Ein ehemaliger Professor der Central European University (CEU) macht unter dem Pseudonym Beda Magyar vor allem der EU schwere Vorwürfe, dass sie trotz jahrelanger fortgesetzter Rechtsbrüche in dem Land nie intervenierte. „Mit seinem aktuellen Rechtssystem und Staatsstrukturen hätte Ungarn heute – aktuell – bei Beitrittsverhandlungen keine Chance.“  Ohne die EU hätte Orban in der Demontage des Rechtsstaat gar nicht so weit kommen können, so der Autor: „Der Staat ist ganz auf EU-Subventionen, ein paar deutsche Firmen und offene Grenzen gebaut, die es jedem mit abweichenden Meinungen leicht machen zu gehen.
Bild: Ungarisches Parlamentsgebäude in Budapest.Unter Viktor Orbán wird Ungarns Demokratie systematisch zerstört. Hass, Rassismus und das anmaßende Ganoventum der Rechten sind Staatsräson. Die EU trägt mitschuld daran. Die EU hätte Ungarns Demokratie, Kultur und Gesellschaft einen großen Dienst erwiesen, wenn sie rechtzeitig Subventionen gestrichen hätte, vielleicht als die Pressefreiheit im Jahr 2011 abgeschafft wurde und faire Wahlen unmöglich wurden.“Beda Magyar ist ein ungarischer Wissenschaftler, der in Budapest an der Zentraleuropäischen Universität (CEU) gearbeitet hat. Diese Hochschule wurde von der ungarischen Regierung mit neuen Anforderungen im Hochschulgesetz unter Druck gesetzt, bis sie sich Ende 2018 gezwungen sah, teilweise nach Wien umzuziehen. Beda Magyar schreibt hier unter Pseudonym, um sich und sein privates und berufliches Umfeld zu schützen. Seine Identität ist der Redaktion bekannt.

 

Ungarn hat Selbstmord begangen – mit ungeschickter Hilfe der EU und vor den Augen der übrigen, hilflosen EU-Mitglieder. Der Totentanz der Demokratie hat begonnen, wie schon einmal im 20. Jahrhundert: Menschenrechte, Pressefreiheit, die Unabhängigkeit von Justiz, Wissenschaft und Kunst sind wieder zum Spielball der Politik geworden; Fakten und Realitäten werden umgedeutet zu Angriffen auf die nationale Identität; Hass und Gesetzesbruch werden zum moralischen Imperativ erklärt. Dies alles geschieht nicht nur in der EU, sondern die EU hat selbst dazu beigetragen, den Wahngebilden der Rechtsextremen Leben einzuhauchen. Denn um nichts anderes handelt es sich bei der fixen Idee, die Brüsseler Bürokratie stelle eine Bedrohung für Ungarns kulturelle Identität dar.

Eigentlich ist es nämlich so: Im Namen der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates pumpt die EU-Bürokratie Geld in das Land und sichert damit die Herrschaft eines politischen Führers, der den Kontakt zur Realität verloren hat. Sie lässt damit zu, dass er Ungarn mitsamt allem künstlerischen, literarischen und wissenschaftlichen Leben zerstört, auch indem sie die Grenzen für alle, die aus dem Land vertrieben werden, offen hält. Mit dem Ergebnis, dass der Kalte Krieg zurück ist, nur diesmal in Form eines kalten Bürgerkrieges, der das Land seit 2002 in zwei immer unversöhnlichere Teile reißt. Die treibende Kraft dahinter ist der politische Konservatismus in Form einer Tugendhysterie. Gibt es für Europa einen Ausweg aus diesem Schlamassel, den es angerichtet hat?

