Wann immer Kirche sich von der Gegenwart entfernte, pflegte sie das in Richtung Vergangenheit zu tun. Da schließlich weiß sie sich zu Hause. Den Versuch, sich nach vorn zu entfernen, gehen nur wenige Theologen. Dem, dass „tno“ diesen Weg oft (bis hin zum Mitglied des Kirchengemeinderates an Heiliggeist Heidelberg) gegangen ist – und mit ihm Menschen jeden Glaubens – wurde immer mit heftigstem Ach -du-lieber-Gott-Wehgeschrei begegnet.
Wir hingegen begegnen alledem mittlerweile mit Abstand auf diese Weise:
Es ist fünf vor zwölf
Wittgenstein war im Zusammenhang mit alledem ja bereits im Spiel. Von ihm aus führt ein gerader Weg zum französischen Philosophen der Postmoderne Jean-Francois Lyotard, der in seinen Satzregelsystemen Sätze mit Ordnungsformen ineinander verkettet. Eine bestimmte Art von Frage erfordert eine bestimmte Art von Antwort: „Wie spät ist es?“ – „Es ist fünf vor zwölf Uhr.“ Hingegen sind die Verhältnisse nicht immer so einfach, dass eine Verkettung von Sätzen keine Wahl zulasse:
Eine Frau sagt zu ihrem Mann: „Der Mülleimer ist voll“. Wenn nun der Mann erwidert, „Ich geh´ ja schon“, so ist das keine aus Regeln her leitbare Reaktion, es ließe sich auch eine völlig andere Fortsetzung des „Diskurses“ vorstellen. Völlig unerwartete Verkettungen können melo-komisch-dramatische Folgen haben. „Ein Offizier schreit Avanti und stürzt aus dem Schützengraben; seine Soldaten schreien ergriffen Bravo , ohne sich zu rühren.
Auszug aus einem Protokoll
der Heiliggeist-Gemeindeversammlung mit Oberkirchenrat Schäfer, Prälat Bechtel und Dekan Schmoll vom 6. Dezember 1986 (in der es so turbulent und mindestens ebenso verlogen zuging, wie bei einigen Tierschutzvereinsversammlungen der Vergangenheit): Es sei zu Auseinandersetzungen in der Heiliggeistgemeinde gekommen wegen „des unkollegialen und undemokratischen, der Grundordnung der badischen Landeskirche zuwiderlaufenden Umgangsstils von Pfr. Alpermann mit den Ältestenkreisen und Gemeindegliedern“. Es habe Unwahrhaftigkeiten, eigenmächtiges Handeln statt rechtzeitiger Information und erhebliche Mängel bei Pfr. Alpermann in der Wahrnehmung der Bedürfnisse der Heiliggeistgemeinden gegeben, er habe von vornherein neue Ideen und Initiativen abgeblockt, sowie eine Mitarbeit beim gemeinsamen Aufbau der Gemeinde verweigert. Und so weiter.
Und, aber heute?
Heiliggeistpfarrer Werner Horst Keller war von Dekan Johannes Kühlewein gebeten worden, sein Amt, wie andernorts üblich – wegen seiner ohnehin bald anstehenden Pensionierung und im Hinblick auf die auf Pfarrstellen wartenden jungen Pfarrer – zur Verfügung zu stellen, wogegen der sich jedoch vehement wehrte. Würden die damals Pfarrer Alpermann zu Unrecht unterstellten Versäumnisse – man frage nur mal in der Gemeinde – heute Werner Horst Keller angelastet, hätten die Karlsruher Oberkirchenräte mehrere gute Gründe, ihn vorzeitig in den Ruhestand zu schicken. Dazu fehlt der Gemeinde jedoch entweder eine streitbare Lobby, oder aber haben diejenigen Stimmen recht, die da klagen, diese Gemeinde sei bereits so weit heruntergewirtschaftet, daß diejenigen, die es angeht, die Kirchgänger nämlich, schon alleine zahlenmäßig gar nicht mehr ins Gewicht fallen würden.
