Die Anatomie galt lange Zeit als eines der wenigen Forschungsgebiete, auf denen eigentlich nicht mehr viel geforscht werden kann. Denn so ziemlich alles hielt man für schon bekannt.
Aber in jüngster Zeit machen Mediziner und Biologen mit Hilfe neuer Methoden doch immer wieder ziemlich unerwartete Funde. Der neueste wirft, wenn er sich beim Menschen bestätigt, ziemlich viel von dem über den Haufen, was man bisher über die Heilung tiefer Wunden zu wissen glaubte. Nun nämlich sieht es so aus, als ob ein Gewebe, das bislang einfach Interstitium hieß, also „Zwischenraum“, auch deutlich mehr ist als nur ein irgendwie mit Zellen und Proteinen aufgefüllter Bereich zwischen den Organen.
Unter der Haut: Dort, also jenseits von Epidermis (Oberhaut) und eigentlicher Haut (Dermis) liegt offenbar ein Reservoir – Forschung, die unter die Haut geht: Der Körper schließt Verletzungen offenbar über einen bislang völlig unbekannten Mechanismus.
Regenerieren oder Flicken?
Tatsächlich wusste man gar nicht so viel darüber, was im Detail passiert, wenn eine tiefe Wunde sich schließt. Bekannt war, dass bestimmte Zellen in das Gebiet einwandern und die Wunde recht schnell abdichten. „Die Reaktion bei uns Säugetieren ist ein im Vergleich zur Regeneration, wie man sie etwa bei Salamandern sieht, sehr schneller Wundverschluss“, sagt Yuval Rinkewich, der am Helmholtz-Zentrum München die Arbeitsgruppe für Regenerationsbiologie leitet.
Bereits im 18. Jahrhundert erkannten Wissenschaftler, dass eine ganze Reihe von Tierarten in der Lage ist, Gewebe, ganze Organe und sogar komplette Gliedmaßen zu regenerieren:
Finger, Hände, Arme, Beine – für den Axolotl (Foto: Schering Stiftung)
sind das beinahe so austauschbare Körperanhängsel wie beim Menschen die Haare oder Fingernägel. Verliert der Schwanzlurch ein Bein, wächst es vollständig nach. Auch andere Gewebe, sogar das Rückenmark, werden nach einer Verletzung nicht nur notdürftig vernarbt, sondern regenerieren.
Uns ging diese Fähigkeit im Laufe der Evolution irgendwann verloren
Heute nämlich gehören bereits chronische offene Wunden zu den Problem-Diagnosen, mit denen Dermatologen sehr häufig zu tun haben. Sie belasten Patienten, werden wegen der Gefahr von Wundinfektionen – auch mit resistenten Keimen – zunehmend zum Problem und verursachen insgesamt hohe Kosten.
Um bessere Therapien entwickeln zu können, wäre es gut, den genauen Mechanismus zu kennen, der abläuft, wenn es der Körper schafft, eine tiefe Wunde zu verschließen. Das könnte auch helfen, um der Bildung von zu viel sowohl gesundheitlich als auch ästhetisch problematischem Narbengewebe vorzubeugen.
Ein Zellverband als Wundverband
Rinkewich hatte gemeinsam mit anderen Forschern schon 2015 eine interessante Entdeckung gemacht: Er fand bei Mäusen, dass genau jene Art von Bindegewebszellen, die in heilenden Wunden am häufigsten vorkommen, sich auch in einem Bereich fanden, in denen man sie eher nicht erwarten würde: im Fasziengewebe. In dieser Grenzschicht zwischen Haut (Dermis) und darunter liegendem Gewebe von Muskeln, Knochen und Organen konnte er diesen speziellen Typ von Fibroblasten-Zellen nachweisen. Die jetzt im Fachmagazin „Nature“ veröffentlichten neuen Befunde zeigen, was das bedeutet.
Entdeckung Heidelberger Wissenschaftler
Bisher ging man davon aus, dass die wichtigsten Komponenten der Wundheilung (Heidelberger Wissenschaftler) Bindegewebszellen etwa, aus der Haut selbst in die Wunde einwandern, dort Verbindungen eingehen und so die Wunde schließen. Donovan Correa-Gallegos, Rinkewich und weitere Kollegen des Münchener Teams untersuchten jetzt an Mäusen, ob nicht jene Zellen aus den Faszien vielleicht auch eine Rolle spielen. Tatsächlich fanden sie, dass in sich schließenden Wunden die große Mehrzahl der Bindegewebszellen aus diesen tiefen Bereichen stammt.
Noch überraschender war, „dass wir es mit einer Art auf Vorrat gehaltener Pflaster von innen zu tun haben“, sagt Rinkewich. Denn weitere Versuche zeigten, dass nicht etwa lose Zellen in die Wunde gepumpt werden, die sich dort erst wieder komplett neu organisieren müssen. Vielmehr schieben sich schon vor der Verletzung vorhandene Gewebeschichten als Ganzes nach oben. Dabei werden auch Bindegewebsfasern, Blutgefäße und sogar Nervenenden mitgezogen.
Von Mäusehaut und Menschenhaut
Die Wunde wird richtiggehend mit vorgefertigtem, am ehesten mit einen Gel zu vergleichenden Material, von innen verstopft. Das muss sich dann nur noch mit den Wundrändern verbinden, um die Wunde zu schließen, und eine Deckschicht ausbilden. Danach kann es sich gleichsam in Ruhe umorganisieren und die endgültige Narbe bilden.
Weil es zwischen Maus- und Menschenhaut aber ein paar Unterschiede gibt, suchten die Münchener Forscher auch nach Hinweisen, ob bei Menschen der Prozess überhaupt ähnlich ablaufen könnte oder nicht. Anders als bei den Versuchstieren, konnten sie zwar beispielsweise keine Zellen mit fluoreszierenden Farbstoffen markieren. Sie fanden aber in menschlichem verdicktem Narbengewebe (Keloiden) reichlich von genau den Proteinen, die auch in Faszien produziert werden. Dazu kamen weitere Hinweise, die auf einen vergleichbaren Prozess hindeuten.
Auch Carmen Birchmeier, Entwicklungsbiologin am Max Delbrück Centrum in Berlin-Buch, sieht „keinen Grund, warum das nur bei der Maus relevant sein sollte“. Die Befunde seien wirklich „neu“ und könnten sich möglicherweise für verbesserte Therapien bei sich schlecht schließenden Wunden als hilfreich erweisen. Rinkewich hofft das ebenfalls. Außerdem, sagt er, „eröffnen die Ergebnisse eine ganze Reihe von Möglichkeiten, übermäßige Fibrosenbildung zu verhindern“. Fibrosen sind massive Vernarbungen, auch an inneren Organen. Rinkewich glaubt, dass auch hier die Prozesse ähnlich ablaufen wie unter und in der Haut.