Der Zustand Ungarns heute

Mit seinem gegenwärtigen Rechtssystem und seiner Staatsverfassung käme Ungarn heute nicht einmal mehr als Kandidat für EU-Beitrittsgespräche infrage. Ministerpräsident Viktor Orbán kann also von Glück sagen, dass die von ihm seit einem Jahrzehnt betriebene systematische Missachtung von EU-Recht ohne ernsthafte Konsequenzen geblieben ist. Seit der Einführung des neuen ungarischen Medienrechts 2011 ist die Pressefreiheit zu einer reinen Worthülse verkommen, eine unabhängige Presse von nennenswerter Reichweite existiert jedenfalls nicht mehr. Mit Ausnahme einiger weniger von der Staatspropaganda geduldeter Aushängeschilder einer oppositionellen Presse mit verschwindend geringen Auflagen ist die gesamte Medienlandschaft von der regierenden Fidesz-Partei aufgekauft und zum Schweigen gebracht worden. Die Menschenrechte gelten nur noch zum Schein, denn laut der 2012 in Kraft getretenen Verfassungsänderung unterstehen sie nun noch nicht näher festgelegten Verpflichtungen gegenüber dem Staat. Die Unabhängigkeit der Justiz ist in den Händen regierungstreuer Richter nicht mehr gewährleistet. Auf dem Papier sind Wahlen in Ungarn weiterhin frei, aber ganz offensichtlichnicht fair. Die Regierungspropaganda zeichnet Ungarn, ein Land mit de facto Nulleinwanderung, als letzte Bastion gegen die „Invasion barbarischer Migrantenhorden“ – eine Anspielung auf das Osmanische Reich –, das sich zugleich gegen die dekadenten liberalen Eliten in der EU zur Wehr setzen müsse, die ihm vorwerfen, es stemme sich der Einwanderung entgegen – eine Anspielung auf das Habsburger Reich. Flüchtlinge lässt man währenddessen systematisch in weit entfernten Auffanglagern darben.

In einem Land mit knapp zehn Millionen Einwohnern leben vier Millionen Menschen in Armut, eine Million von ihnen in extremer Armut. Ärzte und Pflegepersonal verlassen in Scharen die Krankenhäuser. Neue Intensivtherapien gegen Krebs stehen Patienten, die älter als 75 Jahre sind, nicht mehr zur Verfügung. Der wirtschaftliche Abschwung begann 2008, die Arbeitslosenquote wird kaschiert von öffentlichen Beschäftigungsprogrammen, die obligatorisch sind für alle Arbeitssuchenden und Antragsteller auf Arbeitslosengeld; sie bekommen darin gerade einmal die Hälfte des Mindestlohns. Obdachlosigkeit ist laut Gesetz ein Verbrechen. Auf Budapester Straßen ist die Armut heute so allgegenwärtig und unübersehbar wie Anfang der Neunzigerjahre. Die 87 Millionen Euro, die die EU ohne weitere Kontrollen wöchentlich an Orbán überweist, wandern direkt in die Taschen von vier oder fünf Oligarchen, die zu dessen treuer Gefolgschaft gehören.

Am 1. Oktober 2018 hat die regierende Fidesz-Partei ein neues Demonstrationsgesetz verabschiedet. Jetzt kann, wie vor 1989, schon ein Treffen von zwei Personen im öffentlichen Raum als politische Versammlung gelten. Außerdem wird gerade Oppositionsabgeordneten der Prozess gemacht, weil sie sich im Dezember Zutritt zum Gebäude des staatlichen Fernsehens verschafft hatten, um von ihrem Recht Gebrauch zu machen, mehr als die ihnen zugestandenen fünf Minuten Sendezeit für die Verlesung von politischen Forderungen zu erhalten. Und außerdem macht sich die Regierung stillschweigend daran, ein neues Oberstes Verwaltungsgericht einzurichten, das für politisch relevante Verfahren zuständig sein soll und diese dem herkömmlichen Justizsystem entzieht. Das wäre das Ende der Gewaltenteilung.
Was die Brutalisierung von Presse und Gesellschaft betrifft, befindet sich Ungarn heute in etwa auf dem Stand der Dreißigerjahre. Nur dass heute eine linke Mobilisierung der Massen gegen diese Politik fehlt und dass politische Morde oder die Inhaftierung von politischen Gegnern und Journalisten nicht an der Tagesordnung sind. Es sei denn, der Staat hat doch seine Hände im Spiel bei den unaufgeklärten Todesfällen, die sich von Zeit zu Zeit ereignen, etwa wenn ein Oppositionskandidat einen Tag vor der Wahl von einem Auto angefahren wird, ein zwielichtiger Geschäftsmann in einem Polizeiwagen stirbt oder der Besitzer des Quellcodes für die Software, mit der EU-Gelder verwaltet werden, einem plötzlichen Herzversagen erliegt, einen Tag nachdem er den Code an die Regierung verkauft hat.