O komm, du Geist der Wahrheit
Peter Schumann, Kantor zu Heiliggeist, ist (war, soll es demnächst heißen) immer mal wieder dafür gut, etwas bewegende frische Luft in abgestandenen Mief zu unterquirlen; als er beispielsweise ein Konzert mit neuer Musik veranstaltete und den Zuhörern die Möglichkeit geben wollte, eines der vier Werke nochmals zu hören, hatte er Abstimmungszettel vorbereitet: „Welches Werk darfs denn noch mal sein? Und während der Auszählung sollte das wunderschöne, 1544 entstandene Lied der Geistlich Böhmischen Brüder vom Publikum mitgesungen werden, das aber, seit den Aufräumarbeiten, als die vor 10 Jahren gegen Unwahrheit und Grabenkriege ankämpfenden dies zu ihrem Lied gemacht haben, nach dem Willen des derzeit noch amtierenden Pfarrers W.H.K. aber nicht mehr gesungen werden durfte:
O komm, du Geist der Wahrheit, und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein. Gieß aus dein heilig Feuer, rühr Herz und Lippen an, daß jeglicher getreuer den Herrn bekennen kann“.
Kaum war nun dies Vorhaben in der Zeitung angekündigt, hatte Kantor Schumann Dekan Kühlewein auf seinem Anrufbeantworter – er habe wütende Anrufe ob dieses Vorhabens „auch von (!) musikalischen Gemeindegliedern“ bekommen. Das muß man zweimal lesen: Er untersage, dies Lied singen zu lassen. Uns fällt da erst mal Jesaja 59,14. ein: „Und das Recht ist zurückgewichen, und die Gerechtigkeit hat sich entfernt; denn die Wahrheit ist auf der Gasse zu Fall gekommen, und die Aufrichtigkeit findet keinen Eingang“ Es ist nämlich durchaus nicht (mal wieder einen Blick in die Grundordnung der Badischen Landeskirche werfen!) Sache des Dekans, einem Kantor etwas zu untersagen, wenn es sich um eine kirchen-musikalische Veranstaltung handelt. Ob es nun aber der Dekan tat, weil „O komm du Geist der Wahrheit“ an Zeiten der Auseinandersetzungen um Pfarrer Alpermann erinnert, oder weil dies Lied derzeit wieder in Heiliggeist anmahnen würde, daß ebendieser Geist längst wieder auf der Strecke geblieben ist?
Weshalb auch immer – Kirchenältester Gott(schling) las die inkriminierten Verse, derweil konnten die Kirchgänger von ihrem Platz aus über hinter die Kulissen des Altars, hinter Rempeleien, Rangeleien und Ränke hinter der Kanzel meditieren. Und sich über Jesus Gedanken machen. Der war frei, unabhängig und flexibel – und hat und hätte mit Kirche nimmermehr mehr zu tun gahabt, als nichts! Wäre Kirche auch frei, unabhängig und flexibel – und wahrlich, sie ist es nicht – sie würde einen Jesus auf dem Banner tragen, den sie sich freilich in dieser Kirche niemals zu predigen trauten, redeten so doch Amtsträger gegen ihre Pfründe. Hat dieser Jesus nicht alles auf den Kopf gestellt? Hat er nicht die Frommen der Unmenschlichkeit überführt, hat er nicht den Tempelbetrieb und den Opferlärm als Geschäftemacherei entlarvt? Hat er nicht bei samaritanischen Atheisten eine neue Gläubigkeit entdeckt? Und hat er nicht Dirnen und Zöllnern mehr Sensibilität nachgesagt für das Reich Gottes, als den Schriftgelehrten und Hohenpriestern? Und wie er das hat! Und er hat Polizeivorschriften und bürgerliche Übereinkünfte nicht nur in Frage gestellt, sondern durchbrochen! Tempelgesetze hat er links überholt und angemessener Lächerlichkeit preisgegeben! Was, sei Dekan Dr. Johannes Kühlewein gefragt, tät er Jesus heute zu verbieten versuchen.
Und Peter Schumann?
