
In einer der Rückblenden sieht man Alexandre als gläubiges Kind (Davan Collin) in der Kirche.© Pandora Filmverleih
François Ozon rekonstruiert im Film „Grâce à Dieu“ den Fall eines katholischen Priesters, der über Jahrzehnte ihm schutzbefohlene Jungen missbrauchte und auch nach der Aufdeckung des Missbrauchs noch von der Kirche geschützt wurde.
Aus der Perspektive der Opfer erzählt, begreift sich der Film auch als aktive Intervention in ein noch immer laufendes Verfahren gegen den Täter.
„Grâce à dieu“, die Wendung entschlüpft Kardinal Barbarin auf einer Pressekonferenz, „Gott sei Dank“ seien die Taten des Pater Preynat ja inzwischen verjährt.
Zur Rede gestellt, nimmt er den Dank an Gott zwar wieder zurück, in den Titel des jüngsten Films von François Ozon aber hat er es dennoch geschafft (wenngleich nur mal eben so halb in den deutschen).
Ozon rekonstruiert darin im Spielfilmformat den in mehr als einer Hinsicht bestürzenden und empörenden Fall eines Priesters, der im Lauf von Jahrzehnten einige Dutzend ihm schutzbefohlene Jungen missbrauchte.
Bestürzend und empörend sind nicht nur die Taten, es ist auch die Tatsache, dass Preynat nichts leugnet, nie etwas geleugnet hat, dennoch allenfalls Anflüge von Reue, stattdessen reichlich Selbstmitleid zeigt, ist Fakt, dass seine Vorgesetzten um seine Verbrechen wussten, aber – was Wunder – so gut wie nichts unternahmen.
Bestürzend und empörend ist mithin der Fall ganz sicher nicht, weil er einzigartig wäre. Schließlich hat sich die katholische Kirche ihren Ruf, ein sicherer Hafen für Pädophile (gewesen) zu sein, schließlich mehr als verdient. Der Film zeigt nicht zuletzt, wie sich die Oberen kaum weniger als garnicht um die Opfer scherten, er zeigt, wie sie sich trotz klarer Worte des amtierenden Papstes immer noch winden, und, er führt beispielhaft vor, dass die Kirche mit denen, die missbrauchten, und mit denen, die wussten oder ahnten und schwiegen, und mit denen, die nie Aufklärung forderten und sich heute noch gegen sie wehren, ein großes Täterkollektiv bildet und dass unzählige Täter davongekommen sind und davongekommen sein werden. Das alles stinkt so sehr zum Himmel, dass man sich selbst als Atheist zu wünschen beginnt, es gäbe wenigstens diese eine Hölle, in der sie (Buch Ratzingers: „Letzte Reden“) alle in aller Ewigkeit schmoren …
François Ozon, der auch das Drehbuch verfasst hat, erzählt die Geschichte aus der Perspektive der Opfer. Als Alexandre (Melvil Poupaud), einer von ihnen, Jahrzehnte später erfährt, dass Preynat, der ihn missbrauchte, nach wie vor Kinder betreut, ist er entsetzt und sucht erst einigermaßen irregeleitet innerkirchliche Unterstützung. Mit Barbarin, dem Kardinal von Lyon, gerät er allerdings an einen jener geschickten Vertuscher, die nach außen hin Aufklärung versprechen, im Innern aber alles tun, um die Täter zu schonen. Es dauert eine Weile, bis Alexandre, der (im Film) noch immer an Gott glaubt und auch an die Kirche, das wirklich versteht. Dann aber erstattet er Anzeige, womit die Angelegenheit soweit öffentlich wird, dass weitere Opfer sich zu melden und zusammenzufinden beginnen.
Der Film nimmt sich viel Zeit für die Männer, schon um sie von Opfern zu Menschen zu individuieren. Sie alle haben, in unterschiedlichem Maß, beim Gang an die Öffentlichkeit Widerstände zu überwinden. Alle sind sie traumatisiert, haben ein Leben auf der nicht tilgbaren, nur verdrängbaren, abkapselbaren Erinnerung an das Verbrechen zu errichten versucht, viele von ihnen erfolgreich, einer, der Klügste von allen, irrt durch die Trümmer einer Existenz, zu der auch eine, wie er selbst sagt, toxische Beziehung gehört.
Einige haben sich mit Frauen zusammengetan, die die Missbrauchserfahrung mit ihnen teilen. An anderen wird die Bandbreite der Reaktionen der Eltern exemplifiziert: Von Reue darüber, dass sie von den Vorwürfen oder Andeutungen der Kinder nichts wissen wollten, bis zu Verdrängung und dem Wunsch, diese Dinge doch unter dem Teppich zu lassen, unter den man sie all die Jahre gekehrt hat – und sicher aufgehoben wußte.