Doch der Schwerpunkt von Orbáns Tätigkeit ist, Themen aufzuspüren, die die Gesellschaft spalten, und dann alles daranzusetzen, dass sich die Kluft zwischen den Lagern nicht schließt. Dafür muss er Sündenböcke finden, sodass sich seine Anhänger hinter ihn stellen, Farbe bekennen und Gefolgschaft schwören können. Mit dieser Methode hat die Orbán-Regierung das Land mit faschistoiden Hasskampagnen überzogen, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Die erste richtete sich im Sommer 2015 gegen Menschen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg Zuflucht suchten („Wer nach Ungarn kommt, der hat sich an unsere Gesetze zu halten“, „Wer nach Ungarn kommt, darf keinem Ungarn die Arbeit wegnehmen!“). Mit der zweiten Kampagne beschuldigte Orbán im Sommer 2016 die UN und die EU, außereuropäische Migranten massenhaft in Ungarn ansiedeln zu wollen. Kurz vor den Wahlen zum Europaparlament hat er diesen Vorwurf jetzt an die EU gerichtet noch mal erneuert. Mittlerweile ist das ungarische Volk das hasserfüllteste in der EU. Offiziell heißen diese Aktionen staatliche Informationskampagnen, für deren Durchführung und Inszenierung der Fidesz-Partei gerade in Wahlkampfzeiten unendliche Geldquellen zur Verfügung stehen (bislang hat die Regierung mehr als 300.000 Euro täglich für solche Zwecke ausgegeben), während die Opposition aus der Öffentlichkeit so gut wie verbannt ist. Mit diesen Kampagnen bereitet Orbán seit Längerem den Weg für einen Austritt aus der EU, für den Fall, dass der Verbleib sich für ihn nicht mehr so recht bezahlt macht. Für den Wahlkampf 2018 schließlich inszenierte Orbán für seine Identitätspolitik eine Hasskampagne gegen seinen alten und neuen Feind George Soros.

Eine lebensbedrohliche Gefahr für das Land

Soros ist für Orbán der ideale Sündenbock, denn er verkörpert nicht nur das jüdische Kapital, sondern auch den „Kommunisten“ (weil er als Mäzen auftritt) und obendrein noch die Ideale einer offenen Gesellschaft und die Werte des Liberalismus. Der angebliche „Soros-Plan“ besteht in der Orbán-Erzählung darin, dass er Wirtschaftsflüchtlinge illegal in Ungarn ansiedeln will und jedem 2.000 bis 3.000 Euro dafür zahlt. In Orbáns Narrativ hat sich die EU davon bereits korrumpieren lassen. Dieses Narrativ speist sich aus mehreren historischen Motiven: Erstens greift es auf die Rolle des Königreichs Ungarn bei der Verteidigung des christlichen Abendlandes vor dem Ansturm der türkischen Truppen im Osmanischen Reich im 15. Jahrhundert zurück (erfolgreiche Abwehr muslimischer Eindringlinge, oder heute: vor allem syrische Kriegsflüchtlinge, die als Wirtschaftsmigranten geframt werden). Zweitens auf den patriotischen Freiheitskrieg gegen Österreich 1848 (allerdings vorgetragen im dumpf-nationalistischen Tonfall eines völkischen Ungarntums). Drittens auf den Ungarn-Aufstand von 1956 gegen die stalinistische Sowjetunion (mit dem dem cleveren kleinen Ungarn vorübergehend die Befreiung von einer europäischen Großmacht gelang). Und schließlich, viertens, auf den Sieg über die unsichtbaren Kräfte des Bösen (vulgo die Juden), die die drei heiligen nationalen Werte zersetzen: Isten, haza, család, zu Deutsch: Gott, Heimat und Familie.

In diesem Licht erscheint Soros als der Inbegriff jener linksliberalen jüdischen Verschwörung gegen das Vaterland, die bereits Schuld trägt an den Verlusten und der militärischen Niederlage Ungarns im Ersten Weltkrieg − ein Mythos, der bis zum heutigen Tag am Leben gehalten wird. Für sein Ziel, Ungarn, Europa und das Christentum zu zersetzen, bediene sich Soros zweier Werkzeuge, heißt es: einerseits der Nichtregierungsorganisationen, etwa der Open Society Foundations (die inzwischen nach Berlin vertrieben wurden), und andererseits der Zentraleuropäischen Universität CEU (die unlängst gezwungenermaßen teilweise von Budapest nach Wien emigriert ist und als Druckmittel in der EU benutzt wird).