Das dem Pfarrer noch gegebene Jahr sollte man Peter Schumann auch noch an Heiliggeist lassen! Warum? Nicht, weil er dann ein Jahr länger an „seiner“ Orgel spielen könnte, sondern um zu gewährleisten, daß ein sich auf die Ausschreibung meldender junger Kantor nicht nach Kriterien ausgesucht wird, die von diesem – auch dafür – in höchstem Maße inkompetenten Gemeindepfarrer stammen (den ich – der Wahrheit die Ehre – unerquicklicherweise auch noch selber ausgesucht und zusammen mit den „NEUEN“ Ältesten installiert habe. Ein neuer Pfarrer könnte dann einen Kantor mitaussuchen, mit dem er kann und will. Nun aber soll auch Kirchenmusik in den Keller der Belanglosigkeit versenkt werden. Als Indiz dafür mag gelten, daß zwei Tage, bevor Pfarrer Dr. Harald Pfeiffer zum Vertrauenspfarrer für den Kirchenbezirk hätte gewählt werden sollen, ein Gremium der Kirchenleitung bereits klammheimlich eine Vorauswahl unter den Bewerbern auf die Heiliggeist-Orgelbank gemauschelt hat. Worauf Pfeiffer sich – wie wahrscheinlich gewollt – zurückgezogen hat. Wir erinnern uns an die von Pfarrer Hans Kratzert an Dekan Kühlewein vorgetragenen Gründe für seinen Rücktritt vom Amt des Vertrauenspfarrers. Und verstehen…
Gesucht: Einen sich einem Denkverbot beugenden Kantor
In der Tat sprechen die Aktivitäten hinter den Heiliggeist-Kulissen dafür, daß nach Schumann ein fundamentalistisch-evangelikaler Kirchenmusiker gesucht wird, der nicht unbotmäßig (das heißt überhaupt) denkt. Und tut, was der eben gerade so fundamentalistisch gestrickte Gemeindepfarrer und sein weitgehend auch so funktionierender Ältestenkreis von ihm verlangen.
Als habe es nie eine Grundordnung gegeben. Diese Kirchengemeinde schert sich weder um Grundsätze noch um ein Programm. Hingegen hat sie sich ein Grundsatzprogramm gegeben, damit müssen wir leben. Das reimt sich zwar. Aber müssen wir das wirklich? Damit leben? Müßten wir nicht! Im § 44 der Grundordnung der Evangelischen Landeskirche Baden werden deutliche Zeichen gesetzt – würden sie denn vernommen. Und wenn, befolgt: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern haben teil an dem der ganzen Gemeinde anvertrauten Dienst“.
Freilich war, wenns denn zum Schwur kam, die Grundordnung der Evangelischen Landeskirche Baden für Amtsträger und Gremien in der Evangelischen Landeskirche Baden noch nie mehr, als ein Feigenblatt, hinter dem sie Ränke, Intrigen und (immerhin anwortete Dekan Kühlewein, wie denn nach seiner Vorstellung als Lüge erkannte Lüge innerhalb der Kirche benannt zu werden habe, zornig über meine Frage: „Lüge natürlich“ – alsdann:) Lügen zu verstecken in der Lage waren. Diese Kirchenleitung macht überdeutlich, wie sehr Heinrich Böll 1979 schon recht hatte, als er schrieb: „Eine organisierte Gottlosigkeit braucht man nicht. Man kann den Kirchen ihr Tun und Treiben lassen: Sie höhlen sich von selbst aus, sie leeren sich, während aber ihre gewaltigen Apparate unangetastet erhalten bleiben“. Wohl wahr! Merke: Am gefährlichsten ist die Unverfrorenheit, ist jene Dummheit, die nicht Ausdruck von Unbildung, sondern von Ausbildung ist.
Einmischung nicht erwünscht! Aber
Hier könnten sich – so es die in dieser unserer Stadt gibt – wirkliche, ehrliche Konservative präsentieren, könnten sich auf den zentralen Konflikt konzentrieren – die Öffnung der Heiliggeistkirche für auch weltliche Fragen.
Tatsächlich dient diese Kirche nicht einmal mehr einer intakten Gemeinde zu sonntäglichem Gottesdienst. Querelen und langweiligste Predigten lassen Gläubige Altstädter immer häufiger die Peters- oder Providenzkirche besuchen; oder die Glotze für das Wort zum Sonntag einschalten. Längst dient dies Haus allenfalls (abgesehen von Schumanns Konzerten, das scheint mir einer der Neidknackpunkte zwischen der einen und der anderen, zwischen der Kanzel des Wortes und der Kanzel der Musik zu sein – allenfalls noch individuellem Katastrophenschutz: ob Geburt und dann der Taufe, mit 14 Jahren dann der Konfirmation (die meisten kids laufen an Heiliggeist, wiewohl anfangs willens, davon), hin zur Eheschließung und dann dem Tod – der auch nicht in der Kirche, sondern gleich direkt am Grab bepredigt wird. Die nicht alltägliche Umgebung jedenfalls hilft existenzielle Ereignisse zu fassen, mit ihnen fertig zu werden. Doch das manchmal hilfreiche Rückzugsangebot fördert Bunkermentalität, wenn die Außenwelt ausgeblendet und als das behandelt wird, was nach geltender Ansicht der Kirchenleute im Keller oder sonstwie jenseits der gotischen Kirchenmauern zu bleiben hat.
