Wir werden überwacht, vermessen, durchleuchtet, ausgespäht und manipuliert. Aber wer steckt eigentlich dahinter? Geheimdienste? Der Staat? Datengetriebene Konzerne wie Google und Facebook? Zweifelsohne – aber wer hat ihnen diese „Macht“ verliehen? Es waren und sind Informatiker. Also all jene, die Programme und Algorithmen entwerfen und schreiben. Menschen wie er, sie, es, die Geld verdienen müssen und sich natürlich auch eines Gewissens bedienen – könnten. Allerdings leben viele IT´ler in ihrer eigenen (IT-)Welt und nehmen die Folgen ihres Handelns nur peripher  wahr oder kümmern sich schlichtweg zu wenig darum.

Beispiele für ein mangelndes digitales Gewissen gibt es zuhauf: Durch eine Software-Manipulation führt VW Millionen Dieselfahrer weltweit hinters Licht. Autonome Waffensysteme entscheiden vermutlich bald über Leben und Tod. Algorithmen bei Facebook bestimmen, welche Inhalte jemand sehen darf. Das Social-Scoring-System in China entscheidet über die soziale Akzeptanz, die sich Mitbürger untereinander entgegenbringen. Auslöser solcher fragwürdigen Entwicklungen sind oftmals nicht die Informatiker selbst, aber sie tragen dazu bei, diese unethischen Visionen in Realität zu verwandeln – ungeachtet möglicher (zivilgesellschaftlicher) Auswirkungen.

Ethische Leitlinien

Man mag es kaum glauben, aber für Informatiker existieren ethische Leitlinien wie der Code of Ethics and Professional Conduct (ACM) oder den der Gesellschaft für Informatik (GI). Nach allgemeiner Auffassung sind diese allerdings eher wie ein Bekenntnis formuliert, anstatt wie eine Selbstverpflichtung. Die meisten Informatiker werden diese oder ähnliche Verhaltenskodizes vermutlich nicht einmal kennen.

Werfen wir mal einen Blick auf den Inhalt des
Code of Ethics and Professional Conducts:

1.6 Respect privacy

[…]

Only the minimum amount of personal information necessary should be collected in a system. The retention and disposal periods for that information should be clearly defined, enforced, and communicated to data subjects. Personal information gathered for a specific purpose should not be used for other purposes without the person’s consent. Merged data collections can compromise privacy features present in the original collections. Therefore, computing professionals should take special care for privacy when merging data collections.

Hätten sich Informatiker mal an diese Leitlinie »Respect Privacy« gehalten, würde es datensammelnde, privatsphäreverletztende Netzwerke – nur mal eben zum Beispiel – wie Facebook heute überhaupt nicht geben. Würde sich jeder Informatiker verpflichten, die möglichen Konsequenzen seiner Software bei der Entwicklung zu berücksichtigen, gäbe es das Google von heute nicht. Wie würde unsere Welt aktuell wohl aussehen, wenn Informatiker solche ethischen Leitlinien befolgt hätten? Es läßt sich nur schwer vorstellen.

Wer die Software-Welt von heute betrachtet, stellt fest, dass die Leitlinien bzw. Forderungen kaum bis gar nicht berücksichtigt werden. Schuld an diesem Dilemma sind natürlich nicht ausschließlich Informatiker, sondern die Ursachen und Probleme für diese Fehlentwicklung sitzen viel tiefer. Fakt ist: Gerade Computer bzw. Algorithmen verändern die Welt wie nie zuvor. Mithin wäre es für Informatiker essentiell, dass sie ihrer gesellschaftlichen – aber auch dezidiert ethischer – Verantwortung endlich bewusst werden und anfangen, Konsequenzen zu ziehen und auf Alternativen aufmerksam zu machen.

Bei angehenden Informatikern müßte grundsätzlich die Fähigkeit, ihre eingesetzten Dienste, Software, Apps und so weiter kritisch zumindest zu hinterfragen. Es wird einfach benutzt, was ohnehin „gut“ funktioniert und sowieso jeder bereits einsetzt.
Also die üblichen Verdächtigen aus der Welt des Überwachungskapitalismus wie Google Android, Microsoft Windows oder Facebook.
Bei aber dann näherer Betrachtung wird schnell klar, dass sie sind sich zwar der negativen Auswirkungen ihres Handelns durchaus bewusst sind, es ihnen aber die Eigenschaft zur (Selbst-)Reflexion und (Technik-)Folgenabschätzung  mangelt. Und nicht nur das: Es mangelt an sowohl Handlungsstärke wie auch den Willen am Status Quo etwas zu verändern.

Aber nicht nur angehenden Informatikern mangelt es am digitalen Gewissen: auch die meisten Informatikern, die bereits Jahre oder Jahrzehnte im Berufsleben stehen, handeln ähnlich verantwortungslos.
Schlimmer: Sie sind für ihr Umfeld oftmals ein schlechtes Vorbild sie nutzen – und bewerben – Dienste wie WhatsApp, die dem Überwachungskapitalismus Vorschub leisten – obwohl sie es eigentlich besser wissen müssten.

Appell an das digitale Gewissen

Wer, wenn nicht Informatiker, sollten die gesellschaftlichen Folgen einschätzen können, die durch ihr eigenes Handwerk geschaffen werden?
Wer, wenn nicht Informatiker, könnten die Gesellschaft an die Hand nehmen und Alternativen zum Überwachungskapitalismus aufzeigen, der von Unternehmen wie Google und Microsoft vorangetrieben wird? Wer, wenn nicht Informatiker, sollten mit positivem Beispiel vorangehen und datensammelnde, unsoziale Netzwerke wie Facebook boykottieren und Alternativen schaffen?
Wer, wenn nicht Informatiker, sollten die Entwicklung von menschenverachtenden Algorithmen infrage stellen? Wer, wenn nicht Informatiker, sollten unmoralische oder unethische Vorgaben im Rahmen ihres Jobs hinterfragen und die daraus resultierenden Missstände klar benennen?

Angetrieben durch falsche Vorbilder, machtgesteuerte Protagonisten und profitgetriebene Entscheider haben wir alle die digitale Welt schon ziemlich an die Wand gefahren. Und, die gesellschaftlichen Folgen sind bislang nicht absehbar.

Juni 2019 | Allgemein, Essay, Feuilleton, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Senioren, Wissenschaft | 1 Kommentar