Ein gespaltenes Land

In der ungarischen Gesellschaft stehen sich heute zwei verfeindete Lager mit klar voneinander abgegrenzten Parallelkulturen gegenüber. Die Anhänger der regierenden Fidesz-Partei und ihrer rechtsextremen Ideologie empfinden die heterogene, zersplitterte und unkoordinierte Opposition, die sie unter dem Label „linksliberal“ zusammenfassen, als eine lebensbedrohliche Gefahr für das Land. Unter dieses Label subsumieren sie inzwischen selbst die ihrem Ursprung nach neonazistische Bewegung für ein besseres Ungarn, Jobbik, die sich neuerdings in ihrem Auftreten zentristischer und versöhnlicher gibt, nachdem sie gemerkt hat, dass es rechts von der Fidesz keine Luft mehr gibt.

Der Graben zwischen den gesellschaftlichen Lagern ist mit jedem Wahlsieg der Rechten tiefer geworden, aber seine Ursprünge reichen weit in die Vergangenheit zurück. Denn Ungarn war von 1526 bis 1920 und von 1945 bis 1989 ein von fremden Mächten besetztes Land. Das hat eine Mentalität befördert, zwischen uns und den anderen zu unterscheiden. Oder vielmehr zwischen denen, die sich auf die Seite der anderen geschlagen haben (die Verräter), und denen, die sich gegen die anderen zur Wehr gesetzt haben (die Rebellen). Zur allgemeinen Überraschung ist diese Polarisierung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 in neuem Gewand wiederaufgetaucht. Die Lagerbildung verläuft nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, zwischen denen, die für die Demokratie auf die Straße gegangen sind, und den ehemaligen kommunistischen Machthabern, sondern sie verläuft zwischen liberalen und konservativen Kräften.

1993 ließ die konservative Regierung Miklós Horthy, dem faschistischen Reichsverweser Ungarns während der Zwischenkriegszeit, ein nachträgliches Begräbnis in Ungarn mit militärischen Ehren zuteilwerden. Horthy war der erste Staatsmann, der im nachaufklärerischen Europa der Zwanzigerjahre jüdische Rassengesetze erließ. Später war er treuer Verbündeter von Adolf Hitler und verantwortlich für die Deportation mehrerer Hunderttausend ungarischer Frauen, Männer und Kinder nach Auschwitz – um nur einige seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu nennen. Die moderateren Vertreter des rechten Spektrums hatten keine Einwände gegen diese Ehrung eines Faschisten, die ganz Rechten ohnehin nicht. Aus nationalistischen Kreisen ist immer wieder zu vernehmen, dass der Friedensvertrag von Trianon von 1920, der Territorialverluste für Ungarn festschrieb, den Konservativen das sei, was der Holocaust den Linken sei.

Die Polarisierung hat die gesamte ungarische Gesellschaft erfasst. Auf der einen Seite stehen die sich auf Horthy berufenden „wahren Ungarn“, die alle Menschen anderer Meinung für Anti-Ungarn halten. Dieser Begriff umfasst nicht nur die politischen Gegner der Fidesz-Politik aus den Oppositionsparteien, sondern auch die „linksliberalen“ Kräfte, die LGBTIQ-Community, Juden, Roma, Ausländer sowie alle „ausländerfreundlichen Elemente“. Die Spaltung im Land wird aber auch von Teilen der Linken angeheizt, etwa mit ihrer Bewunderung für János Kádár, den kommunistischen Diktator in der Zeit des Kalten Krieges, der für hundertfache Hinrichtungen und Tausende zerstörte Leben verantwortlich ist.

Nationale Werte

In Ungarn hat Individualität einen sehr hohen Stellenwert, aber gleichzeitig gibt es ein ausgesprochen geringes Bewusstsein für persönliche Verantwortung und ein außergewöhnlich großes Misstrauen anderen Menschen gegenüber. Zu den wenigen Eckpfeilern, auf die in diesem gesellschaftlichen Klima Verlass ist, gehört die Vermutung, dass der andere immer versuchen wird, einen über den Tisch zu ziehen − und dass es deshalb schlau ist, ihm zuvorzukommen. Das erzeugt eine ganz eigene Form von sozialem Druck, unter dem sich in Ungarn zwei kulturelle Idealtypen herausgebildet haben: der Betyár und sein verbürgerlichtes Pendant, der Husar. Beide führen andere zwar hinters Licht, schätzen aber nichts mehr als Loyalität; beide folgen einem eigenen Ehrenkodex und eigenen moralischen Regeln, stellen sich aber über das Gesetz.

