Die Krise begann mit der freizügigen Verschreibung von Schmerzmitteln: zur Vernichtung vorgesehene Medikamente in einem Polizeiposten in Ohio. (Bild: Keith Srakocic / AP)

Die Krise begann mit der freizügigen Verschreibung von Schmerzmitteln: zur Vernichtung vorgesehene Medikamente in einem Polizeiposten in Ohio. (Bild: Keith Srakocic / AP)

Pharmakonzern Purdue beantragt Gläubigerschutz nach Chapter 11 – die neuesten Entwicklungen und Hintergründe zur Opioid-Krise in den USA
Hunderttausende von Amerikanern sind in den letzten beiden Jahrzehnten an Opioid-Überdosen gestorben. Die Staatsanwälte mehrerer US-Gliedstaaten machen die Hersteller der Schmerzmittel verantwortlich. Ein provisorischer Milliarden-Dollar-Vergleich des Pharmakonzerns Purdue mit Vertretern Geschädigter gerät nun ins Wanken.
Samuel Misteli

Die neuesten Entwicklungen

  • Das Unternehmen Purdue Pharma, das Opioid-Schmerzmittel produziert und deshalb für die epidemische Sucht nach diesen Medikamenten in den USA verantwortlich gemacht werden soll, hat Sonntagnacht Gläubigerschutz nach Chapter 11 beantragt. Ein Insolvenzantrag nach Chapter 11 bedeutet, dass dem von der Pleite bedrohten Unternehmen eine Zeit lang Schutz vor den Gläubigern gewährt wird, um sich zu reorganisieren. Gleichzeitig schützt sich Purdue damit vor den rund 2600 hängigen Klagen auf Bundes- und Gliedstaatsebene.
  • Purdue Pharma hatte sich letzte Woche mit der Mehrheit der Kläger geeinigt. Mehr als ein Dutzend Gliedstaaten, unter ihnen New York und Massachusetts, lehnen den Vergleichsvorschlag jedoch ab.
  • Am Samstag wurde bekannt, dass die Familie Sackler, die den Schmerzmittel-Hersteller Purdue besitzt, auch Konten bei einer Schweizer Bank benutzt haben soll, um Millionen-Überweisungen vom Unternehmen in die eigene Tasche zu verschleiern. Das schreibt die Generalstaatsanwältin des Bundesstaates New York in am Freitag eingereichten Gerichtsunterlagen. Um welche Schweizer Bank es sich handelt, ist nicht bekannt. Purdue hat sich bisher nicht zu den Vorwürfen geäussert. Ein Sprecher von Mortimer D.A. Sackler erklärte, die Überweisungen seien «absolut legal und in jeder Hinsicht angemessen». Mehrere US-Bundesstaaten gehen davon aus, dass die Sacklers seit 2007 mehr als vier Milliarden Dollar von Purdue abgezogen und einen Grossteil davon offshore verlagert hätten, um zukünftige Ansprüche zu vermeiden.

Die Hintergründe

Die Zahlen erzählen eine amerikanische Tragödie. Alle 11 Minuten stirbt in den USA jemand an einer Opioid-Überdosis. 2017 erlagen 47 600 Menschen der Epidemie. In den letzten 20 Jahren sind über 400 000 Amerikaner an Opioid-Überdosen gestorben. Laut offiziellen Angaben richtet die Krise jährlich einen volkswirtschaftlichen Schaden von 500 Milliarden Dollar an. Ein Ende ist nicht in Sicht: Die Zahl der Überdosistoten ist in den letzten Jahren wegen der zunehmenden Verbreitung des besonders gefährlichen Opioids Fentanyl weiter gestiegen.

Wie hat die Opioid-Krise, die bereits mehr Tote gefordert hat als die Kriege in Vietnam und im Irak zusammen, ihren Anfang genommen? Welche Verantwortung tragen die Pharmakonzerne? Und welches sind die rechtlichen Folgen?

