Das mag daran liegen, dass sich in seinen Schriften und Reden jede Menge passender Zitate finden, mit denen sich die Forderung nach niedrigeren Steuern oder weniger Regulierung begründen lässt. Beispiel gefällig? „Je freier“ – wird Erhard gern in die Pflicht genommen – „die Wirtschaft ist, umso sozialer ist sie auch.“
Auch heute noch ist das allerbestes Kampagnenmaterial, und so ist es nicht verwunderlich, dass Interessengruppen wie die arbeitgebernahe Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft die Regierung dazu aufrufen, in „Erhards Fußstapfen“ zu treten. Umso interessanter ist die Frage, was das eigentlich konkret bedeuten würde: in Erhards Fußstapfen zu treten. Man kann sich auf der Suche nach einer Antwort durch seine Schriften wühlen, man kann sich aber auch einfach einmal anschauen, was das für ein Land war, das Erhard damals regierte.
Denn er war ja nicht in erster Linie Buchautor, sondern Wirtschaftsminister (von 1949 bis 1963) und Bundeskanzler (von 1963 bis 1966). Als Ludwig Erhard Kanzler war, gab es in Deutschland:
- einen Spitzensteuersatz von 53 Prozent
- eine durchschnittliche Inflationsrate von 2,9 Prozent
- eine Vermögenssteuer
- eine Währung, die durch einen festen Wechselkurs an die anderen großen Währungen gebunden und streng reguliert war.
Haben Sie etwas gemerkt? Wer auch immer heute solche volkswirtschaftlichen Rahmendaten vorwies, würde – wahrscheinlich – als Sozialist beschimpft.
Zur Erinnerung: Der Spitzensteuersatz beläuft sich heute – inklusive Reichensteuer – auf 45 Prozent, die Inflation liegt gerade einmal bei 1,5 Prozent, die Währung wird frei gehandelt und die Vermögenssteuer ist abgeschafft.
Nun haben historische Vergleiche ihre Tücken. Der Spitzensteuersatz beispielsweise war zwar höher, er griff aber auch erst bei einem höheren Einkommen. Und zugleich war die Belastung der Arbeitseinkommen mit Sozialabgaben niedriger als heute. Das ändert nichts daran, dass Erhard offensichtlich gar nicht der knallharte Marktwirtschaftler war, zu dem man ihn heute gerne macht. Oder anders formuliert: Ludwig Erhard hätte den Ludwig-Erhard-Preis wahrscheinlich nie bekommen.