Im Buch „Exit“ befassen sich der Herausgeber Helmut Ortner und andere Autorinnen und Autoren mit der Frage, warum die Welt weniger Religion braucht – und der Glaube Privatsache sein sollte. Ein Auszug:

Unser Land darf weiterhin auf göttlichen Beistand hoffen. Ein überwiegend christliches Kabinett setzte auch im März 2018 im Berliner Reichstag auf gewohnte Dramaturgie: zwölf Bundesministerinnen und -minister beendeten ihren Amtseid mit der Formel „So wahr mir Gott helfe“. In den Niederungen der Realpolitik mag eine Dosis göttlicher Eingebung mitunter durchaus hilfreich sein, doch möglich ist es den Ministerinnen und Ministern auch, ihren Eid „ohne religiöse Beteuerung“ zu leisten. Sie sagen dann nur: „Ich schwöre es!“ Drei der neuen Minister nutzten die Formel ohne religiöse Beteuerung: Bundesfinanzminister Olaf Scholz, Bundesjustizministerin Bärbel Barley und Bundesumweltministerin Svenja Schulze (alle SPD). Schon Kanzler Gerhard Schröder hatte einst auf das religiöse Beiwerk verzichtet, ebenso wie sein grüner Außenminister Joschka Fischer und Umweltminister Jürgen Trittin. Die moralischen Grundwerte des rot-grünen Abendlandes gerieten – trotz leicht atheistischer Einfärbung – nicht in ernsthafte Gefahr. Immerhin.

Auch ohne Gottesschwur: Gott mischt kräftig mit in der deutschen Politik. In den Parlamenten, den Parteien, den Institutionen. „Dabei wird so getan, als hätte er ein ganz natürliches Anrecht darauf, als gehörte er zur politischen Grundausstattung, zum politischen Personal der Bundesrepublik, zur deutschen Demokratie“, konstatiert Dirk Kurbjuweit.

Nicht nur in der deutschen Politik, vor allem in deutschen Gerichtssälen wird viel geschworen. Bei der Vereidigung vor Gericht geht dem Amts-Eid stets die Eingangsformel „Sie schwören …“ (bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden) voraus. Im Strafverfahren wird nach § 64 StPO angemahnt: “… dass Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben.“ Die Ironie dabei ist: es wird ausgerechnet auf ein Buch geschworen, das viele Irrtümer, Erfindungen und Mythen enthält. Trotz allem: von der Kanzlerin bis zum Gerichtszeugen – auf göttliche Beschwörung, vor allem christliche Beteuerung, wird hierzulande also noch immer gerne vertraut.

Dass unsere heutige Demokratie unbestreitbar auf einem Menschenbild gründet, das viel mit dem Christentum zu tun hat, will niemand infrage stellen. Aber die Geschichte zeigt, dass die christlichen Kirchen nicht unbedingt Trägerinnen der Demokratie waren – und sind. Was heute Staat und Staatsbürger ausmacht, ist gegen die christlichen Kirchen erkämpft worden.

Sonderrechte für Gemeinschaften?

Deutschland ist ein säkularer Verfassungsstaat. Ob eine religiöse Gemeinschaft oder ein Einzelner dennoch Sonderrechte beanspruchen können, darüber herrscht mitunter Unstimmigkeit. Ist eine rituelle Genitalbeschneidung bei Jungen ein akzeptables religiöses Ritual oder eine schmerzhafte Körperverletzung?

So hatte das das Landgericht Köln im Mai 2012 über einen operativen Notfall zu urteilen, bei dem es nach einer Beschneidung in Folge von Nachblutungen zu Komplikationen gekommen war. Nüchtern stellte der Richter festgestellt: „Die operative Entfernung der Penisvorhaut des minderjährigen Patienten hatte ohne medizinische Notwendigkeit stattgefunden.“ Und weil die Amputation eines gesunden Körperteils zwingend der Aufklärung und schriftlichen Einwilligung des Patienten bedarf, der in diesem Fall nicht einwilligungsfähig war, warf die Staatsanwaltschaft dem „Beschneider“ vor, „eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben“. Oder deutlicher: Das Gericht bezeichnete die rituelle Beschneidung als Körperverletzung.