1. Wie nahm die Opioid-Krise ihren Anfang?

Die Krise begann mit der rasanten Zunahme bei der Verschreibung von Opioid-basierten Schmerzmitteln in den 1990er Jahren. Medizinische Studien behaupteten, dass rund 100 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner, also ein Drittel der Bevölkerung, an chronischen Schmerzen litten. Medikamentenhersteller begannen mit der aggressiven Vermarktung der Schmerzmittel. Bis dahin waren Ärzte zurückhaltend gewesen bei der Verschreibung von Opioiden – unter anderem wegen des Stigmas, das an dem ursprünglich als Medikament entwickelten Opioid Heroin haftete.

Als Pionierin gilt die Firma Purdue Pharma, die 1996 das Schmerzmittel Oxycontin (Hier: Oxycodon) auf den Markt brachte. Obwohl das Unternehmen früh Hinweise hatte, dass das Medikament ein hohes Abhängigkeitspotenzial aufwies, vermarktete es Oxycontin als harmlose Allzweckwaffe gegen alle möglichen Arten von Schmerzen, zum Beispiel Rückenbeschwerden. Die Aktion war eine der aufwendigsten Marketingkampagnen in der Geschichte der amerikanischen Pharmaindustrie. Andere Hersteller bedienten sich bald ebenso forscher Methoden wie Purdue, um den Absatz ihrer eigenen Opioide zu steigern.

Die Opioid-Flut wurde begünstigt durch die Beschaffenheit des amerikanischen Gesundheitssystems. Private Krankenversicherer sind oft nicht bereit, längerfristige Therapien zu finanzieren. Sie fördern stattdessen kurzfristige Massnahmen wie die Verschreibung von Pillen, gerade bei ärmeren Versicherten. Auch die laxe Regulierung des Medikamentenmarktes förderte die Opioid-Schwemme.

Zwischen 1991 und 2011 verdreifachten sich die Verschreibungen von Schmerzmitteln in den USA von 76 Millionen auf 219 Millionen pro Jahr. 2016 händigten Ärzte über 289 Millionen Verschreibungen für Opioid-basierte Schmerzmittel aus. Das macht die USA zu dem Land, in dem mit Abstand am meisten Opioide konsumiert werden (ein Drittel des globalen Marktes). Mit fatalen Folgen.

Feuerwehrmänner in Chelsea, Massachusetts, entfernen Gegenstände aus einem Auto, in dem mehrere Überdosis-Opfer gefunden wurden. (Bild: Brian Snyder / Reuters)

Feuerwehrmänner in Chelsea, Massachusetts, entfernen Gegenstände aus einem Auto, in dem mehrere Überdosis-Opfer gefunden wurden. (Bild: Brian Snyder / Reuters)

2. Welches Ausmass hat die Epidemie erreicht – und welche Rolle spielt Heroin?

70 200 Amerikanerinnen und Amerikaner starben 2017 an Überdosen. In 68 Prozent der Todesfälle waren Opioide im Spiel. Im Durchschnitt starben somit täglich 130 Amerikanerinnen und Amerikaner an Opioid-Überdosen. Zwischen 1999 und 2017 hat sich die Zahl der Todesfälle durch Opioid-Überdosen versechsfacht. Sie sind noch vor Verkehrsunfällen die häufigste Ursache für nicht natürliche Todesfälle. Die Opioid-Epidemie gilt auch als Hauptgrund dafür, dass die Lebenserwartung in den USA ab 2015 erstmals seit den 1960er Jahren zu sinken begann.

Stark betroffen von der Opioid-Krise sind weisse, ländliche Bevölkerungsschichten mit eher tiefem Bildungsniveau. West Virginia und Ohio sind die beiden am stärksten betroffenen Teilstaaten. Auch unter den amerikanischen Ureinwohnern ist die Zahl der Todesfälle durch Opioid-Überdosen stark gestiegen – sie hat sich zwischen 1999 und 2015 verfünffacht. Die afroamerikanische Bevölkerung ist weniger stark betroffen. Experten glauben, dass das auch mit Rassismus zu tun hat: Viele Ärzte haben weniger Skrupel, weissen Patienten potenziell abhängig machende Medikamente zu verschreiben als schwarzen Patienten. Diese stehen rascher im Verdacht, die Medikamente zu missbrauchen.

