Tod als Störer der Gesellschaft

Der Tod als Störer der Gesellschaft, der die Zeit relativiert und begrenzt und damit dem Augenblick die Beliebigkeit nimmt, findet auf dem Friedhof in mindestens dreifacher Hinsicht seine Inszenierung und Verwandlung: als religiöses, ästhetisches und hygienisches Phänomen. Wortreich ist der „Ort des Friedens und der Stille“ umschrieben worden, als „Vorspiel zum Paradies“ , als „Spielplatz Gottes“, „Ort des Gedächtnisses“ und „Reich des memento mori“.
Ein Spaziergang durch jenen Teil der Kulturgeschichte, der mit den meisten Palmwedeln, Engeln, Sensen, elegischen Frauengestalten, Göttern, Chronos und Kreuzen dekoriert wurde, führt von Amrum über Berlin, Hamburg, Dresden und Heidelberg ebenso direkt ins Nachdenkliche wie Skurrile. Da entdeckt man über dem Eingang zum Seemannsfriedhof auf Föhr den knöchernen Fingerzeig „Es ist noch Ruhe vorhanden!“, und noch ehe man sich schaudernd abwenden kann, grient man über den letzten Willen eines Mannes, der im Winter immer fror – sein Grab ziert ein großer, gußeiserner Ofen. „Der Friedhof beginnt allmählich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Schulexamen anzunehmen. Da liegt Simrock. Hat der nicht das Nibelungenlied übersetzt? Dort Ernst Moritz Arndt, Vater des nationalen Standpunktes, schöner Märchen und vieler Gedichte zum Auswendiglernen“, dürfen Besucher während eines Besuches klagen , der u.a. die Gräber der Wagner-Muse Mathilde Wesendonk, der Schumanns und das von Beethovens Mutter beherbergt. Die berühmten „Herzchen, die dort liegen“, laufen als Kapitel „Menschliches, allzu Menschliches“ im Lexikon der Kulturgeschichte. So beschwerte sich Clara Schumann über den „fehlenden geistigen Ausdruck“ im Porträtrelief ihres Mannes, dessen Grabmal linker Hand und trefflich allegorisierend von einem geigenden Engelchen flankiert wird.
Und hier, auf unserem Bergfriedhof? Friedrich Ebert, war das nicht – ja, der in Heidelberg geborene Reichspräsident hat hier seine letzte Ruhe gefunden. Wilhelm Furtwängler, genau, der große Dirigent und – wir verweisen als Hommage auf den von Leena Ruuskanen wunderschön edierten Band III der Buchreihe der Stadt Heidelberg „Der Heidelberger Bergfriedhof · Kulturgeschichte und Grabkultur“ · Im Kapitel „Ausgewählte Grabstätten“ finden wir zu guter Letzt die sehenswerte, in griechisch –antikem Gepräge sich erhebende Grabstätte der Familie Hoffmann/Giulini – die zwar da auch mit „ohne Taschen im letzten Hemd“ liegen, aber so möcht‘ man später schon auch gerne mal wohnen …