Helmut Ortner: EXIT – Warum wir weniger Religion brauchen Eine Abrechnung Mit Essays von Hamel Abdel-Samad, Constanze Kleis u.a. Nomen Verlag, 360 S., 24 Euro, erscheint am 15. Mai.
Helmut Ortner: EXIT – Warum wir weniger Religion brauchen Eine Abrechnung Mit Essays von Hamel Abdel-Samad, Constanze Kleis u.a. Nomen Verlag, 360 S., 24 Euro, erscheint am 15. Mai.

Ein Sturm der Entrüstung brach los – im Epizentrum die brisante Frage: Was wird in Deutschland höher bewertet – das Recht männlicher Kinder, die religiöse Eltern haben, auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht religiöser Eltern, ihre Rituale auf ihre Söhne zu übertragen, auch wenn dies einen schmerzhaften Eingriff zur Folge hat. Kindeswohl contra Religionsfreiheit? Diese sahen die religiösen Eltern mit dem Kölner Urteilspruch in Gefahr und sie bekamen lautstarke Unterstützung von Seiten ihrer offiziellen Religions-Funktionäre – unisono, ob vom Zentralrat der Juden, moslemischen Gemeinden, Deutschen Bischöfen. Sie alle werteten das Urteil als eklatanten Angriff auf die Ausübung ihres Glaubens. Jüdische Glaubensfunktionäre behaupteten, die ganze Welt akzeptiere die Beschneidungspraxis – nur die Deutschen nicht. Wer sich für das Kindeswohl einsetzte, galt schnell als Antisemit. Auch wenn es hier nicht um ein generelles Verbot der Beschneidung, sondern um ein Verbot der Zwangsbeschneidung von Minderjährigen ging – in den Gottes-Communities rumorte es kräftig.

Der Deutsche Bundestag verabschiedete im Rekordtempo auf Initiative der Bundesregierung (und mit Mehrheit) ein „Gesetz über den Umgang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes“ und legalisierte damit rituelle Beschneidungen. Und so sind hierzulande nur Mädchen vor rituellen Genitalbeschneidungen geschützt, Jungen indes darf aus religiösen Gründen weiterhin straffrei die Vorhaut amputiert werden, auch wenn die Ausführenden keine Ärzte sind, sondern von Religionsgemeinschaften dazu intern ausgebildet wurden. Zwar heißt es in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die 1992 auch in Deutschland in Kraft trat, im Artikel 19: „die Staaten treffen alle Maßnahmen, um Kinder vor jeglicher Form von Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung zu schützen“ – die Beschneidungen scheinen hier ausgenommen zu sein.

Tatsache ist: Was Religion ist und wie sie praktiziert wird, liegt nach Auffassung des Bundestags (und auch des Bundesverfassungsgerichts) stellenweise noch immer in der Definitionshoheit der Religionsgemeinschaften selbst. Man kann dieses expansive Verständnis von Religionsfreiheit – das einerseits die Standards unseres liberalen Verfassungssystems in Anspruch nimmt, andererseits auf Sonderrechte pocht – als Ausdruck einer konstanten Missachtung des staatlichen Neutralitätsbegriffs sehen.

Die Frage drängt sich auf: Wie säkular soll, ja muss die Justiz selbst sein? Wie viele religiöse Symbole verträgt die dritte Gewalt in einer multireligiösen Gesellschaft? Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit dem Urteil zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen 2003 angemahnt, die „Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität“ strenger zu handhaben, um Konflikte zwischen den Religionen zu vermeiden.

