Der Besuch einer öffentlichen Toilette sagt einiges über den Zustand unserer Zivilisation aus. Seltsame Apparate finden sich mittlerweile in den WC von Einkaufszentren oder Flughäfen: «Wie zufrieden sind Sie mit unserem Service?», steht geschrieben. Dazu vier Knöpfe mit Gesichtern in unterschiedlichen Gemütszuständen – von wütend bis hocherfreut, von dunkelrot bis sattgrün. Was mit den so unspezifisch erhobenen Latrinendaten genau geschieht, erschliesst sich einem ebenso wenig wie der mögliche Erkenntniswert aus dem Verhalten einiger Personen, die tatsächlich – aus welchen Gründen auch immer – irgendwo gedrückt haben.
Man muss kein Kulturpessimist sein, um so etwas albern zu finden, eine läppische Spielerei, ein nerviger Unsinn. Doch genau solche Erhebungen sind ein Symptom für unsere Leistungsgesellschaft, die vernarrt ist in Scores, Likes und Rankings. Alles wird heute vermessen, bewertet, verglichen. Das Phänomen umfasst so Unterschiedliches wie die Ranglisten der Städte mit dem besten Nachtleben, die Benotung von Uber-Fahrern oder die sogenannten Performanzmessungen im Büro und im Schulzimmer. Auch ganz private Dinge werden mit Apps dokumentiert, das eigene Sportverhalten etwa, die Gesundheit, die Gemütslage. Wie steht es um mich? Wie optimiere ich mich? Self-Tracking nennt sich das. Bereitwillig stellen Zeitgenossen dafür ihre persönlichen Daten zur Verfügung.
Die Quantifizierung ist so allgegenwärtig, dass sie von der Wissenschaft längst als gesellschaftlicher Megatrend identifiziert wurde. So beschreibt der Berliner Soziologieprofessor Steffen Mau in seiner glänzenden Studie «Das metrische Wir», wie wir immer stärker zu «Numerokraten» erzogen werden – zu Menschen, die nach statusrelevanten Zahlen gieren. Von der in China geplanten Big-Data-Diktatur namens «Sozialkreditsystem», die konformes Verhalten belohnt und Widerstand bestraft, sind wir zwar noch weit entfernt. Aber auch im Westen etablieren sich derzeit neue datenbasierte Formen sozialer Rangordnung.
Die Magie der Zahlen
Natürlich ist die Quantifizierung der Gesellschaft keine historische Novität. Zahlen und Statistiken werden genutzt, seit es sie gibt. Zum Glück, denn sie haben viel zur Entwicklung der modernen Staatlichkeit und der Wirtschaft beigetragen. Doch die Digitalisierung hat völlig neue Möglichkeiten geschaffen. Schätzungen gehen davon aus, dass sich das globale Datenwachstum alle zwei Jahre mehr als verdoppelt. So werden nicht nur unvorstellbare Massen an Daten generiert und gespeichert, sie lassen sich auch mit immer feineren algorithmischen Verfahren auswerten. Diese «allgegenwärtige Soziometrie» (Steffen Mau) als rein technologisch getrieben zu verstehen, griffe dennoch zu kurz. Sie hat auch mit der modernen Arbeitswelt zu tun, die sich an einem Wertekanon aus Effizienz und Evidenz, Transparenz und Rechenschaftspflicht orientiert.
Leistungs- und Zielvereinbarungen, wie sie in der Privatwirtschaft und beim Staat verbreitet sind, wollen kontrolliert sein. Das hat in den letzten Jahren unter dem Label «Qualitätsmanagement» zu einer massiven Ausbreitung von Monitorings, Reports und Evaluationen geführt. Daten über Mitarbeitende und Kunden sind wichtiges Steuerungswissen: Mit ihnen können Arbeitsprozesse verbessert und Zielgruppen präziser adressiert werden. Und natürlich lässt sich Druck aufsetzen. Interne Rankings und Scorings gelten als leistungssteigernd. Schliesslich kratzen schlechte Resultate in diesem Wettbewerb der Zahlen am Selbstwertgefühl der Angestellten, und sie sollen dazu anspornen, es künftig besser zu machen. Sie konditionieren aber auch das Beurteilungsraster der Belegschaft, die sich immer mehr an dem orientiert, was gemessen wird. Oder wie es der ehemalige IBM-Chef Louis V. Gerstner ausgedrückt hat: «People don’t do what you expect, but what you inspect.»
Die Verführungskraft solcher Leistungsmessungen ist immens. Zahlen suggerieren Eindeutigkeit, Exaktheit, Nachprüfbarkeit und Nüchternheit. Wer heute etwas belegen will, argumentiert mit der Faktizität datengesättigter Zahlen. Das hat auch mit einem anderen gesellschaftlichen Trend zu tun: der Risikoaversion, der Absicherung vor Fehlern und der Flucht vor Verantwortung.
Doch so objektiv Zahlen auch scheinen mögen – sie sind es nicht. Quantifizierungen reduzieren die komplexe Wirklichkeit auf einige wenige Indikatoren. Es gibt keinen neutralen, vom Betrachter unabhängigen Wert, der nur gemessen werden müsste. Wert wird immer sozial hergestellt. Deshalb zeigt ein Algorithmus auch nicht, was relevant und wertvoll ist, sondern nur, was dafür gehalten wird.
«Boost your score!»
