Wenn das so weitergeht, gehts nicht mehr lange weiter

Sie muß Lösungen finden, wo sich Probleme stauen;
muß das Wohl der gesamten Bevölkerung im Blick haben und soll Konflikte ausgleichen; und – endlich – neue Wege einschlagen, nachdem die alten (längst) nicht mehr ans Ziel führen;  mit diesen allseits bekannten Theorien sind nun endlich auch Politik beziehungsweise all jene Politiker konfrontiert, für die das bislang in der Tat allenfalls Theorie war.

Die Praxis im deutschen Herbst 2019 klingt
– so wörtlich im O-Ton von Angela Merkel auf der Pressekonferenz am Freitag – als sie das “Klimapaket“ ihrer Koalition vorstellte:

“Politik ist das, was möglich ist.“

Dieser kleine, kurze, popelig-puppenhausige Satz ohne jegliche Ambition, ohne Elan, ohne Kraft – ein Satz, der zum politischen Alltagsgeschäft passt, zum Klein-Klein, mit dem sich Regierende tagein, tagaus beschäftigen, beschäftigen müssen. 

Es ist dies aber kein Satz, der für eine historische Herausforderung taugt. Offenbar sind sowohl die Kanzlerin als auch ihre Minister nicht bereit, den Kampf gegen die Klimakrise wirklich und ernsthaft aufzunehmen: Das jedenfalls ist die Botschaft der vergangenen 72 Stunden. Der Kanzlerin Antwort auf den Aufschrei einiger Hunderttausender Demonstranten war ein müdes Seufzen:

Zwar legte die Regierung Eckpunkte eines sogenannten Klimaschutzplans vor, das wichtigste Instrument aber wird sehr stark beschränkt. Für Klimaschützer bleibt allenfalls ein Strohhalm.

Man kennt diese Übung ja bereits: Je länger die Verkündung einer Entscheidung hinauszögert wird, desto höher steigen die Erwartungen. Die Kanzlerin hatte im Sommer doch bereits erklärt: „Der 20. September wird ein entscheidender Tag.“

Die Spitzen der schwarz-roten Koalition, wechselnd auch mit Fachministern, tagten fast einen ganzen Tag lang im Kanzleramt, bevor sie sich auf ein Maßnahmenbündel zum Klimaschutz einigten.

Die Verhandlungen dauerten mehr als 18 Stunden

Gegen Mittag am Freitag verließ der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rolf Mützenich, mit tiefen Augenringen das Kanzleramt. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits Zehntausende nur wenige Gehminuten entfernt auf der Straße des 17. Juni vor dem Brandenburger Tor versammelt, um für mehr Klimaschutz zu demonstrieren. Am Ende waren es nach Angaben der Polizei 100.000, nach Angaben der Veranstalter weit über 200.000 Menschen allein in Berlin.

Dass hierzulande der entscheidende Faktor beim Klimaschutz der Verkehr ist, das gelte als bekannt. Und auch, dass im Unterschied zu allen anderen Sektoren allerings der CO2-Ausstoß dort seit Jahren nicht gesunken ist.
Das aber muss er, auf dass Deutschland seine Grenzwerte einhält, zu denen es sich verpflichtet hat.
Und das, da sind sich Politiker und Wissenschaftler einig, gelingt nur über einen Preis auf CO2. Allerdings muss dieser so hoch sein, dass er tatsächlich wirkt, dass er Autofahrer, Flugpassagiere, Lkw-Spediteure und andere Unternehmen zum Umstieg auf weniger schmutzige Verkehrsmittel veranlasst. In der Schweiz, in Schweden und in anderen Länder hat man das verstanden, dort liegt der CO2-Preis pro Tonne bei 80 bis 115 Euro.

Die deutsche Bundesregierung hat es nicht verstanden

In der Tat die Bundesregierung noch einiges zu lernen. Wir auch: Richtig wählen zum Beispiel …

Mit zunächst 10 Euro, später 35 Euro pro Tonne wird der nun von der Koalition verkündete CO2-Preis seinen Zweck niemals erfüllen. Wissenschaftler sind bestürzt. “Die große Koalition hat in zentralen Punkten nicht geliefert“, sagt Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenschätzung. “Lustlos, visionslos, existenzbedrohend für unsere Kinder“, nennt Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin, den Beschluss. Die Grünen wollen ihn im Bundesrat blockieren. Kurz: Die Klimapolitik der Bundesregierung ist eine Kapitulationserklärung:

Nachdem die GroKo wochenlang diskutiert hat, ist das Ergebnis niederschmetternd, dies, zumal gerade Hunderttausende für mehr Klimaschutz demonstrieren: Kinder und Senioren, Männer und Frauen, Stadt und Land. Die Botschaft dieses Freitags ist unmissverständlich: Die Mehrheit der Bevölkerung verlangt nach Jahren der Versäumnisse ein entschlossenes Vorgehen gegen die Klimakrise.
Natürlich kann und muß jeder einzelne Bürger etwas tun, Firmen können etwas tun, aber das reicht nicht.
Damit der Klimaschutz effektiv und schnell gelingt, muss die Regierung nun endlich klare Vorgaben machen, Regeln setzen, Verantwortung übernehmen. Ob die große Koalition von Angela Merkel dazu in der Lage ist, das war die große Frage an diesem sonnigen Herbstfreitag.

Die Antwort ist: nein. Die Bundesregierung hat den Aufschrei der Bürger auf den Straßen mit einem müden Seufzen beantwortet. Das vielbeschworene „Klimaschutzpaket“ ist in Wahrheit noch nicht einmal ein Päckchen. Union und SPD konnten sich im Kern nur auf  Ausflüchte einigen:

Erstens bekommt CO2 künftig zwar einen Preis, doch der ist mit zunächst 10 Euro pro Tonne so gering, dass er seinen Zweck kaum erfüllen wird. Auch dann nicht, wenn er bis 2025 sukzessive auf 35 Euro steigt. Wissenschaftler rechnen vor, dass er sich zwischen 50 und 80 Euro bewegen müsste, damit er wirklich einen spürbaren Effekt auf den Klimaschutz hat. Dass zugleich die Pendlerpauschale erhöht wird, weil die Regierung den Zorn der Autofahrer fürchtet, mag psychologisch verständlich sein. Rational oder gar logisch ist es nicht. Anreize, das Auto stehen zu lassen und stattdessen Busse, Bahnen und Fahrgemeinschaften zu nutzen, entstehen so jedenfalls nicht.

Mal wieder: Eine Politik des Aussitzens

Zweitens schüttet die Regierung ein Füllhorn aus Steuergeld über allerhand Branchen aus. Was da alles gefördert werden soll – moderne Heizungen, E-Autos, Strompreise – will die Koalition in den kommenden Wochen genauer definieren. Aber bereits jetzt zeichnet sich ab: Einen schnellen Umbau der Energienutzung und der Alltagsrituale werden all die Milliarden kaum bewirken.

Die große Koalition war von Anfang an umstritten

Sie zerstob fast während des unseligen Asylstreits, kam auch danach nie recht in die Spur. Nun hat sie beim wichtigsten Zukunftsthema versagt. Vor den Augen der ganzen Republik lieferten die kleinmütigen Großkoalitionäre am Freitag ein Bild des politischen Elends. Angesichts der größten Herausforderung, der sich die Menschheit gegenwärtig gegenübersieht, kneifen sie vor der Verantwortung. CDU, CSU und SPD haben vielerorts den Draht zu den Menschen verloren, daher sind sie weder in der Lage, gesellschaftliche Entwicklungen wie das gewachsene Umweltbewusstsein rechtzeitig zu erkennen noch die Herausforderungen eines wirklich konsequenten Klimaschutzes konstruktiv zu moderieren. Sie fürchten sich vor der AfD, vor dem Zorn der Pendler auf dem Land, die seit Jahren unter der verkorksten Verkehrspolitik leiden und, und, und.

Noch nie aber waren Zorn oder Angst gute Ratgeber

Erst recht nicht in Zeiten, in denen mutige Entscheidungen und kraftvolle Weichenstellungen gefordert sind. Angela Merkels vierte Regierung ist weder mutig noch kraftvoll. Und den Preis für ihr Versagen werden unsere Kinder und Enkel bezahlen. Wenn sie in 15, 20, 30 Jahren zurückschauen, wird der 20. September 2019 nur ein Datum unter vielen sein, an dem die Generation ihrer Eltern und Großeltern sich weigerte, Verantwortung zu übernehmen.

Angela Merkels – wir waren da eigentlich mal „guter Hoffnung“ – Politik wird in dieser Betrachtung nur noch eine Fußnote sein. Das ist die Lehre der vergangenen 72 Stunden. to

Sep. 2019 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren | Kommentieren