Für Richter oder Staatsanwälte ist die Rechtslage hier eindeutig: Landesgesetze, wie das Berliner „Weltanschauungssymbolgesetz“, schreiben vor, keine „sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole zu tragen“. In Hessen ist Musliminnen während der Referendarzeit das Tragen von Kopftüchern innerhalb von Dienstgebäuden untersagt, bei Schöffinnen mit Kopftuch zeigt sich die Justiz mal tolerant, mal ablehnend. Die Justiz reagiert eher hilf- und orientierungslos. Zwei Wege sind möglich: „Einübung in die Toleranz“, etwa das Aufeinandertreffen eines jüdischen Angeklagten mit Kipa, der vor einer muslimischen Schöffin mit Kopftuch im Gerichtssaal steht – unter einem christlichen Kreuz. Oder aber, wie im laizistischen Frankreich, das Verbot jeglicher religiöser Symbolik im Gerichtssaal – selbstredend auch Verzicht auf das obligate Kruzifix an der Wand.

Unterricht für alle Konfessionen

Oder: Wie säkular soll, ja muss der Alltag in unseren Schulen sein? Religionsunterricht gibt es flächendeckend in staatlichen Schulen, zunehmend auch für moslemische Schüler, unterrichtet von eignes dazu ausgebildeten moslemischen Religionspädagogen. In den Kultusministerien sieht man darin ein zeitgemäßes Spiegelbild unserer multi-religiösen Gesellschaft. Der Psychologe Ahmad Mansour, Mitbegründer der „Initiative Säkularer Islam“, lehnt das ab. Er fordert: Kein Religionsunterricht, sondern Religionskunde. Dort könnten Kinder und Jugendliche erfahren, was es mit den Religionen auf sich hat, woher sie kommen, wie sie entstanden sind, wie sie unsere Gesellschaft, unseren Alltag geprägt haben und noch immer prägen. In einem Rundfunkinterview kritisierte Mansour, es sei nicht mehr zeitgemäß, an einem bekenntnisorientierten Religionsunterricht festzuhalten, getrennt nach religiöser Zugehörigkeit. „Ich halte es für hochproblematisch, dass wir Kindern schon mit acht oder neun Jahren sagen; Ja, Du bist Christ, Protestant – dann gehe in die Klasse A. Die Moslems gehen in die Klasse B und die Juden in die Klasse C“, so der islamkritische Psychologe.

Gerade in Zeiten von Vorurteilen müsse das Wissen übereinander gefördert werden, so Mansour. Er plädiert stattdessen für einen nicht-bekenntnisorientierten Unterricht für alle Konfessionen gemeinsam. Es würde Muslimen gut tun, mehr über das Christentum und das Judentum zu erfahren „und zwar nicht in den Hinterhofmoscheen in Neukölln, sondern in einer staatlichen Schule von einem Religionslehrer, der gut ausgebildet ist, der ein Demokrat ist, der Aufklärung verstanden hat“, so dessen Kritik.

Helmut Ortner hat mehr als zwanzig Bücher, überwiegend Sachbücher und Biografien, veröffentlicht.

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Helmut Ortner hat mehr als zwanzig Bücher, überwiegend Sachbücher und Biografien, veröffentlicht.

Man möchte Herrn Mansour beipflichten – und ihm zurufen: Wie wäre es, vielleicht ganz auf den Religionsunterricht an staatlichen Schulen zu verzichten? Stattdessen eine Einführung in den evolutionären Humanismus, von Lehrerinnen und Lehrern, die sich der säkularen Aufklärung widmen? Aber es wird hierzulande vorerst beim bekenntnisorientierten Religionsunterricht bleiben, ordentlich separiert nach Konfessionen. Und nicht nur in Bayern unter einem Kruzifix an der Wand des Klassenzimmers.