Der Friedhof „an sich“

Natürlich ist das Erscheinungsbild von Friedhof und Grabmal an gesellschaftliche Veränderungen gebunden. Erst innerhalb der bürgerlichen Entwicklung verlor der Totenkult kirchliche Anbindung sowie religiösen Aspekt und wurde allmählich ästhetisiert. Die Bestattungen mutierten zudem immer mehr zum hygienischen Problem der Kommunen. Nachdem Kirchenbesucher ob der Verwesungsdünste noch um 1800 reihenweise in Ohnmacht sanken und Seuchen ausbrachen, wurden die ursprünglich als Vorplatz der Kirchen angelegten Friedhöfe an die Stadtgrenzen verlagert. Aber erst 1878 konnte gegen den Widerstand des Klerus das erste deutsche Krematorium in Betrieb genommen werden. Friedhofsanlagen und Grabmalsformen unterliegen, wie alle Alltagskultur, wechselnden Moden. Man wurde auf Camposanto, Wald- oder Bergfriedhof begraben, ließ sich je nach Geldbeutel und Geschmack modern-minimalistisch betten, oder kompakt-ägyptisierend. Es gibt Gräber mit Buchstabenrätseln und Afrikakarten, in denen Vertreter heutzutage vergessener Berufe wie Briefmaler oder Paternostermacher in „die reine Natur zurücksanken“ (Thomas von Aquin). Arme–Leute-Särge wurden wegen ihrer Flachheit „Nasenquetscher“ tituliert und endeten nicht selten im Massengrab, während prunkvolle Familiengruft oder bewußt schlicht gehaltenes Prominentengrab auch an der letzten Station des Lebens soziale Differenzen festschrieben. Die rabenschwarz glänzende Grabplatte des Theaterleiters, Schauspielers und Stückeschreibers August Wilhelm Iffland in Berlin verkündet, ganz Understatement, „Iffland starb“ – Punkt.
Man könnte noch manche Anekdote zum besten geben, wie die vom Hamburger Tierparkgründer Hagenbeck, der ein steinernes Konterfei seines Lieblingslöwen „Triest“ aufs Grab befahl, nachdem sein Sarg auf testamentarische Verfügung hin an allen Tieren des Zoos vorbeigetragen werden mußte. Die Metaphysik des Geistes, welche die Unsterblichkeit der Seele in der Statue symbolisiert und in Euphemismen wie „heimgehen“ verbalisiert, setzt sich nirgends deutlicher gegen das biologische Verenden ein als auf den Friedhöfen. Schlimmer als alles wirkliche Sterben muß jedoch die Angst vor dem Scheintod gewesen sein, der den „Schlesischen Schwan“ Friederike Kempner zu folgenden unsterblichen Versen inspirierte: „Dem Tod konnt‘ er ins Antlitz sehn – doch jetzt im Aug ihm Tränen steh‘n!“

Dem Tod ins Antlitz sehen

Nehmen wir doch einfach den Dingen, vor denen wir uns fürchten, die Maske ab, gehen wir dem Tod, vor dem wir uns nicht zu fürchten haben, entgegen. Nähern wir uns ihm allein in der Sokrates zugesprochenen unkünstlichen Kühnheit. Nehmen wir dem Tod das „metaphysische“, denken wir nicht an Hölle, nicht an Teufel, die Erbsünde oder das Paradies. Nehmen wir den Tod als diesseitiges, als irdisches Geschehen. Nehmen wir ihn als Geschenk! Verzichten wir dabei getrost auf alle antiken oder vulgärbiologischen Tröstungen einer „Rückkehr in die Natur“. Das menschliche Leben – dieses menschliche Leben – hört auf.
Der Tod ist schrecklich, ein Werk des Bösen – so, sagt man, dachten die Menschen des Mittelalters – und das erklärt die Maßlosigkeit, die Wildheit ihrer Liebe zum Leben: irdische Jenseitsvorstellungen komplementieren ein irdisches Leben. Die Neuzeit hat Abschied genommen von solch konkreten Bildern, spielt mit dem Gedanken der Unsterblichkeit der Seele und entwickelt Verdrängungs- und Risikominderungsstrategien: einerseits die Vorstellung vom Nachleben im Ruhm, in den Gedanken, den Werken, den Bildern die man hinterläßt (den gesammelten „in vino veritates“ vielleicht) – all das herzustellen und für die Ewigkeit zu kalfatern – dicht für eine kleine Ewigkeit – gibt dem Leben (s?)einen Sinn; andererseits aber wächst der Hang, sich zu versichern, individuell und gesellschaftlich: Mäßigung, Gesundheitspflege, Vorsicht, Bravheit, Vorsorge für Härtefälle, Abfindung nach Kündigung ja sowieso. Eine Gesellschaft von ihren Tod ins Auge fassenden Einzelnen sähe anders aus. (Nur) der Gedanke an den Tod zwingt die Menschen in ein freies und erfülltes Leben; wer den Tod verdrängt, lebt stumpf und bewußtlos wie ein Tier. Mein memento mori gilt dem diesseitigen Leben, nicht aber dem Seelenheil. Den Tod zu sehen und anzuerkennen ist ein guter – und vielleicht der einzig zwingende – Grund dafür, die Tauglichkeit des Endlichen zu erkennen. Gibt es nämlich keine Zukunft jenseits des Sterbens, gibt es auch keine Gründe, die Gegenwart wegzuwerfen; und weil der Tod das gewußte Ende ist, hat auch die Sparsamkeit – an Lust, an Liebe, an Genuß – nur begrenzt Sinn.

Dieses eine Leben ist für den einzelnen Menschen alles, die letzte Zeile ist vorgegeben, und jeder lebt nur seinen Essay, seine Kolumne, sein Leben – mit oder ohne vino: veritas.

Mai 2019 | €uropa | Kommentieren