Es gibt Leben, die allein durch ihre Werke zählen. Das Leben Moses Mendelssohns (1729–1786) ist ein solches. Sein biographischer Hintergrund ist wenig bekannt: Zwar stammte er aus einer armen Familie, wurde aber in Berlin rasch seiner Intelligenz und Klugheit wegen berühmt und anerkannt von seinen Zeitgenossen Goethe, Kant, den Gebrüdern Humboldt und natürlich auch von Lessing, der ihm in der Figur Nathans des Weisen ein Denkmal gesetzt hat.
Moses Mendelssohn war Ahnherr einer langen Liste von Aristokraten, Bankiers, Industriellen, Juristen, Offizieren, Politikern, Professoren, von Religionslehrern und nicht zuletzt von einem Komponisten, Felix Mendelssohn.

Sapere aude

Moses Mendelssohn war Mitbegründer der deutschen und europäischen Aufklärung. Ohne ihn und sein Wirken wäre die erstaunliche Symbiose zwischen Judentum und Deutschen wohl nicht zustande gekommen. Er lebte die Möglichkeit vor, sowohl der deutschen Aufklärung wie der jüdischen Haskala (Aufklärung) wesentliche Impulse zu geben, „ohne seiner Herkunft abzuschwören und in die neue Gesellschaft zu konvertieren. Mendelssohn schaffte es, das religiöse Judentum mit dem offenen kritischen Geist zu verbinden“.

Diese kenntnisreiche Biographie Moses Mendelssohns, des „Platons der Deutschen“ und Begründers des modernen Judentums, der den Eintritt der Juden in die moderne abendländische Philosophie- und Geistesgeschichte markiert, schildert seinen Werdegang zur verehrten oder gehassten Figur eines Laienkults – wobei er sich permanent die Frage stellt: Wie kann man als Jude in die Tradition der abendländischen, speziell deutschen Philosophie eintreten, ohne zum christlichen Denker zu werden?

Mit leiser Ironie und bestechendem kompetenten Wissen geschrieben, ist dieses Buch eine wahre Freude für jeden „richtigen respektvollen Leser“. In der Tat versucht diese umfangreiche Biographie des in Paris lehrenden Religionswissenschaftlers Dominique Bourel wieder Interesse zu wecken für Leben und Werk dieses jüdisch-deutschen Intellektuellen.

Jede Periode der deutsch-jüdischen Geschichte habe sich ihr eigenes Bild von Moses Mendelssohn geschaffen, schreibt Dominique Bourel in der Einleitung zu der umfangreichen Mendelssohn-Biographie. Diese wechselnden Bilder setzen sich tatsächlich aus einer fast unübersehbaren Vielzahl verstreuter Publikationen zu einzelnen Aspekten von Person und Werk zusammen oder gehen im weiteren Kontext der deutsch-jüdischen Geschichte der Neuzeit auf. Bemerkenswert nämlich ist, dass es über diesen bedeutenden jüdischen Philosophen der Berliner Aufklärung vor Bourel nur drei Biographien gab. Die eine stammt aus dem Jahr 1862 von Meyer Kayserling und ist ein durchaus verdienstvolles Werk. Die zweite ist ein wunderbarer Erzählband des Berliner Schriftstellers Heinz Knobloch aus dem Jahr 1987: „Herr Moses in Berlin“ und die dritte ist die bislang wohl bedeutendste Studie über Person und Werk, die der jüdische Gelehrte Alexander Altmann 1973 in den USA veröffentlicht hat.
Nicht umsonst widmet Bourel nun seine Studie dem von ihm verehrten Professor Altmann, denn ihm dürfte bewusst sein, dass seine Arbeit an den hohen Maßstäben gemessen werden müsse, die Altmann mit seiner Studie gesetzt hatte.