Das ist die Crux am Vermessungseifer: Welche Indikatoren werden gewählt, was wird miteinander verglichen, und was lässt sich überhaupt sinnvoll quantifizieren? Diese Fragen bleiben angesichts der nackten Zahlen oft unbeantwortet. Der Ökonom Mathias Binswanger warnt deshalb schon seit Jahren vor einer «Messbarkeitsillusion»: Das Problem sei, «dass die heute in Wirklichkeit wichtigen Leistungen sich einer quantitativen Messbarkeit entziehen, da es dort in erster Linie um Qualität und nicht um Quantität geht». Die Versuche, Qualität allein mithilfe quantitativ messbarer Kennzahlen oder Indikatoren abzubilden, hätten zu «perversen Anreizen» geführt.
Damit meint er nicht primär die zusätzliche Bürokratie, die wegen der monströsen «datenbasierten» Berichte, Optimierungssitzungen, Debriefings und Massnahmenpläne wuchert – und Effizienzgewinne sogleich wieder verpuffen lässt. Es geht dem Ökonomen um die Fehlanreize, die durch den gesellschaftlichen Zahlenrausch entstehen. Sie zeigen sich zum Beispiel im Bereich der Bildung.
Internationale Leistungstests wie Pisa, die medial viel Beachtung finden, lassen zwar nur beschränkt Aussagen über das Wissen von Schülern und die Qualität von Schulen zu. Auch gibt es keine brauchbaren Kriterien, mit denen Leistungen von Lehrpersonen auf die Kommastelle genau berechnet werden könnten. Trotzdem zeigt die Vermessung der Bildung Wirkung. Die Lehrer würden regelrecht auf das Einpauken standardisierter Prüfungsaufgaben dressiert, monieren Kritiker. Mit diesem «teaching to the test» sollen die Schüler auf Top-Resultate getrimmt werden. Auch die Universitäten passen mittlerweile ihre Strukturen gezielt denjenigen Indikatoren an, die bei den weltweiten Hochschul-Rankings gemessen werden. Die äusserlichen Kennzahlen werden wichtiger als der komplexe Inhalt – oder plakativ gesagt: Gut auszusehen, zählt heute mehr, als gut zu sein. Das gilt notabene auch für die dort angestellten Wissenschafter. Sie müssen möglichst viel und im Mainstream publizieren, um gute «Impact-Zahlen» zu haben. Die Bedeutung der Forscherinnen und Forscher lässt sich etwa am sogenannten H-Index ablesen, der anhand der Zahl von Zitationen einen Wert ausspuckt. Das fördert mitunter viel Unausgegorenes und Unoriginelles. Auf Online-Netzwerken für Wissenschafter wie Academia und ResearchGate lautet das Motto denn auch: «Boost your score!» Nur was geklickt wird, ist wichtig.
Wo ist der «Underperformer»?
Die im Internet anzutreffende Bewertungsmanie offenbart ein weiteres Dilemma. Auf den Web-Portalen von Amazon bis Tripadvisor ist unsere Stimme heute zwar so gefragt wie nie zuvor. Und diese neue Macht der Laien schafft zweifellos mehr Markttransparenz. Doch wie unabhängig, kompetent und zuverlässig sind die geposteten Urteile und Bewertungen? Können subjektive Eindrücke objektiviert werden?
Bedenken sind nicht nur angebracht, wenn beispielsweise die fachlichen Leistungen von Professoren durch Studierende qualifiziert werden oder diejenigen von Ärzten durch Patienten. Die gängige Noten- und Sternchenvergabe folgt keinen klaren Kriterien und ist mitunter so reduktionistisch-nichtssagend wie die Umfragen auf öffentlichen Toiletten oder den News-Sites von Medien: «Ist dieser Artikel lesenswert? Ja/Nein.»
Die gravierendste Folge der Vermessung des Sozialen zeigt sich aber bei der täglichen Zusammenarbeit. Der Wettbewerb um gute Performance belebt idealerweise die Konkurrenz, sorgt für mehr Effektivität und Effizienz. Wahrscheinlich führt er aber auch zu mehr Konformität und schlimmstenfalls zu einem «Kampf ums Dasein», einem vulgären Darwinismus mit Daten. So hat der einstige General-Electric-Chef Jack Welch bereits in den 1980er Jahren seine Belegschaft nach einer simplen Regel eingeteilt: 20 Prozent der Mitarbeiter sind «Stars», 70 Prozent Durchschnitt und 10 Prozent «Underperformer», die man wieder loswerden muss.
In einer solch kompetitiven Unternehmenskultur sind die Mitarbeitenden ständig damit beschäftigt, ihre persönlichen Scores zu optimieren und zu verbessern – gerade auch gegenüber ihren Arbeitskollegen. Das kann gesundheitliche Nebenwirkungen haben. Was in einer derartigen Bürowelt aber akut gefährdet ist, sind zentrale Produktivitätsmotoren wie Teamgeist, Kreativität und Solidarität, die jedoch ungleich schwerer zu erfassen sind. Weshalb auch jemandem helfen, wenn die eigenen Kennzahlen davon nicht profitieren? Oder missgünstiger: wenn «Konkurrenten» dadurch auch noch glänzen? So droht die Arbeitsleistung insgesamt sogar zu sinken.
Sinnigerweise kann «vermessen» im Deutschen nicht nur bedeuten, etwas genau in seinen Massen festzulegen, sondern eben auch – sich beim Messen zu irren.