Furchtbar echt

Peter Jackson wurde durch die „Der Herr der Ringe“-Trilogie weltberühmt. Jetzt kommt sein erster Dokumentarfilm in die Kinos: So real wie in „They Shall Not Grow Old“ hat man den Ersten Weltkrieg noch nie gesehen.

Der Krieg, er kann so harmlos wirken wie in dieser Filmszene. Da stehen drei Soldaten nebeneinander vor der Kamera, sie tragen britische Uniformen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Der Soldat links hat eine zu große Pickelhaube auf dem Kopf, offenbar eine Trophäe, erbeutet von den „bloody krauts“, den Deutschen, sie rutscht ihm fast auf die Nase. Sein Kamerad in der Mitte fuchtelt mit einem Revolver herum. Erst klopft er damit gegen den eigenen Stahlhelm, dann gegen den des Mannes auf der rechten Seite.

Alle drei Soldaten haben gute Laune, sie lachen, feixen. Auf den ersten Blick könnte das Ganze eine Szene aus „Blackadder Goes Forth“ sein, der Comedyserie aus den Achtzigerjahren mit Rowan Atkinson.

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„They Shall Not Grow Old“: Wir werden gefilmt!

Doch die Bilder sind dokumentarisch, es sind über 100 Jahre alte Archivaufnahmen – auch wenn man ihnen das wegen ihrer technischen Perfektion nicht sofort ansieht. Der neuseeländische Regisseur Peter Jackson hat die Szene eingebaut in „They Shall Not Grow Old“, seinen überwältigenden Dokumentarfilm über den Ersten Weltkrieg.

Am 27. Juni kommt der Film in einige deutsche Kinos. Der Starttermin hat Symbolkraft: Vor 100 Jahren, am 28. Juni 1919, wurde der Vertrag von Versailles unterzeichnet. Nach den Verheerungen des Ersten Weltkriegs sollte er Europa befrieden, erfolglos.

Peter Jackson hat „They Shall Not Grow Old“ im Auftrag des Imperial War Museum in London produziert. „Ich konnte machen, was ich wollte“, sagte der Regisseur in einem Interview, „die einzige Bedingung war, ausschließlich Material aus dem Museumsarchiv zu verwenden.“

Horrorbilder aus dem Schützengraben

Jackson, dreifacher Oscar-Preisträger, ist eine überraschende Wahl für einen Dokumentarfilm über den Ersten Weltkrieg. Weltberühmt wurde er mit fantastischen Materialschlachten. Wie ein Feldherr dirigierte Jackson bei den Dreharbeiten zur Tolkien-Trilogie „Der Herr der Ringe“ eine Crew von 2500 Mitarbeitern und inszenierte Kampfszenen mit Tausenden Statisten.

Der bekannte Name des Regisseurs könnte aber auch Jüngere dazu bringen, sich eine Historiendoku anzusehen. Er wolle die Neugier der Zuschauer wecken, sagte Jackson, Fragen auslösen: Haben vielleicht auch Vorfahren aus der eigenen Familie im Ersten Weltkrieg gekämpft? „They Shall Not Grow Old“ zeigt den Krieg ausschließlich aus der Perspektive britischer Soldaten – Szenen von lachenden Freiwilligen bei der Ausbildung ebenso wie Horrorbilder aus dem Schützengraben.


„They Shall Not Grow Old“
Großbritannien, Neuseeland 2018

Buch und Regie: Peter Jackson
Produktion: House Productions, Trustees of the Imperial War Museum (London), WingNut Films
Verleih: Warner Bros.
Länge: 99 Minuten
FSK: ab 16 Jahren
Start: 27. Juni 2019


Bei Kampfhandlungen selbst konnte zwar nicht gedreht werden, zu gefährlich, dafür sieht man die Folgen: Leichen hängen im Stacheldraht, Verwundete blicken apathisch in die Kamera. So furchtbar echt hat man den Ersten Weltkrieg noch nie gesehen.

Der Überwältigungseffekt entsteht durch die Bearbeitung: Die historischen Aufnahmen wurden mit modernster Computertechnik restauriert, teilweise koloriert und in 3D konvertiert. Auch das unregelmäßige Geruckel der Originalbilder – die Kameraleute von damals kurbelten mal langsamer, mal schneller – wurde am Rechner ausgeglichen.

Überraschend an der Dokumentation ist auch der Sound. Das Archivmaterial besteht naturgemäß nur aus Stummfilmen, denn der Tonfilm war damals noch nicht erfunden. Deshalb machten Jacksons Tontechniker neue Aufnahmen vom Rumpeln alter Panzern oder vom Donner historischer Geschütze. Manchmal hört man die Soldaten sogar sprechen. „We’re in the pictures!“, ruft einer begeistert, wir werden gefilmt! Jackson hat die Männer scheinbar zum Leben erweckt.

Sein „persönlichster Film“

Wie das? Lippenleser guckten sich die Szenen an und entschlüsselten, was die Menschen vor der Kamera wohl gesagt haben; Schauspieler sprachen ihre Sätze nach.

Doch vor allem hört man aus dem Off die Erinnerungen von mehr als 100 Veteranen. „Es war ein ziemlich großer Spaß, an der Front zu sein“, behauptet einer von ihnen. Die O-Töne stammen aus Interviews für eine BBC-Dokumentation aus den Sechzigerjahren. Im Abspann werden die Interviewpartner alle genannt, Name, Dienstgrad, Regiment.

Im Video: Der Trailer zu „They Shall Not Grow Old“

Warner Bros.

Auf Erläuterungen von Historikern hat der Regisseur dagegen verzichtet. Wer Details erwartet über den Verlauf des Ersten Weltkriegs, über seine Ursachen und Folgen oder über die Perspektive zum Beispiel der Deutschen, für den ist Jacksons Dokumentation der falsche Film. Alle anderen dürften das Kino tief berührt verlassen.

Peter Jackson hält „They Shall Not Grow Old“ übrigens für seinen „persönlichsten Film“: Sein Großvater, ein Berufssoldat, kämpfte vier Jahre lang im Ersten Weltkrieg.

Juni 2019 | €uropa | Kommentieren