Der Betyár ist eine Art Robin Hood der ungarischen Puszta: Er beraubt die Reichen und verteilt die Beute an die Armen. Betyáren gelten in Ungarn als Volkshelden, die die Mächtigen überlisten und für Gerechtigkeit sorgen, wo Unrecht herrscht. Bezeichnenderweise hat sich eine der extremsten Neonazigruppen in Ungarn den Namen Betyár-Armee gegeben. Das Symbol für die Husaren, die berühmte ungarische Truppengattung der Kavallerie, sind sieben Pflaumenbäume − zurückzuführen auf den geringen Besitz an Grund und Boden, gerade groß genug für sieben Pflaumenbäume. So genannt wird die niedrige Adelskaste, deren Privilegien auch ohne Besitz ausreichten, um einen schnellen Aufstieg in der militärischen Hierarchie sicherzustellen. Ihre Größe verdanken die Husaren also ihrem blauen Blut, nicht ihren Leistungen.

Die Staatsform der illiberalen Demokratie

In diesen beiden kulturellen Stereotypen ist vieles von dem enthalten, was sich als ungarische Mentalität bezeichnen ließe und was auch die prägende Grundhaltung im heutigen Ungarn ist. So gilt die Missachtung von Gesetzen allgemein als Zeichen von Esprit und Pfiffigkeit und stößt weithin auf Akzeptanz − oder andersherum gesagt: Regeln sind nur etwas für Deppen und die Unterschicht. Dem Staat ein Schnippchen zu schlagen (wie ein Betyár), ist demnach alles andere als ehrenrührig, schon gar nicht, wenn man sich dadurch persönliche Vorteile und Privilegien (wie ein Husar) zu verschaffen weiß. Vielmehr zollt einem die Öffentlichkeit dafür Anerkennung und deutet es als großen Erfolg. Das aristokratische Gehabe von Fidesz und Orbán beruht auf ihrem Überlegenheitsgefühl, als gebürtige Ungarn an kein Gesetz gebunden zu sein und ihren Ruf und ihre Wertschätzung nicht aus Arbeit und Verdiensten zu beziehen, kurz: Sie fühlen sich als Husaren und leben wie Betyáren. Individualismus und Misstrauen in Ungarn speisen sich aus diesen wirkmächtigen Klischees − und führen dazu, dass man auch vor dem Austricksen der eigenen Leute nicht haltmacht.

Sprache, Symbolik und Werte der Fidesz-Partei

Viktor Orbán und die Fidesz-Partei bedienen die Stereotypen des Betyár und Husaren gekonnt und heizen mit ihrer nationalkonservativen Sprache die Konflikte angesichts der Missstände im Land immer wieder aufs Neue an. Sie vertiefen die Spaltung der Gesellschaft und haben sich so eine Stammwählerschaft von rund zwei Millionen Stimmen gesichert. In der politischen Kommunikation schlagen Orbán und sein Beraterstab ganz neue Töne an, indem sie auf längst aus dem Gebrauch gekommene Begriffe und Redewendungen zurückgreifen, auf Themen und Gepflogenheiten aus den Dreißigerjahren. Wichtig sind dabei vor allem Motive wie die Größe der ungarischen Nation, Trianon, die ungarischen Aufstände und Freiheitskämpfe (gegen Wien oder Moskau und heutzutage Brüssel) sowie Andeutungen, dass die Feinde Ungarns zerstört gehören − Letzteres allerdings verklausuliert genug, damit es nicht justiziabel wird.