In seiner Einleitung schreibt Alexander Altmann, Bourel wolle Mendelssohn in streng Biographischem Kontext darstellen:

Die Studie versucht nicht seine Bedeutung aus der Rückschau einer historischen Perspektive zu bewerten oder dem Bild von ihm bei den nachfolgenden Generationen nachzuspüren, die ihn entweder als die perfekte Verkörperung des modernen Juden idealisiert oder ihn als falschen Propheten eines, der hebräischen Kultur und der Nation entfremdeten, assimilierten Judentums gebrandmarkt haben. Es ist das Leben von Moses Mendelssohn und nichts weiter, das ich zu beschreiben versucht habe, und mein einziges Bestreben ist, dieses Leben in der Periode wahrzunehmen, in der es gelebt wurde.

Bourel wählt einen anderen Zugriff und bekennt schon zu Beginn, er wolle „Mendelssohn als zentrale Gestalt und eigentlichen Begründer des modernen Judentums erweisen“. Im Vorwort erläutert er, dass er seine Biographie in die wissenschaftlichen und politischen Debatten der jüngeren Geschichte einzubetten gedenkt:

„Drei Problemkreise sind vorab zu skizzieren: die Frage nach der Spezifität der Aufklärung, nach der Besonderheit Preußens und – eine immer wiederkehrende Debatte – nach der Eigentümlichkeit der jüdischen Philosophie“.

Über diese Problemkreise trifft Bourel zahlreiche Feststellungen, die er mit einer Fülle von Namen, Zahlen und Zitaten zu umschreiben versucht, bevor er zu seinem eigentlichen Anliegen, einer Biographie

Mendelssohn wurde am 6. Dezember 1729 in Dessau geboren. Wichtigste Figur in seiner Jugend war der Dessauer Rabbiner David Fränkel, ein gebildeter Mann des traditionellen Judentums, der aber durchaus in der Lage war, über den geistigen Horizont des orthodoxen rabbinischen Denkens der Zeit hinauszusehen. Er genehmigte stillschweigend den Neudruck des „more Nevuchim“, des „Führers der Verirrten“ des mittelalterlichen jüdischen Philosophen Maimonides, der nicht nur für Mendelssohns Bildungsgeschichte eine zentrale Rolle spielte.

Der erst 14-jährige Mendelssohn folgte Fränkel nach Berlin, wurde zunächst Gemeindeschreiber, dann Hauslehrer, später Buchhalter und Teilhaber eines Seidenfabrikanten. In Berlin traf der wissenshungrige junge Mendelssohn auf Juden aus meist reichen Familien, die sich aus den kulturellen Grenzen des traditionellen Judentums bereits entfernt hatten und die ihm auf verschiedene Weise halfen, seine Bildung zu vervollkommnen. Er, der bisher nur jiddisch und ein wenig hebräisch sprach, lernte Deutsch, Latein, Französisch und Englisch, und später auch noch Griechisch und bis heute wird das elegante Deutsch seiner Schriften und Briefe zu Recht gerühmt.

Es entwickelte sich eine enge Freundschaften etwa mit Lessing und dem Buchhändler Friedrich Nicolai, Mendelssohn stieg in den Kreis der Berliner Aufklärer auf. Und er machte sich einen Namen als Philosoph der sog. Leibniz-Wolffschen Schule. Nach der Veröffentlichung seines Phädon 1767, einer Variation des gleichnamigen Platonschen Dialogs, kannte man seinen Namen weit über die deutschen Grenzen hinaus – von nun an heftete man Mendelssohn gerne das Etikett deutscher Platon an. Seine Verteidigung der Unsterblichkeit der Seele in dieser Schrift weist auf ein Grundthema seines Verständnisses von Aufklärung hin, der Versöhnung von Glauben und Vernunft. Bourel schreibt:

Mendelssohns Größe lag darin, gezeigt zu haben, dass das Judentum genau in dieser Herausforderung besteht, einen Glauben und eine Vernunft miteinander zu verbinden, und dass es mit der Philosophie keineswegs unvereinbar ist.

Dominique Bourel
Moses Mendelssohn
Begründer des modernen Judentums
Eine Biographie
Ammann-Verlag Zürich
Aus dem Französischen von Horst Brühmann
816 Seiten, € 39.90
Leinen mit Lesebändchen
ISBN 9783250105077

Unter Verwendung von Material des Ammann-Verlags:
Bakir Yassin & tno

Juli 2019 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Kirche & Bodenpersonal, Wissenschaft | Kommentieren