Zu solcher Bunkermenatalität gehört auch die Abwehr aller Fragen. In den Mauern die heile Welt, außerhalb der Kirche der Rest der Welt. Kein Anschluß unter dieser Nummer.
Helden der Wirklichkeit
auch in der Kirche?
Auf die Frage des Proustschen Fragebogens im F.A.Z.-Magazin nach den Helden in der Wirklichkeit wäre die Antwort fällig: Ein Lastwagenfahrer, der einen korrupten Polizisten anzuzeigen wagt. Er hat von der Ordnungsmacht Böses und vom Arbeitgeber nichts Gutes zu erwarten. Grade so geht es – ach Frau Isenmann und ach, Herr Dekan und ach, all ihr anderen Zündler oder nicht ordentlich Löschenden – geht es jetzt Peter Schumann und all seinen (von seinen Feinden als die „falschen“ apostrophierten) Freunden. Einer von denen, jener ständig mahnend-nörgelnde, den Ihr aus gutem Grund zum Idioten nicht erklären könnt, wird Euch, ich weiß wohl, erträglich, indem ihr ihn zum Zyniker ernennt. Seis drum. Auch damit kann fürderhin leben: Jürgen Gottschling
Das Amt:
Die Kraft mit der Herrlichkeit?
In Ewigkeit?
Amt, das war ursprünglich einmal die nachträgliche Bestätigung einer vorhandenen Begabung (Charisma). Das hat sich, in der Kirche zumal, längst geändert. Hier ist ein System von Über- und Unter-Ordnung im Amtsgefüge entstanden, das jedem seinen eigenen Spielraum garantiert.
Die Entstehung einer Amts-Hierarchie in der frühen Kirche ward langsam: Zwar gab es einen als Nachfolger des Petrus mit besonderen Vollmachten ausgestatteten Bischof bereits im Jahr 140; doch erst 300 Jahre später wird aus diesem Amt der mächtige Papst. Im Lauf von Jahrhunderten hat sich die mittelalterliche Hierarchie entwickelt.
Martin Luther – heute wäre er wegen Volksverhetzung im Knast – hat nun immerhin versucht, den starren Amts-Mechanismus aufzulösen, indem er das „allgemeine Priestertum aller Gläubigen“ wieder in den Vordergrund stellte. Das bedeutet: jeder kann die geistlichen Amtshandlungen wahrnehmen und Seelsorge üben – jedoch gleichsam nur „privat“. Im öffentlichen Bereich sollte der „rechtmäßige“ Amtsträger auch weiterhin Vorrang behalten – „um den ordentlichen Ablauf der kirchlichen Amtshandlungen zu garantieren“. Da liegt es natürlich in der Natur der Sache, daß nach einiger Zeit dann eben doch wieder der Amts-Mechanismus über die allgemeinen Christen-Rechte gesiegt hat.
Amt „direkt von den Aposteln“
In Folge entstanden neben der ursprünglichen Amtshierarchie flugs neue Hierarchien. Zur Qualitätsbestimmung berufen sich die alten Kirchen auf die in ihnen geltende apostolische Sukzession – also darauf, daß ihre Ämter durch Handauflegen direkt von den Aposteln abgeleitet werden können. Die übrigen – über solche Kontakte nicht verfügenden – Kirchen qualifizieren ihre Ämter nun durch die Ordination, die gleichsam den Betreffenden lebenslänglich autorisiert, Rechte und Pflichten eines Amtes wahrzunehmen. Damit stehen – nach Luthers Lehre jedenfalls – Amt und Gemeinde in einer Wechselwirkung, die besagt, es jedenfalls sollte: das Amt gibt und die Gemeinde empfängt, die Gemeinde trägt den Amtsinhaber und dieser dient (!) ihr. Soweit die Theorie. In der Praxis regieren das Pfarrerdienstrecht, die Behörde und der Bischof.