Ob im Gerichtssaal oder im Klassenzimmer: es geht nicht um die Austreibung Gottes aus der Welt. Glaubens- und Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Im Gegenteil: Demokratische Staaten garantieren religiösen Gruppen, Gemeinschaften oder Kirchen, dass sie frei agieren können, soweit sie nicht die Freiheiten anderer gefährden oder die Gesetze verletzen. Aber wir hätten keinerlei Einwände, wenn das Neutralitätsgebot endlich Anwendung fände und der Einfluss der Religionen – hierzulande vor allem der der beiden großen christlichen Konfessionen – eingeschränkt und zurückgedrängt würde, inklusive aller Privilegien und Ressourcen, Subventionen und Ordnungsfelder. Und der Gottesbezug in der Präambel unseres Grundgesetzes? Auch der darf gerne gestrichen werden. Unser Grundgesetz sollte gottlos sein.

Dass es an der Zeit ist, die „Kirchenrepublik Deutschland“ hinter uns zu lassen und dafür zu sorgen, dass aus Verfassungstext endlich Verfassungswirklichkeit wird, wurde einmal mehr sichtbar, als im Februar 2019 im Deutschen Nationaltheater in Weimar der offizielle Festakt zu „70 Jahre Grundgesetz“ und „100 Jahre Weimarer Verfassung“ stattfand. Die Jubiläums-Dramaturgie sah wie selbstverständlich einen ökumenischen Gottesdienst mit der evangelischen Landesbischöfin und dem katholischen Erfurter Bischof vor. Dabei wurde gerade die elementaren Bürgerechte – von Meinungsfreiheit bis Frauenrechten – kurz das, was heute Staat und Staatsbürger ausmacht, gegen den Klerus erkämpft.

An diesem grundsätzlichen Mangel an demokratischen Standards wird, so ist zu befürchten, sich in naher Gegenwart wenig ändern. Dafür sorgt die politische Klasse, allen voran die C-Parteien. So inszenierte sich die neue Parteivorsitzende der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, der große Chancen eingeräumt werden, Angela Merkel als Bundeskanzlerin zu folgen, wiederholt als Retterin des christlichen Abendlandes. Sie ist nicht nur Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), sondern demonstriert auch immer wieder ihre Frömmigkeit, wenn es um politische Inhalte geht. Eine Entscheidung des Saarbrücker Amtsgerichts, Kreuze aus den Sitzungssälen entfernen zu lassen, mochte sie nicht nachvollziehen: „Das Kreuz verdeutlicht, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge ist“, so Kramp-Karrenbauer im Saarländischen Rundfunk. Nirgendwo sieht die CDU-Frontfrau Änderungsbedarf, was den Status quo der genannten Privilegien, Subventionen und Zuwendungen betrifft, auch das staatliche Neutralitätsgebot sieht sie nicht verletzt. Alles soll so bleiben, wie es ist. Beispielsweise auch der „Blasphemie-Paragraph“ (§ 166 StGB). Dort heißt es: „… Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. …“

Kurz nach dem Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo sprach sich Kramp-Karrenbauer gegen eine Streichung aus, denn dieser Paragraph verdeutliche, „dass Religion und die damit verbundenen Gefühle der Menschen ein schützenswertes Rechtsgut“ seien. Die CDU-Politikerin ist sich in der Beschwörung des „Respekt[s] vor religiösen Anschauungen“ mit eifernden Glaubens-Fundamentalisten aller Religionen einig: Ob Adepten des Katholizismus, Vertreter eines Islams oder orthodoxen Judentums – sie alle reklamieren ständig und allerorten „Respekt!“. Einige fordern sogar einen neuen, schärferen Blasphemie-Paragraphen.

Die Blasphemie ist eine Konstruktion und hat eine lange und wechselhafte Geschichte. In Frankreich wurde sie als „imaginäres Verbrechen“, als strafwürdiges Delikt 1791 abgeschafft. Lange war sie im modernen, aufgeklärten Europa verschwunden. Spätestens seit den Mord-Drohungen gegen die Herausgeber und Redakteure einer dänischen Tageszeitung, die Mohammed-Karikaturen veröffentlich hatte (was in der moslemischen Welt zu einem Sturm der Entrüstung führte), aber kehrte die Diskussion um ein Blasphemie-Verbot zurück. Wendepunkt war dann der terroristische Angriff am 7. Januar 2015 auf die Pariser Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo, bei dem zwölf Redaktionsmitglieder von moslemischen Glaubensfanatikern ermordet wurden. In den Tagen danach distanzierten sich zwar zahlreiche muslimische Organisationen von dem Anschlag, doch einige konnten der Versuchung nicht widerstehen, dem Ganzen ein „Aber“ hinzuzufügen. Man verurteilte die Terroristen wegen ihrer Gewalttat, doch im gleichen Atemzug wurde – auch von linken Intellektuellen – der Zeitschrift vorgeworfen, sie habe die „Gefühle von Millionen Muslimen überall auf der Welt verletzt“.

Freiheit hat eben ihren Preis

Das Prinzip der Rede- und Meinungsfreiheit, aber auch das der Pressefreiheit im Zusammenhang mit den islam-kritischen Zeichnungen war schon vor dem Attentat „im Namen des Respekts vor Religion“ immer wieder kritisch thematisiert worden. Gegen solcherlei Vorwürfe und Attacken wehrte sich das Blatt. Der Zeichner und Chefredakteur Charb schrieb an die Kritiker einen längeren Text mit der Überschrift „Brief an die Heuchler“ (der später in Buchform erschien). Er konnte nicht ahnen, dass er zwei Tage, nachdem er das Manuskript abgeschlossen hatte, nicht mehr leben sollte – ermordet von fanatischen Killern, die behaupteten, im Namen Allahs zu handeln.

„Ein Fanatiker ist ein Mensch, der nur bis eins zählen kann“, beschreibt Amos Oz, weltweit gelesener und vielfach ausgezeichneter israelischer Schriftsteller (unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992) das autistische Weltbild dieser mörderischen Irrläufer: „Die fanatischen Kämpfer sind uns von Gott gesandt, um die Welt zu reinigen, um uns von all dem Schmutz zu befreien, der an uns haftet … In den Augen moslemscher wie auch anderer Glaubensfanatiker ist die Befolgung sämtlicher religiöser Gesetze in ihrer schärfsten Form die einzige Medizin gegen alle Krankheiten der Menschheit.“

Ihr mörderischer Irrsinn ist zeitlos. Noch heute arbeitet die Charlie Hebdo-Redaktion an einem geheimen Ort in Paris, rund um die Uhr bewacht von einem privaten Sicherheitsdienst. Immer wieder gibt es Drohungen, vor allem im Internet.

Warum aber sollte man Religionen einen besonderen Respekt entgegenbringen? Es ist eine Errungenschaft der Aufklärung, dass es in einer freiheitlichen Demokratie keine „Meinungsdelikte“ – definiert von Kardinälen, Imamen oder Rabbinern – gibt. In einer säkularisierten Gesellschaft schützt der Staat immer den Gläubigen, nie aber eine einzige Religion. Und deswegen müssen Religionen, welche es auch immer sein mögen, Spott aushalten, ganz gleich, ob es ihren Gott oder ihre Propheten trifft.

Ich halte es hier gerne mit Rowan Atkinson, besser bekannt als der zappelnde Komiker „Mr. Bean“, welcher der Meinung ist, man dürfe über alles Witze machen, selbstverständlich auch über Glaube und Religion. Der britische Ex-Außenminister Boris Johnson, ein Politiker, der Witz und Spott zum Stilmittel in der Politik erhob, hatte Burka-Trägerinnen als „Briefkästen“ bezeichnet – und damit heftigen Protest ausgelöst. Mr. Bean, alias Rowan Atkinson, sprang ihm bei und erinnerte an den Grundsatz der Rede- und Meinungsfreiheit: „Wir dürfen auch Witze über Burka-Trägerinnen machen, denn das Prinzip der Redefreiheit ist ein zwingender Bestandteil einer funktionierenden und selbstbewussten Demokratie … Ich bin auch manchmal beleidigt, wenn jemand was sagt, was mir nicht gefällt. Schlimm ist es nur, wenn Menschen für das Recht kämpfen, nicht beleidigt zu werden. Dann geht es der Meinungsfreiheit an den Kragen.“ Großartig, dieser Mr. Bean!

Keine Frage: Das Bekenntnis gläubiger Menschen verdient Achtung, doch es darf nicht mit den Dogmen und Institutionen verwechselt werden, deren rückhaltlose Kritik immer möglich sein muss – jedenfalls überall dort, wo Meinungsfreiheit ein Verfassungsrecht ist. Und so warnt Jacques de Saint Victor, Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Vincennes-Saint-Denis, vor einer wiederkehrenden Kriminalisierung der Blasphemie aufgrund dieser Verwechslung von persönlichem Glauben und religiöser Doktrin. Außer dem Schutz der Gläubigen dürfe der Staat nichts unternehmen. Die Beleidigung und Kritik jedweder religiösen Doktrin dürfe als der Preis betrachtet werden, der für den Vorzug der Freiheit zu zahlen ist.

Das müssen auch Allahs Religions-Funktionäre und allerlei beseelte Imame akzeptieren, die unter uns – und manchmal auch mit uns – leben. Mohamed, ihr Prophet, steht hierzulande nicht unter Denkmalschutz. Im siebten Jahrhundert geboren, hat er die Zeiten überdauert und ist vielen Muslimen bis heute ein moralisches, religiöses und mitunter auch politisches Vorbild. Ein Abgesandter Gottes.

Seine Worte geben Millionen Muslimen Orientierung, spenden Trost und Heil. Die überlieferten Beteuerungen und Verheißungen des Propheten haben Einfluss auf die politische Situation in mehreren islamischen Staaten und auf deren Gesetzgebung, sie bestimmen die Beziehung zwischen Männern und Frauen, auch zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen – also zwischen „Gläubigen“ und „Un-Gläubigen“. Viele Moslems sind der Meinung, die Beleidigung des Propheten müsse bestraft werden. Allenfalls hinsichtlich der Härte der Strafe sind sie uneins. Satire missverstehen sie als Angriff auf ihre religiöse Identität.

Ob moslemische Gottes-Fanatiker, christliche Fundamentalisten, ob Hardliner des Vatikans oder alt-testamentarische Rabbiner – sie alle müssen zur Kenntnis nehmen: Wir leben in einem säkularen Verfassungs-Staat, alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben, der Staat aber ist in einer modernen Grundrechtsdemokratie gottlos. Jeder hat das Recht, sich über „Monty Python“-Filme zu erregen, Mohammed-Karikaturisten zu verurteilen oder den von mir so geschätzten Mr. Bean in die Hölle zu wünschen. Jeder hat das Recht, sich beleidigt zu fühlen. Doch das sollte er aushalten. Den Rest klärt in einem Rechtstaat die Justiz.

Zur Person

Helmut Ortner, Jg. 1950, hat mehr als zwanzig Bücher, überwiegend Sachbücher und Biografien, veröffentlicht, darunter „Der einsame Attentäter – Georg Elser“. Zuletzt erschienen „Wenn der Staat tötet – Eine Geschichte der Todesstrafe“ (2017) und „Dumme Wut, kluger Zorn“ (2018). Ortner arbeitet und lebt in Frankfurt und Darmstadt.

Lesungen: Aus seinem Buch „Exit“ liest er am 15. Mai, 20 Uhr, in der Buchhandlung Stephanus in Trier, am 17. Mai um 18.30 Uhr an der Universität N3 in Mainz, Johann-Joachim Becher-Weg 21, und am 24. Mai um 18 Uhr im Kino Liliom in Augsburg.

Nov. 2019 | Allgemein | Kommentieren