Seit Orbáns überwältigendem Wahlsieg 2010 ist der Konservatismus vom Orbánismus verschlungen worden. Orbán bezeichnete seinen Sieg als „Revolution an den Wahlurnen“, führte ein System des „nationalen Zusammenhalts“ ein, verpasst seinem Land die Staatsform der illiberalen Demokratie, er bewundert Putin, Erdoğan und Xi Jinping. Er vergleicht den von ihm in Gang gesetzten radikal illiberalen Erneuerungprozess mit Pornografie: „Niemand weiß, was das ist. Aber wenn man sie sieht, erkennt man sie“, erklärte er den Vergleich. Kritiker werden als Landesverräter gebrandmarkt, die eine faire Auseinandersetzung nicht verdient hätten und mit denen man früher oder später fertigwerden müsse. Einem Husaren, der in den Freiheitskampf zieht, muss jedes Mittel recht sein, solange es zum Sieg führt − weder Regeln noch moralische Gebote oder das Gesetz können ihn aufhalten. Obwohl die Rollen eigentlich so recht nicht zueinander passen mögen, mischen sich in Orbáns Husarentum auch Elemente des Betyárentums, des gerissenen Gauners, der die Bürokratie, in diesem Fall Brüssel, zu seinen Gunsten auszunutzen versteht und für den die Entwendung von Geld reine Ehrensache ist, Ausdruck revolutionärer Gesinnung sowie Demonstration der eigenen Überlegenheit. Sind Gesetze und Vorschriften nicht im „Interesse des ungarischen Volkes“, kann selbstredend jederzeit gegen sie verstoßen werden.

Weil lange weder die EU, die USA noch internationale Instanzen Orbán die Zusammenarbeit aufgekündigt haben, konnte sich seine illiberale Hassrhetorik in Windeseile verbreiten. Das verschafft ihm Spielraum, mal der EU einen Rechtsruck zu verpassen, mal politische Konflikte à la Putin einzufrieren. Erst unlängst ist die Europäische Volkspartei (EVP) in eine von Orbáns Fallen getappt: Vor der Abstimmung über den Verbleib der Fidesz-Partei in der EVP hatte Orbán noch damit gedroht, er werde im Falle einer Aussetzung der Mitgliedschaft in der EVP umgehend aus der Parteienfamilie austreten; nach der Suspendierung brüstete er sich dann damit, der Verzicht auf den Ausschluss der Orbán-Partei, „um den wir selbst gebeten haben“, bewahre die Einheit und sei ihm als Erfolg zuzuschreiben. In Ungarn witzelt man seitdem: „Um ein Haar hätte die EVP doch glatt ihren Platz in der Fidesz-Partei verloren.“ Die EVP hat Orbán den perfekten Aufschub verschafft, er kann in aller Ruhe das Ergebnis der Europawahlen abwarten. Bei einem Erstarken der rechten Parteien wird er die EVP umgehend verlassen und sich an die Spitze des rechten Lagers stellen; kommt es anders, kann er als Retter des Konservatismus mit wiedergewonnener Stärke im Parteienbündnis bleiben.

Jetzt destabilisiert Orbán die EVP von innen, sammelt Unterschriften für eine Volksabstimmung gegen Migration, wirbt dabei mit dem EVP-Logo, stellt den Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker und seinen Vize Frans Timmermans als linke Agenten einer erzwungenen Einwanderung hin, die christlich-konservative Werte zerstören wollten: Wenn er die EVP in Verräter und Rechtgläubige spalten kann, verändert er das Spielfeld. Die ganze Aufregung, für die er gesorgt hat, dient aber vor allem dem Zweck der Ablenkung. Denn sie verschafft ihm Gelegenheit, weiterhin ungestört öffentliche Gelder zu unterschlagen, seine Machtgier zu verschleiern und sich als Zufluchtsanker und Retter in der Not zu präsentieren.

Wie alles zusammenhängt

Es ist wichtig, Orbáns Verhalten nicht als eine Abfolge erratischer Einzelattacken oder von den jeweiligen Umständen geschuldete Ausrutschern zu deuten. Vielmehr hat das Ganze Methode. Das letzte Opfer war die Zentraleuropäische Universität, jetzt ist die Ungarische Akademie der Wissenschaften zur Zielscheibe geworden. Der Vernichtungsfeldzug startet gewöhnlich mit einer medialen Hetzkampagne mit dem Vorwurf des Landesverrats. Im Falle der Akademie der Wissenschaften ging es los mit einem Angriff auf die „abartigen Genderstudies“, an denen sich der verkommene Zustand der Geisteswissenschaften und die gesellschaftliche Wertlosigkeit der Grundlagenforschung in bestimmten Fächern zeigten. Schnell folgten einschneidende Maßnahmen aus der juristischen und budgetären Trickkiste, mit denen das Opfer handlungsunfähig gemacht wird − in diesem Fall wurde Geld eingefroren und die Akademie in eine staatliche Stiftung überführt. Gewöhnlich blähen dann prominente Fidesz-Politiker den Fall in der Öffentlichkeit bis in die komplexesten, unverständlichsten und wirrsten Details auf, so dass Außenstehende nichts mehr verstehen, aber jedem, der mit den Sachverhalten vertraut ist, angesichts der offensichtlichen Lügen die Gesprächsgrundlage geraubt wird.