Solange die Gesellschaft auch draußen vor der Tür patriarchalische Strukturen ertrug, kam es keinem der Schäfchen in den Sinn, unter der Kanzel aufzumucken. Je mehr aber die Schafe sich draußen demokratischere Rechte erkämpften, desto auffälliger und belastender wurde den Schäfchen das autoritäre Amt in der Kirche.
Bald sollte es in seiner historischen Gestalt nicht mehr funktionieren, wurden nun auch in der Kirche demokratische Krumen verteilt, wurde etwa so demokratisiert, daß die Gemeinde ihren Pfarrer unter Pfarrern wählen durfte – ein Vorgang, der nicht einmal mählich zu einer wirklichen Mitbestimmung geführt hat. Kann man aber demokratisieren, was in der Grundstruktur monarchisch angelegt ist?
Demokratische Monarchie?
Immer noch verläuft eine unüberschreitbare Grenze zwischen oben und unten. Oben wird befohlen, angeboten, kontrolliert. Unten wird gehorcht, ausgeführt, empfangen. Eine Wechselwirkung ist nicht vorgesehen. Dies wird zwar seit Luther immer mal wieder zu durchbrechen versucht – wir tun das immer mal wieder auch. Am Herrschaftssystem durch Ämter hingegen ändert auch eine Sprache nichts, die regieren als „dienen“ und steuern als „helfen“ bezeichnet.
Klagten wir heute über unmündige Gemeinden, so wäre das ungerecht; durch Jahrhunderte nämlich war Gemeinde lediglich Ziel-Ort kirchlichen Handelns, nicht aber Gesprächs-Partner. In Heiliggeist und anderswo wurde und wird versucht, diesen Zustand zu ändern. Dazu aber wären Einübungen nötig, zu der nicht nur ein echter Frei-Raum für die Gemeindeglieder gehörte, sondern auch eine grundsätzliche Gestaltungs-Freiheit, gegebenenfalls auch gegen vorhandene Ordnungen, und erst recht, wenn sich ein Gemeindepfarrer – wie an Heiliggeist oft und gern – über beispielsweise die Grundordnung der Landeskirche Baden unverdrossen hinwegsetzt.
Laienvorstellungen nicht durchsetzbar
Nur wer wirksame Rechte hat, wird auch bereit sein, sich zu engagieren. Heute dagegen ist unser Gemeindeleben charakterisiert durch die Vormacht einiger und durch die Hilflosigkeit und das Desinteresse der übrigen. Die Maschinerie ist derart kompliziert, daß sich Laienvorstellungen kaum (allenfalls von nicht machtbesessenen Pfarrern geduldet, gibt es einige wenige solche Gemeinden doch auch in Heidelberg) durchsetzen lassen. Es ist alles vorbestimmt, vorproduziert, vorgeplant, vorarrangiert. Und dann ist da noch das theologische Defizit der Laien; von Amts wegen läßt sich alles nicht Genehme als „theologisch unerlaubt“ abqualifizieren. Das Amt ist wie eh und je unangreifbar geblieben.
Traum von Kirche? Der Kirche Alptraum!
Wer Kirchenbilder betrachtet, die den auch schriftlich überlieferten Zustand vor 300 – 400 Jahren festgehalten haben, mag sich darüber wundern, was da alles in einem Kirchenraum möglich war. Ein langgestreckter Raum hatte an einer Seite einen Altar. Dort wird gerade eine Messe zelebriert. Gleichzeitig konnte eine an eine Säule gelehnte Mutter ihrem Kind die Brust geben, konnten sich Paare umarmen und es konnten Menschen im Gespräch beieinander stehen. Was täte wohl unser Dekan Johannes Kühlewein, wenn es in einer Kirche, was täte Werner Horst Keller, wenn ihm das in „seiner“ (Heiliggeist)-Kirche „passierte“?