Die Schmerzmittel, die ab den 1990er Jahren millionenfach verschrieben wurden, sind nicht allein verantwortlich für die dramatische Zunahme der Überdosen. Man spricht von drei Wellen der Opioid-Epidemie: Als erste Welle wird die Schmerzmittel-Schwemme bezeichnet, die in den 1990er Jahren begann. Eine zweite Welle brachte ab 2010 einen rasanten Anstieg der Todesfälle durch Heroin-Überdosen. Mehrere Faktoren hatten diese zweite Welle ausgelöst: Opioid-basierte Schmerzmittel waren weniger leicht zu erhalten, weil die Behörden begonnen hatten, die fahrlässige Verschreibungspraxis zu erschweren. Viele Abhängige, die keine Rezepte mehr erhielten, stiegen um auf das illegale – und günstigere – Opioid Heroin. Heroin war an vielen Orten leicht erhältlich, weil die kriminellen Organisationen die Nachfrage früh erkannten und gezielt bedienten. Die Produktion von Heroin in Mexiko vervielfachte sich nach der Jahrtausendwende. Zwischen 2005 und 2018 stieg sie um mehr als das Zehnfache.

Der Heroin-Boom wurde aber von der dritten Opioid-Welle noch überholt. Seit 2013 ist die Zahl der Überdosis-Todesfälle durch illegale synthetische Opioide explodiert. Das hängt vor allem mit der Verbreitung von Fentanyl zusammen, einem Opioid, das bis zu 50-mal stärker wirkt als Heroin. Die Produktion von Fentanyl ist günstiger als jene von Heroin, da es im Labor hergestellt werden kann (für die Produktion von Heroin wird Schlafmohn als natürlicher Rohstoff benötigt). Wegen seiner Potenz kann Fentanyl zudem viel stärker gestreckt werden als Heroin – das macht das Opioid für kriminelle Organisationen lukrativer. Viele Opioid-Abhängige können das brandgefährliche Fentanyl schlecht dosieren – tödliche Überdosen sind die Folge.

Die Zahl der Drogentoten durch Opioide in den USA ist explodiert

Tote durch Überdosis nach Typ, pro 100 000 Einwohner
Heroin
Opioid-Schmerzmittel
Synthetische Opioide (z. B. Oxycodon)

19992000200120022003200420052006200720082009201020112012201320142015201620170246810

Ein Ende der Opioid-Epidemie ist nicht absehbar. Die jährlichen Verschreibungen von Opioid-Medikamenten sind im letzten Jahrzehnt zurückgegangen, doch 2017 wurden pro 100 Amerikaner immer noch 58 Opioid-Rezepte ausgegeben. 2017 schätzten Gesundheitsexperten, dass im nächsten Jahrzehnt über 500 000 Personen der Epidemie zum Opfer fallen.

Ein Mann, der in einer Suburb von Boston wegen einer Opioid-Überdosis kollabiert ist, erhält Erste Hilfe. (Bild: Brian Snyder / Reuters)

Ein Mann, der in einer Suburb von Boston wegen einer Opioid-Überdosis kollabiert ist, erhält Erste Hilfe. (Bild: Brian Snyder / Reuters)

3. Welche Verantwortung tragen die Pharmafirmen – und welches sind die rechtlichen Folgen?

Die Pharmafirmen, die Opioid-Schmerzmittel produzieren und damit Milliarden verdienen (Purdue Pharma allein machte mit Oxycontin zwischen Mitte der 1990er Jahre und 2016 31 Milliarden Dollar Umsatz) bestreiten vehement, die Krise mitverursacht zu haben. Ihr Argument lautet: Nicht die Medikamente seien das Problem, sondern die Menschen, die Opioide missbrauchen.

Doch die Beweislage ist eindeutig. Am besten dokumentiert ist abermals das Beispiel Purdue. Unter anderem belegen interne Dokumente, an die die Rechercheplattform Pro Publica gelangte, dass die Firmenspitze bereits 1997 um die Gefährlichkeit von Oxycontin wusste. Doch die Marketing-Offensive – die die Vorzüge des Medikaments übertrieb und das Suchtpotenzial verharmloste – ging ungebremst weiter. Purdue bezahlte Tausende von Medizinern, die bei Ärzten, Kliniken und Pflegepersonal für Oxycodon warben. Die Firma verfügte auch über ein internes Kontrollsystem, das Ärzte und Apotheker identifizierte, die ungewöhnlich grosse Mengen Oxycontin verschrieben. Diese wurden von Purdues Vertretern gezielt angegangen.

