Gerade noch rechtzeitig konnte er vor Hitlers Schergen fliehen, nach dem Krieg knöpfte er sie sich vor: Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer war einer der hartnäckigsten Nazi-Jäger. Er brachte Adolf Eichmann zur Strecke – und war Ankläger im wichtigsten Prozess der Bundesrepublik.

Eichmann? Adolf Eichmann? Den Namen dieses Massenmörders habe er zuvor nie gehört, erklärte der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer im Juni 1960 seinem Gesprächspartner, dem israelischen Diplomaten Felix Shinnar. Dessen Landsleute, Agenten des Geheimdienstes Mossad, hatten den NS-Verbrecher gerade in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires festgenommen – um ihm in Jerusalem den Prozess machen zu können.

Shinnar, Leiter der damaligen Vertretung Israels in Köln, zeigte sich überrascht angesichts der angeblichen Unkenntnis Adenauers. Denn seit fast vier Jahren schon existierte ein in Frankfurt erlassener Haftbefehl gegen den früheren SS-Obersturmbannführer Eichmann wegen millionenfachen Mordes an Juden, regelmäßig stand er, weil „unbekannten Aufenthaltes“, ausgeschrieben im „Deutschen Fahndungsbuch“.

Und es gab Spuren von ihm, die sowohl der Bundesnachrichtendienst als auch das Bundesamt für Verfassungsschutz in ihren klandestinen Papieren notiert hatten; mit Sicherheit landeten sie auch in jener Behörde, die damals als eine Art Überministerium galt: dem Bundeskanzleramt.

Den Fall herunterspielen

Adenauer, der ein Aktenmensch durch und durch war, muss also präzise Kenntnis gehabt haben über so ziemlich alles, was Eichmann betraf. Dass er sich dem israelischen Diplomaten gegenüber dennoch ahnungslos zeigte, kann eigentlich nur einen Grund haben: Der Kanzler gedachte wohl, den Fall Eichmann herunterzuspielen.

Immer wieder habe Bauer versucht, schreibt die Historikerin Irmtrud Wojak in einer Biografie (Blick ins Buch) über den Top-Juristen, die Spitzen der Regierung davon zu überzeugen, dass an Argentinien, wo Eichmann ausgemacht worden war, ein Auslieferungsantrag gestellt werden müsse; die Autorin hatte dafür eine hervorragende Quelle aufgetan – den früheren israelischen Chefankläger Haim Cohen, der im Jahr 2002 verstorben ist.

Antrag abgelehnt

Ihm gegenüber klagte Bauer, jahrelang habe er alle zuständigen Stellen ersucht, diesen Schritt doch zu tun. Er habe beim Justizminister vorgesprochen, dem CSU-Politiker Fritz Schäffer. Und beim Bundeskanzler. Immer hieß es: Antrag abgelehnt. Bauer zu Cohen, der aus Schleswig-Holstein stammte: „Sie wollten das nicht auf sich nehmen.“ Soll heißen: Kein Prozess hierzulande.

Haltung wirft Schlaglicht auf politische Befindlichkeiten

Der Kanzler, der selbst Opfer nationalsozialistischer Übergriffe gewesen war, glaubte daran, dass Defensive die bessere Taktik sei. Ganz am Anfang, nach dem Schock vom 8. Mai 1945 und noch vor den schnellen Urteilen der Alliierten im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, hatten fast 80 Prozent der Westdeutschen es für gut und richtig erachtet, alle nationalsozialistischen Führungskräfte auf die Anklagebank zu setzen.

1950 dann, die Folgeprozesse in Nürnberg waren kaum beendet, stimmten gerade noch 38 Prozent dafür – nicht auszuschließen, weil vielen dämmerte, sie könnten von einer umfassenden Entnazifizierung bald selbst betroffen sein. Plötzlich ging es gegen die vermeintliche „Siegerjustiz“, plötzlich war man für die Einstellung jeglicher Strafverfolgung, das Wort der Jahre hieß einfach: Schlussstrich. Endlich sollten die alten Geschichten ruhen.

Flucht nach Dänemark

Nur ein Moralist unter der Robe konnte dagegen ankämpfen, und so einer war Fritz Bauer, 1903 geboren in Stuttgart. Er war Jude, auch besaß er, doppelt schlimm in Hitler-Zeiten, das SPD-Parteibuch. Bauer wurde ins KZ eingesperrt. 1935 floh er nach Kopenhagen, „auf die glückliche Insel Dänemark“, später nach Schweden.

Als er nach langem Zögern 1949 zurückkehrte in die alte Heimat, stand für Bauer fest, was sein Lebenswerk sein müsse – nämlich die „Auseinandersetzung mit den Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“ (Irmtrud Wojak). Also verlangte er den Deutschen eines ab: „Gerichtstag zu halten“ über sich selbst. Ein frommer Wunsch.