Wirkliches Leben ausgeschlossen
Zuzeiten war Kirche Lebens-Raum für alle und alles. Das änderte sich, als neue Lebensräume angeboten wurden. Nun wird Kirche zu dem, was sie seitdem geblieben ist: zu einem Ort für nur noch das geistliche Angebot. Als sich das tägliche Leben aus den Mauern der Kirchen zurückzog, hörte die Kirche auch auf, sich um dieses tägliche Leben zu kümmern. Das ging hier in Heidelberg so weit, daß nicht einmal Fenster (die Schreiterschen Entwürfe für Heiliggeist) in der Kirche vorzukommen hatten, die sich mit wirklichem Leben beschäftigen, mit Physik, Literatur, Musik, Computern, Medien, Ökonomie, Chemie, Biologie, Medizin und Verkehr. Das aber hatte nach Meinung der Straße in den kirchlichen Gremien außen vor zu bleiben.
Stattdessen beschäftigen sich die Hella Santarossaschen Fenster mit den vom Gemeindepfarrer vorgegebenen und nicht nachvollziehbaren Dingen hinter den Dingen: Gottes Geist allüberall und so weiter. So einfach aber jedenfalls kommt allenthalben fühl- und spürbar der nicht über die.
Wer mittelalterliche Predigten mit heutigen vergleicht, spürt schnell den Unterschied: Seel-Sorge hat sich von der Leib-Sorge getrennt. Der Verlust all dessen. was den Alltag ausmacht, hat die Kirche „vergeistigt“ und das Amt verabsolutiert, doch gleichzeitig reduziert auf einen nur ganz kleinen Bereich des menschlichen Lebens. Die fortgehende Aushöhlung der regulären Gemeinde-Veranstaltungen läßt vermuten, daß die Unzufriedenheit mit dem kirchlichen Angebot anhält. Der Mensch unserer Tage „braucht“ nicht, was Kirche anbietet. Schon gar nicht „braucht“ er Amtsträger, die – gleichsam als Gottes Stellvertreter – Wahrheiten verkündigen, die „nutzlos“ scheinen. Er sucht vielmehr eine Heimat, wo er gut aufgehoben ist. In den alten Kirchen muß das möglich gewesen sein, muß es charismatische Prediger gegeben haben, sonst hätten sie keinen Zulauf gehabt. Die Urchristenheit hat ihre Ämter aus der Praxis entstehen lassen. Ob aus der Praxis heute neue Formen neuer Ämter entstehen können?
Zu guter Letzt
Zugegeben, es gehört schon zum guten Ton unter intelligenteren Christen, an der „Amtskirche der Gegenwart“ kein gutes Haar zu lassen und sie an der Kirche, wie Jesus sie wollte und in seiner Person vorlebte, zu messen. Großzügig aber wird dabei darüber hinweggesehen, daß Jesus weder eine Kirche noch ein Amtspriestertum, noch und schon gar nicht ein Papsttum gestiftet oder begründet hat. Der allseits in christlichen Kreisen zu hörende Ruf „Zurück zur Praxis Jesu“ und die nicht minder vernehmbare Forderung eines „Rückgriffs auf ursprüngliches Christentum“ beinhalten fundamentalistische Leerformeln, die von vornherein die Illusion vorgaukeln, die Praxis Jesu und das ursprüngliche Christentum seien etwas entrückt und unantastbare Ideale gewesen. Die Amtskirche wird übrigens diesen „Fundamentalisten des vollkommenen Anfangs“ trotz aller von diesen geäußerten Kritik an ihr heimlich dankbar sein. Denn für viele denkende Christen ist der Glaube an das ursprünglich vollkommene Christentum das einzige Mittel, die einzige Möglichkeit, noch in der Kirche zu bleiben und wider alle Hoffnung auf eine innerkirchliche Reform dennoch darauf zu warten. Eine emotionale Identifizierung ihrer Mitglieder ist der Amtskirche in diesem Prozeß so wichtig denn auch wieder nicht, sie hat in ihren Reihen sogar ausdrückliche Atheisten, die aber auf ihre Loyalität der Kirche gegenüber Wert legen. Das bringt auch heute noch gesellschaftliche Vorteile. Und, zu guter Letzt, hat das falsche Bewußtsein das Verdienst, vom richtigen entlarvt werden zu dürfen.
So gesehen trägt es – trägt alleweil auch Jürgen Gottschling – bei zur fortschreitenden Erleuchtung der immer finsterer werdenden Welt. Amen.