François Ozon beginnt zwar mit nicht gott-, aber mit einem kardinalsgleichem Blick von oben, wo die Kathedrale über der Stadt thront, auf Lyon. Dann aber begibt er sich auf den Boden der Tatsachen, folgt dem Geschehen auf Augenhöhe der Opfer, die aktiv werden, aktivistisch werden, die Medien einbeziehen, Ideen entwickeln wie etwa diese – was freilich verworfen wird – mit dem Flugzeug einen riesigen Schwanz an den Himmel über der Kathedrale zu zeichnen. Alles an „Gelobt sei Gott“ ist gut gemacht, Ozon ist auch hier der verlässliche Handwerker, als der er sich in allen Genres, Formen und Tönen erweist, wobei er dabei gelegentlich – mal zum Nutzen, mal zum Schaden der Filme – von allen guten Geistern verlassen erscheint.
Diesmal bleiben alle guten Geister von Anfang bis Ende an Bord. Was einerseits natürlich der sehr ernsten Sache angemessen ist. Andererseits nickt man viel und gelegentlich ein bisschen auch ein. Außergewöhnlich ist der Film dann aber doch in der einen Hinsicht, dass er sich als aktive Intervention in ein noch immer laufendes Verfahren begreift. Er ändert die Namen der Opfer, aber nennt die Täter bei ihren richtigen Namen.
Es hat Klagen gegeben, aber weder ist es gelungen, den Start des Films bei der Berlinale noch in den Kinos noch auf DVD zu verbieten.
Kardinal Barbarin wurde inzwischen zu einem halben Jahr auf Bewährung verurteilt, Pater Preynat kirchenrechtlich in den Laienstand versetzt. Das Urteil der weltlichen Gerichte steht weiterhin aus, aber wenigstens dieses filmische Zeugnis gegen ihn und die katholische Kirche in Frankreich ist nun in der Welt.
Grâce à Dieu (Gelobt sei Gott) – Frankreich 2018 – Regie: François Ozon – Darsteller: Melvil Poupaud, Denis Ménochet, Swann Arlaud, Éric Caravaca, François Marthouret, Bernard Verley – Laufzeit: 137 Minuten.
Ein Priester vergeht sich jahrelang an Kindern in seiner Obhut und ein Kardinal deckt die Taten. Der Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche erschütterte Frankreich und brachte den Filmemacher François Ozon dazu, einen Film auf Grundlage der Ereignisse zu drehen. Im Februar feierte sein Film „Gelobt sei Gott“ auf der Berlinale Premiere und erhielt den Großen Preis der Jury. Im März wurde der Kardinal zu einer sechsmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Das Urteil für den Priester steht noch aus.
(!) François Ozon: Ja, Preynat hat gegen den Kinostart geklagt mit der Begründung, dass der Film sein Recht auf die Unschuldsvermutung verletze, weil das Urteil im Prozess schließlich noch nicht gesprochen ist.
? Moment – obwohl Preynat sofort gestanden hat, wie es im Film auch zu sehen ist, hat er auf sein Recht auf Unschuldsvermutung geklagt?
! Tja, da war auch ich etwas naiv. Die Unschuldsvermutung gilt auch im Falle eines Geständnisses des Angeklagten. Sie ist in Frankreich sehr wichtig. Der Richter hat dann aber abgewogen gegenüber einem anderen Recht, das sehr hoch geschätzt wird: der Freiheit der Kunst. Und er hat schließlich entschieden, dass in diesem Fall die Freiheit der Kunst wichtiger ist.
? Womit hat Ihr Interesse für diesen Stoff eigentlich begonnen?
! Ich wollte einen Film über verletzliche Männer drehen, wollte Männer mit ihren Emotionen zeigen. Sehr oft ist es im Kino ja immer noch so: Männer sind für die Action zuständig, Frauen für das Gefühl. Als ich dann nach einer passenden Geschichte gesucht habe, bin ich auf den Bericht von Alexandre gestoßen, der mich sehr berührt hat: Er ist ein wirklich überzeugter Katholik, der ein Opfer von Preynat wurde. Nach und nach begreift er, dass die katholische Kirche nicht bereit ist, ihm zu helfen, und er muss seinen Glauben hinterfragen.
? Gelobt sei Gott orientiert sich so eng an der Realität wie keiner Ihrer Spielfilme zuvor: Sie verwenden die echten Namen der Täter und halten sich auch im Ablauf der Ereignisse sehr eng an die wahren Ereignisse.
? Haben Sie mit einer solchen Wirkung gerechnet?
! Wenn ich bisher gefragt wurde, ob das Kino meiner Meinung nach die Welt verändern kann, habe ich immer sehr entschieden geantwortet: „Natürlich nicht!“ Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht können Filme tatsächlich zumindest einige Dinge in der Gesellschaft in Bewegung bringen.
? Trotz der fiktionalen Anteile des Films, die das Familienleben der Opfer betreffen, ist Ihr Stil auch dort sehr dokumentarisch, zurückgenommen. Das scheint mir eine große Veränderung zu Ihren früheren Filmen zu sein. Wie haben Sie diese Entscheidung getroffen?