Orbáns „Pfauentanz“

Unter dem Vorwand von Verhandlungen (die es allerdings im Falle der CEU gar nicht gab) wird dann das weitere Vorgehen so lange vertagt, bis die wenigen verbliebenen Reste der oppositionellen Medien das Interesse verloren haben und die breite Öffentlichkeit auf das Narrativ der Regierung in Grundzügen eingestimmt ist (in diesem Fall: Kein Mensch braucht Grundlagenforschung, die Geisteswissenschaften sind in den Händen extremistischer Linksliberaler, Genderstudies sind Brutstätten für Homosexualität, aber wenn die Regierung jetzt eingreift, gibt es nichts zu befürchten und alles kann bleiben wie gehabt). Wenige Monate später wird der ursprüngliche Plan dann unverändert, aber unter dem Deckmantel eines Kompromisses, in die Tat umgesetzt: Noch das kleinste Entgegenkommen des Opfers wird jetzt gegen es verwendet, die Protestlaute der müde gewordenen Presse und der verwirrten Öffentlichkeit versiegen allmählich und die Regierung posiert in der Rolle des Erlösers in einem Konflikt, den sie selbst vom Zaun gebrochen hat. Das Schicksal der ungarischen Akademie der Wissenschaften, der Bewahrerin des intellektuellen Kapitals des Landes, scheint besiegelt zu sein. Denn in der kommenden Fiskalperiode der EU sind vorrangig Mittel für Innovation und Forschung zu haben, also braucht Orbán eine Struktur unter seiner direkten Kontrolle, um die Finanzierung nach seinen Vorstellungen zu gestalten.

Erprobt wurde diese Methode von Orbán erstmals 2011 mit seinem Mediengesetz, das der Pressefreiheit in Ungarn − und der gesamten ungarischen Presse − den Garaus machte. Kaum lag der Entwurf vor, erhob sich ein lautstarker Chor unabhängiger Pressestimmen, um auf die Gefahren hinzuweisen, auf die vielen extra eingebauten Lücken und gezielt vage formulierten Regelungen, die, interpretiert von loyalen Gerichten, die Pressefreiheit verkrüppeln würden. Die Regierung tat das alles als üble Nachrede von links ab, als aus der Luft gegriffene Beschuldigungen, rief nach fairer Behandlung und inszenierte sich als unschuldiges Opfer. Die EU erstellte eine lange Liste von Bedenken. Die ungarische Reaktion darauf bestand in noch vageren Umformulierungen kritischer Passagen des Gesetzentwurfs und in dem Nachweis, dass der Entwurf keinen einzigen Paragrafen enthalte, den es dem Wortlaut nach nicht auch im Mediensystem irgendeines anderen europäischen Landes gebe. Die EU kam daraufhin zu dem Ergebnis, ihr seien die Hände gebunden und sie könne zur Verhinderung des Gesetzes nichts weiter unternehmen. Dann wohnte sie als Zuschauerin einem unwürdigen Spektakel bei, in dessen Verlauf die freie Presse in Ungarn vernichtet, oppositionelle Stimmen zum Schweigen gebracht, ein Monopol der öffentlichen Meinung errichtet und ein System staatlicher Fake-News etabliert wurde.

Das jüngste Beispiel für Orbáns „Pfauentanz“, wie er seine Politik gegenüber der EU gern bezeichnet, begann versteckt hinter der Vertreibung der CEU aus Ungarn, auf die Ende 2018 alle Augen gerichtet waren. Diesmal ging es ihm um die Zerstörung des letzten unabhängigen Rechtszweiges im ungarischen Staat. Orbán verhandelt derzeit mit der Venedig-Kommission des Europarats über den Wortlaut eines Gesetzesentwurfs, der die Schaffung eines separaten Gerichtshofs für alle die Regierung oder den Staat betreffenden Gerichtsverfahren vorsieht. Wie oben am Beispiel des Mediengesetzes gezeigt ist damit zu rechnen, dass Orbán den Forderungen der Kommission demnächst nachkommen wird. Das Ergebnis wird darin bestehen, dass er unter Rückgriff auf Gesetzesformulierungen, die einen breiten Interpretationsspielraum lassen, und auf ein paar loyale Beamte die formalen Voraussetzungen schaffen wird, um die Aufhebung der Gewaltenteilung durchzusetzen, wenn auch nicht auf Papier. Dass die Reaktionen in Form von Klagen, Prozessen und hochgezogenen Augenbrauen nicht lange auf sich warten werden lassen, ändert nichts daran, dass sich Orbán mit diesem Gesetz auf lange Sicht Immunität gesichert haben wird.

