohne Häme und ohne Verachtung. Ob man das irgendwann auch im „Café Einstein“ kapiert?

Dez 2019 | Allgemein, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren