[1]
[2]Philosophieren, sagt Cicero, sei nichts anderes, als sich auf den Tod vorbereiten. Studieren und Nachdenken ziehen unsere Seele von uns selber ab und weisen ihr eine unkörperliche Aufgabe zu, die eine Vorbereitung auf den Tod ist und Ähnlichkeit mit ihm hat; aber es heißt auch, dass alle Weisheiten und (fast) alles Reden darauf hinauslaufen, uns zu lehren, den Tod nicht zu fürchten.
In der Tat, wenn die Vernunft uns nicht zum Narren hält, sollte sie sich ausschließlich auf unsere Zufriedenheit richten dürfen, und ihre Anstrengungen sollten zum Ziel haben, uns ein gutes und angenehmes Leben zu verschaffen, wie es ja bereits schon die „Heilige Schrift“ sagt. Alles Reden dieser Welt stimmt doch darin überein, dass das Ziel unseres Lebens das angenehme Leben sei – auch wenn die Philosophen verschiedene Wege dorthin vorschlagen. [3]
Der Friedhof „an sich“
Natürlich ist das Erscheinungsbild von Friedhof und Grabmal an gesellschaftliche Veränderungen gebunden. Erst innerhalb der bürgerlichen Entwicklung verlor der Totenkult kirchliche Anbindung sowie religiösen Aspekt und wurde allmählich ästhetisiert. Die Bestattungen mutierten zudem immer mehr zum hygienischen Problem der Kommunen.
Tod als Störer der Gesellschaft
Nachdem Kirchenbesucher ob der Verwesungsdünste noch um 1800 reihenweise in Ohnmacht sanken und Seuchen ausbrachen, wurden die ursprünglich als Vorplatz der Kirchen angelegten Friedhöfe an die Stadtgrenzen verlagert. Aber erst 1878 konnte gegen den Widerstand des Klerus das erste deutsche Krematorium in Betrieb genommen werden. Friedhofsanlagen und Grabmalsformen unterliegen, wie alle Alltagskultur, wechselnden Moden. Man wurde auf Camposanto, Wald- oder Bergfriedhof begraben, ließ sich je nach Geldbeutel und Geschmack modern-minimalistisch betten, oder kompakt-ägyptisierend.
Den gesammelten „in vino veritates“ vielleicht – all das herzustellen und für die Ewigkeit zu kalfatern. – Dicht für eine kleine Ewigkeit, gibt dem Leben (s?)einen Sinn; andererseits aber wächst der Hang, sich zu versichern, individuell und gesellschaftlich: Mäßigung, Gesundheitspflege, Vorsicht, Bravheit, Vorsorge für Härtefälle, Abfindung nach Kündigung ja sowieso. Eine Gesellschaft von ihren Tod ins Auge fassenden Einzelnen sähe anders aus. (Nur) der Gedanke an den Tod zwingt die Menschen in ein freies und erfülltes Leben; wer den Tod verdrängt, lebt stumpf und bewußtlos wie ein Tier.
Mein memento mori jedenfalls gilt dem diesseitigen Leben –
nicht aber dem Seelenheil …
Den Tod zu sehen und anzuerkennen ist ein guter – und vielleicht der einzig zwingende – Grund dafür, die Tauglichkeit des Endlichen zu erkennen. Gibt es nämlich keine Zukunft jenseits des Sterbens, gibt es auch keine Gründe, die Gegenwart wegzuwerfen; und weil der Tod das gewußte Ende ist, hat auch die Sparsamkeit – an Lust, an Liebe, an Genuss – nur begrenzt Sinn. Dieses eine Leben ist für den einzelnen Menschen alles, die letzte Zeile ist vorgegeben, und jeder lebt nur seinen Essay, seine Kolumne – mit oder ohne „in vino: „veritas“.
An der von uns gegründeten veritanischen Akademie zu Heidelberg [3] hingegen wird gelehrt, es gehöre zur Mittelmäßigkeit, sein Selbstwertgefühl vorwiegend aus der Arbeit zu stabilisieren und die Freizeit totzuschlagen, statt sie in Muße zu genießen. Der Veritologe wird nach der Erkenntnis leben, dass der Fleiß Mittelmäßiger mehr Schaden anrichtet als die Faulheit der Begabten. Deshalb wird er auch nicht müde (man verlasse sich darauf), das Mittelmaß und die mit ihm verbundene Selbstgerechtigkeit bloßzustellen.
Der Tod als Störer der Gesellschaft, der die Zeit relativiert und begrenzt und damit dem Augenblick die Beliebigkeit nimmt, findet auf dem Friedhof in mindestens dreifacher Hinsicht seine Inszenierung und Verwandlung: als religiöses, ästhetisches und hygienisches Phänomen. Wortreich ist der „Ort des Friedens und der Stille“ umschrieben worden, als „Vorspiel zum Paradies“ , als „Spielplatz Gottes“, „Ort des Gedächtnisses“ und „Reich des memento mori“.
Es gibt Gräber mit Buchstabenrätseln und Afrikakarten, in denen Vertreter heutzutage vergessener Berufe wie Briefmaler oder Paternostermacher in „die reine Natur zurücksanken“ (Thomas von Aquin). Arme–Leute-Särge wurden wegen ihrer Flachheit „Nasenquetscher“ tituliert und endeten nicht selten im Massengrab, während prunkvolle Familiengruft oder bewußt schlicht gehaltenes Prominentengrab auch an der letzten Station des Lebens soziale Differenzen festschreiben.
Arroganz sei nicht das Panier
Ein Spaziergang durch jenen Teil der Kulturgeschichte, der mit den meisten Palmwedeln, Engeln, Sensen, elegischen Frauengestalten, Göttern, Chronosen und Kreuzen dekoriert wurde, führt von Amrum über Berlin, Hamburg, Dresden und – den wunderschönen Heidelberger Bergfriedhof ebenso direkt ins Nachdenkliche wie Skurrile:
Da entdeckt man über dem Eingang zum Seemannsfriedhof auf Föhr den knöchernen Fingerzeig „Es ist noch Ruhe vorhanden!“, und noch ehe man sich schaudernd abwenden kann, grient man über den letzten Willen eines Mannes, der im Winter immer fror – sein Grab ziert ein großer, gußeiserner Ofen.
Der Friedhof beginnt allmählich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Schulexamen anzunehmen: „Da liegt Simrock“. Hat der nicht das Nibelungenlied übersetzt?
Nun ist es aber eine Form – auch – der Arroganz, von Mittelmaß und Mittelmäßigkeit entlarven zu wollen, wenn die Einsicht fehlt, dass man selbst dazu gehört.
Dort Ernst Moritz Arndt, Vater des nationalen Standpunktes, schöner Märchen und vieler Gedichte zum Auswendiglernen, dürfen Besucher während eines Besuches klagen, der unter anderem die Gräber der Wagnerischen Muse Mathilde Wesendonk, der Schumanns und das von Beethovens Mutter beherbergt.
Die berühmten „Herzchen, die dort liegen“, laufen als Kapitel „Menschliches, allzu Menschliches“ im Lexikon der Kulturgeschichte.
Die Metaphysik des Geistes,
welche die Unsterblichkeit der Seele in der Statue symbolisiert und in Euphemismen wie „heimgehen“ verbalisiert, setzt sich nirgends deutlicher gegen das biologische Verenden ein, als auf den Friedhöfen.
Schlimmer aber als alles wirkliche Sterben muß jedoch die Angst vor dem Scheintod gewesen sein, der den „Schlesischen Schwan“ Friederike Kempner zu unsterblichen Versen inspirierte:
„Dem Tod konnt‘ er
ins Antlitz sehn –
doch jetzt im Aug
ihm Tränen steh‘n!“
Wir aber schaffen uns keine Freunde unter jenen, die wir (auch künftig!) mit veritologischem Florett zu attackieren gedenken – und halten es dabei mit Jean Paul Sartre, der wußte, dass, „wer die Dummköpfe gegen sich hat, Vertrauen verdient“. Lasset uns denn also (im Vertrauen darauf und auf uns) dereinst fröhlich sterben!
So beschwerte sich Clara Schumann über den „fehlenden geistigen Ausdruck“ im Porträtrelief ihres Mannes, dessen Grabmal linker Hand und trefflich allegorisierend von einem geigenden Engelchen flankiert wird.
Dem Tod ins Antlitz sehen
Nehmen wir doch einfach den Dingen, vor denen wir uns fürchten, die Maske ab, gehen wir dem Tod, vor dem wir uns nicht zu fürchten haben, entgegen. Nähern wir uns ihm allein in der Sokrates zugesprochenen unkünstlichen Kühnheit. Nehmen wir dem Tod das „metaphysische“, denken wir nicht an Hölle, nicht an Teufel, die Erbsünde oder das Paradies. Nehmen wir den Tod als diesseitiges, als irdisches Geschenk.
Katharsis – die emotionale und psychische Reinigung – ist angesagt
Anderswo wie auch und gerade jetzt und hier! Wo und wann denn sonst? Im Alter vielleicht? Ja, aber und zwar mit der subversiven Kraft des Alters:
Die subversive Kraft, die aus dem atomisierten, isolierten und desillusionierten Individuum spricht (und die neben der Möglichkeit des Frei- todes zu guter Letzt als Hoffnung bleibt), sie aber stirbt ungehört und ungesehen. Und ist eines der letzten unerkannten und unerforschten Gebiete, eine terra incognita, der nichts zu entreißen ist, als die unvorstellbare Wahrheit.
Beckett ist wahrscheinlich der einzige Autor, der diesen Zustand beschrieben hat: Aus dem Schema der bürgerlichen Gesellschaft herausgefallene Wesen; Kreaturen, die nichts mehr zu tun haben, weil sie nichts mehr mit ihr zu tun haben. Was auf der Bühne aber als Dialog den Zuschauer fordern mag, ereignet sich in Pflegeheimen tagtäglich. Und wie das kunstsinnige Publikum alles Gefährliche absorbiert und entschärft, so geht in der sanitären Betriebsamkeit des Altenheimes jedes Aufblitzen der Wahrheit als Akustik unzusammenhängender Rede unter: Mann, gerade mal 77 Jahre alt, drei Jahre im Gitterbett:
„Wie spät, Schwester?“ „Halb elf.“ „Morgens oder abends?“ „Abend isses, Omchen.“ „Heute Abend oder morgen Abend?“ – Bittschön, wer schon möchte so ein Ende haben? (!)
Wilhelm Furtwängler – der große Dirigent – wir verweisen als Hommage auf den von Leena Ruuskanen wunderschön edierten Band III der Buchreihe der Stadt Heidelberg „Der Heidelberger Bergfriedhof Kulturgeschichte und Grabkultur „Ausgewählte Grabstätten“ und erwähnen nun aber wirklich zu guter Letzt die sehenswerte, in griechisch-antikem Gepräge sich erhebende Grabstätte der Familie Hoffmann/ Giulini – die zwar da auch ohne Taschen im letzten Hemd liegen, aber so – geht doch – möcht‘ man später schon auch gerne mal liegen …
Nehmen wir den „Gevatter“ denn also als Geschenk!
Verzichten wir dabei getrost auf alle antiken oder vulgärbiologischen Tröstungen einer „Rückkehr in die Natur“. Das menschliche Leben – dieses menschliche Leben – hört auf [4].
Der Tod ist schrecklich, ein Werk des Bösen – so, sagt man und so dachten die Menschen des Mittelalters – und das erklärt die Maßlosigkeit, die Wildheit ihrer Liebe zum Leben: irdische Jenseitsvorstellungen komplementieren ein irdisches Leben. Die Neuzeit hat Abschied genommen von solch konkreten Bildern, spielt mit dem Gedanken der Unsterblichkeit der Seele und entwickelt Verdrängungs- und Risikominderungsstrategien: einerseits die Vorstellung vom Nachleben im Ruhm, in den Gedanken, den Werken, den Bildern die man hinterläßt. Und, in gewohnter Bescheidenheit, unsterbliche „in vino veritates … „
Mit einem heftigen Alzheimer – das ist Jürgen Gottschling zu denken gerade noch in der Lage – da geht es einem zwar, wenn es einem im Alter auch nicht mehr ausschließlich gut geht, dann aber doch nicht nur schlecht … [5]