Gleich der erste große Fall, da war Bauer noch Generalstaatsanwalt in Braunschweig, diente seiner besonderen Form der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit. Er klagte 1952 den früheren Kommandeur des Wachbataillons „Großdeutschland“, Otto Ernst Remer, wegen „übler Nachrede“ an – weil der als Wortführer der rechtsextremen Sozialistischen Reichspartei die Widerständler des 20. Juli verunglimpft hatte.

Ein Eid auf Hitler

Die Strategie der Remer-Verteidiger, den beteiligten Offizieren „Eidbruch“ und somit „Verrat“ vorzuwerfen, konterkarierte Bauer in glänzender Manier. Ein Eid auf Hitler, argumentierte er, sei „unsittlich“ gewesen. Also hätten alle Beteiligten diesen „Eid gar nicht brechen können“. Remer wurde zu drei Monaten Haft verurteilt, und erstmals stellte ein Gericht klipp und klar fest, dass der NS-Staat „ein Unrechtsstaat“ gewesen sei.

Millionen Menschen werden dieses juristische Votum bedauert und kritisiert haben, der Zeitgeist aber, der war genau so.
Bauer, sagt seine Biografin Wojak, „provozierte das schlechte Gewissen“ deshalb mit Kalkül – was „nicht selten massive Gegenwehr bei den Nachkriegsdeutschen“ ausgelöst habe.

Zu diesen Reflexen gehörte wohl auch, dass sich weder Strafverfolger noch Zeitgeschichtler bis dahin eingehend mit der systematisch begangenen Vernichtung der europäischen Juden beschäftigt hatten, dem Genozid. In der nationalsozialistischen Bürokratensprache trug er eine zu Zeiten verharmlosende Chiffre: „Endlösung.“

Das wichtigste Verfahren der Geschichte


Bauer schob, als er genug Beweismaterial hatte, das wohl wichtigste Strafverfahren in der deutschen Geschichte an – den Auschwitz-Prozess.

Und, Generalstaatsanwalt Fritz Bauer war hartnäckig drangeblieben an jenem Mann, dessen Name zum Synonym werden sollte für Massenmorde: (Bild): Eichmann, Adolf.

Kurz nach Kriegsende hatte die Polizeidirektion Wien, der gebürtige Solinger Eichmann lebte jahrelang in Österreich, ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet, die Sache freilich ging nicht voran. Kein Wunder, denn der Gesuchte lebte unter falschem Namen („Otto Henninger“) erst am Chiemsee, dann in der Lüneburger Heide; im Juni 1950 flüchtete er, mit kirchlicher Unterstützung, nach Argentinien. Nun hieß er Ricardo Klement.

Der Vorgang Eichmann – sein Fall war während der Nürnberger Prozesse kurz gestreift worden, längst aber wieder in Vergessenheit geraten – landete im Herbst 1956 schließlich auf Bauers Schreibtisch, nach einer Odyssee „durch die Zimmerfluchten von Ministerien, Staatsanwaltschaften und Gerichten“, wie Bauer sarkastisch anmerkte. Und der Zufall wollte es, dass ihn im Jahr darauf der Brief eines jüdischen Emigranten aus Argentinien erreichte. Er wisse genau, teilte dieser mit, wo Eichmann sich aufhalte, seine Tochter habe sich ausgerechnet mit dessen Sohn Klaus angefreundet.

Der NS-Mörder wird gekidnappt

Der Generalstaatsanwalt gab diese Nachricht weiter an Felix Shinnar, Adenauers Gesprächspartner; Shinnar leitete damals die israelische „Delegation betreffend Reparationen in Westdeutschland“. Shinnar wiederum informierte den Geheimdienst seines Landes. Nun liefen die Recherchen, und um Eichmann in Sicherheit zu wiegen, lancierten Bauer und der Mossad Zeitungsmeldungen, wonach Eichmann in Kuwait entdeckt worden sei, Bonn strebe dessen Auslieferung an.
Nichts davon stimmte, und weil Bonn nicht aktiv wurde (Kanzler Adenauer: „Eichmann ist kein deutscher Staatsbürger“), schlugen die Israelis zu. Sie kidnappten den NS-Mörder am 11. Mai 1960, flogen ihn nach Israel aus und stellten ihn hier vor Gericht. Am 15. Dezember 1961 wurde er zum Tode verurteilt – dies sei, schreibt Irmtrud Wojak, bis dahin Bauers „größter Erfolg zur Aufklärung der ‚Endlösung‘ gewesen.“

Hinweis auf ein Preisgekröntes Drama von Lars Kraume – nächste Ausstrahlung am Freitag,
15. November um 13:45 Uhr
Sehen Sie hier eine zweiminütige Vorschau auf ARTE.

 

 

Nov. 2019 | Allgemein, Buchempfehlungen, Essay, Politik, Sapere aude | Kommentieren