! Für jeden meiner Filme versuche ich, aus der Geschichte eine neue Form abzuleiten. In diesem Fall war die Geschichte an sich schon so gewaltig, waren die Tatsachen schon so unglaublich, dass ich wirklich nur den realen Ereignissen zu folgen brauchte: Der Priester Preynat hat schon lange gestanden; die Kirche weiß seit mehr als 30 Jahren, dass er „Probleme mit Kindern“ hat, dass er pädophil ist, und hat nichts unternommen. Da musste ich wirklich nichts dramatisieren. Im Gegenteil: Je weniger ich ästhetisch verstärkte, je genauer ich mich an die Tatsachen hielt, desto eindrücklicher wurden die Szenen meinem Empfinden nach. Außerdem ist es ja ein Film über die Kraft der Worte …
? … der Verein, den die drei Protagonisten gemeinsam gegründet haben, heißt sogar „La parole libérée“, also „Das befreite Wort“.
! Es ist wirklich ein Film, bei dem es ganz entscheidend darum geht, zuzuhören. Denn auch die Briefwechsel, die Zeugenaussagen und Verhörprotokolle, die Aussagen bei den Pressekonferenzen sind sehr wichtig. Die Inszenierung steht deshalb ganz im Dienst der Worte.
„Auch die Produzenten waren nervös“
? Auffällig ist außerdem die dreigeteilte Struktur des Films: Alexandre, François und Emmanuel, die alle drei als Kinder von Preynat missbraucht wurden, stehen als Hauptfiguren nach drei realen Vorbildern im Zentrum des Films. Sie erzählen deren Geschichten jedoch nicht gleichzeitig, nicht miteinander verwoben, sondern nacheinander.
! Erst dachte ich, dass ich einen Film nur über Alexandre machen würde. Dann wurde mir aber klar, dass auch die Geschichte zwischen den dreien entscheidend ist, so ein bisschen wie bei einem Staffellauf: Einer beginnt zu sprechen und gibt diese Aufgabe dann an den Nächsten weiter. Das hat mir so gut gefallen, dass ich auch den Film so erzählen wollte. Das war riskant. Ich kannte keinen Film, der so funktioniert: Die Zuschauer folgen zunächst eine Dreiviertelstunde lang einer Figur, dann verschwindet die einfach, und das passiert gleich zweimal.
? Es stimmt, dass man beim Zusehen kurz irritiert ist.
Ozon: Auch die Produzenten waren deswegen nervös. „Kannst du es nicht so machen, dass auch François und Emmanuel schon am Anfang zu sehen sind?“, haben sie mich immer wieder gefragt.
? Und?
! Ich habe immer wieder geantwortet, dass das doch gerade das Entscheidende und auch das Schöne an dieser Geschichte ist: Zu Beginn ist Alexandre ganz allein, die Kirche hält ihn hin, nichts geht voran. Erst als die polizeilichen Ermittlungen beginnen, kommen die anderen mit ins Bild. Die Männer treffen sich und gründen schließlich gemeinsam den Verein La parole libérée.
? Sie nutzen in Ihren Filmen häufig Rückblenden. Auch in diesem. Warum wollten Sie die Protagonisten auch als Kinder mit dem Priester zeigen?
! Ich wollte die Umstände der Taten zeigen. Oft verstehen Menschen nicht, wieso Kinder, die missbraucht werden, nicht einfach weglaufen, wieso sie nicht schreien. Kinder haben Vertrauen zu den Erwachsenen, die ihnen Aufmerksamkeit schenken. Wenn dieses Vertrauen missbraucht wird, sind sie erst einmal wie gelähmt. Ich wollte die Verletzlichkeit und die Unschuld der Kinder zeigen. Außerdem haben viele Missbrauchsopfer tatsächlich immer wieder mit Flashbacks zu kämpfen.
? Wie haben Sie das Thema bei der Vorbereitung des Films recherchiert?
! Ich habe alle Beteiligten – alle Beteiligten auf Seiten der Opfer – getroffen und ausführlich gesprochen. Mit den Mitarbeitern der katholischen Kirche habe ich nicht gesprochen, ich konnte diesbezüglich ohnehin auf das bereits veröffentlichte Material zurückgreifen. Die Pressekonferenz zum Beispiel, in der Kardinal Barbarin diesen furchtbaren Satz sagt, dass „Gott sei Dank“ („Grâce à Dieu“) alle Geschehnisse bereits verjährt seien, ist auf YouTube zu sehen. Der Titel des Films spielt auf genau diesen Satz an. In Frankreich hat er für viel Empörung gesorgt. Es war, als hätte dabei das Unterbewusstsein des Kardinals gesprochen: „Gott sei Dank ist die Mehrheit der Verbrechen verjährt.“
? Der Satz ist gleich in doppelter Hinsicht schockierend: Zum einen, weil er bedeutet, dass Barbarin froh ist, dass die Taten verjährt sind. Und zum anderen, weil er eben das mit Gott in Verbindung bringt. Als würde Gott absichtlich die Täter schützen, nicht die Opfer.
! Eben. Der Kardinal tut so, als sei es Gottes Wille, dass sexueller Missbrauch nach einer festgelegten Frist verjährt – dabei ist es der Wille einer Justiz. Und die wurde von Menschen geschaffen.