Purdue und die anderen Opioid-Produzenten konnten auf willige Helfer zählen. Korrupte Ärzte und Apotheker stellten Rezepte ab Fliessband aus, in dubiosen Schmerzkliniken gingen Millionen von Tabletten ohne Kontrolle über den Verkaufstisch. Diese sogenannten «pill mills» (Pillenfabriken) lagen oft in der Nähe von Autobahnen, damit sie für Dealer und Konsumenten, die von weit her anreisten, bequem erreichbar waren.

Auch die Aufsichtsbehörden drückten oft mindestens ein Auge zu, was unter anderem mit persönlichen Verflechtungen zu tun hatte. So nahm etwa der Prüfer der Food and Drug Administration (FDA), der die Zulassung von Oxycontin verantwortet hatte, zwei Jahre nach der Einführung des Medikaments einen Job bei Purdue Pharma an.

Nach der Jahrtausendwende wurden die ersten Klagen gegen Purdue eingereicht. 2007 willigte die Firma in Virginia in eine Straf- und Schadenersatzzahlung von rund 600 Millionen Dollar wegen betrügerischen Marketings ein. In den Jahren darauf verdiente die Firma mit Oxycontin weiterhin Hunderte von Millionen Dollar.

In den vergangenen Jahren haben sich die Klagen gegen Hersteller und Vertreiber der Opioid-Schmerzmittel gehäuft. Ende August 2019 verurteilte ein erstinstanzliches Gericht im Gliedstaat Oklahoma den Pharmakonzern Johnson & Johnson zu einer Entschädigungszahlung von 572 Millionen Dollar, weil die Firma die Opioid-Epidemie mitverursacht habe. Vermutlich im Oktober müssen sich etwa zwei Dutzend Unternehmen vor einem Gericht in Cleveland einer Klage von rund 2000 Städten, Bezirken und Indianerstämmen stellen. Das Vorbild für die Klage ist ein Vergleich, den die Tabakindustrie 1998 mit mehreren Dutzend Teilstaaten schloss: Die Industrie willigte damals in Entschädigungszahlungen im Umfang von 246 Milliarden Dollar ein.

Purdue Pharma ist bemüht, es nicht bis zum Prozess in Cleveland kommen zu lassen. Die Firma verhandelt mit den Klägern über einen Vergleich. Im September wurde bekannt, dass Purdue eine Einigung mit der Mehrheit der Kläger erzielt habe. Als Teil des Vergleichs will Purdue Insidern zufolge Gläubigerschutz beantragen. Der Vergleichsvorschlag sieht Zahlungen von bis zu 12 Milliarden Dollar vor. Zwei bis drei Milliarden Dollar für den Vergleich sollen von der Eigentümerfamilie übernommen werden. Der Konzern würde in einen Trust zum Nutzen der Öffentlichkeit («public beneficiary trust») umgewandelt, was erlauben würde, die Gewinne für die Entschädigung der Opfer zu verwenden.

Über ein Dutzend Gliedstaaten, unter ihnen New York und Massachusetts, lehnen den Vergleichsvorschlag jedoch ab. Sie halten das Angebot für eine Wiedergutmachung für nicht gut genug in Anbetracht der mutmasslichen Rolle, die das Unternehmen und die Besitzerfamilie Sackler in der Opiod-Krise gespielt haben. «Das Ausmass an Schmerz, Tod und Zerstörung, das Purdue und die Sacklers verursacht haben, übersteigt alles, was uns bisher angeboten worden ist», sagte William Tong, Staatsanwalt von Connecticut. Der Bundesstaat, in dem die Firmenzentrale von Purdue Pharma liegt, lehnt den angebotenen Vergleich ebenfalls ab.

Sep. 2019 | €uropa | Kommentieren