Was für eine Ironie, dass ausgerechnet die EVP und ihr Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU), über Jahre Steigbügelhalter Orbáns und Anfänger im Pfauentanz, den Verbleib der CEU in einem Land fordern, dessen Staatsapparat 2017 kaum eine Woche benötigte, um ihr den Rechtsstatus abzuerkennen. Und dessen Staatsapparat sich soeben daranmacht, Gerichte zu liquidieren, die bisher − zumindest auf dem Papier – unabhängig waren. Die EVP und Weber sind nicht die Einzigen, die den Verbleib der CEU in Ungarn gern gesehen hätten, aber die neue Rechtsform bietet dafür nicht die ausreichenden Sicherheiten. Schließlich hat Orbán mehr als einmal betont, die CEU habe es selbst darauf angelegt, das Land zu verlassen, sonst hätte sie keinen Hass gesät und sich an das Gesetz gehalten − wohlgemerkt an ein Gesetz, das noch gar nicht existierte! In Ungarn regiert nicht mehr das Recht, sondern die brutale, ungehinderte, demonstrative Macht, die es sich hinter der Fassade von staatlichen Institutionen, Marionettengerichten, einem Marionettenparlament und juristisch klingendem Kauderwelsch gut eingerichtet hat.

Innenpolitisch hat Orbán also nicht nur 2018 die Wahl mit überwältigender Mehrheit gewonnen, seine Macht und die Effizienz seiner Propagandamaschinerie unter Beweis stellen können, sondern er hat ein verstörendes Ausmaß an Angst, Hass und verbaler Aggression erzeugt. Obwohl weder seine Plakatkampagne gegen Soros noch seine Reden explizit antisemitisch sind, schwingen darin – im kulturellen Kontext der ungarischen Gesellschaft unüberhörbar – antisemitische Töne mit. Nach außen versteht Orbán es, sich als Freund des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und einer kleinen ungarischen chassidischen Gemeinde zu präsentieren. Aber er lässt keine Gelegenheit aus, seinen Anhängern unmissverständlich klarzumachen, wer der wahre Feind hinter den verabscheuten Linksliberalen oder der CEU ist, denen er vorwirft, den „ausländischen Interessen zu dienen“ und den „Soros-Plan“ in die Tat umzusetzen.

Die Zahlen sprechen für sich: Trotz der offiziell beteuerten „Nulltoleranz“ gegen Antisemitismus hat dieser sich seit 2002, als die Fidesz-Partei begann, rechtsextreme Parteien zu verschlucken, in Ungarn verdreifacht. Er schnellte 2010, als die Fidesz die Wahlen mit der für eine Verfassungsänderung erforderlichen absoluten Mehrheit gewann, in die Höhe – bevor Fidesz damit begann, so gut wie alles zu erfüllen, was Jobbik einst verprochen hatte. Der Antisemitismus liegt heute bei rund 30 Prozent, auch wenn sich nur 20 Prozent der Bevölkerung offen zu Judenhass bekennen. Orbán weitet also nicht nur die antisemitische Erzählung auf Flüchtlinge, Linksliberale oder politische Gegner aller Couleur aus, er verantwortet auch einen signifikanten Anstieg des Antisemitismus in der ungarischen Bevölkerung. Auch gegen jeden, der es wagt, ihm Antisemitismus vorzuwerfen, bedient Orbán sich dieser antisemitischen Klischees. Europäische und internationale Instanzen sehen dann lieber weg, was nur dazu beiträgt, ihm innenpolitisch ein noch größeres Ansehen zu verschaffen.

Ein Ausweg für Europa

Unter der sexy Oberfläche der scheinbar weltoffenen Stadt Budapest liegen die verunstalteten Überreste einer verbluteten Demokratie. Selbst wenn Orbán morgen aus dem Amt gejagt würde, würden zwei bis drei Generationen vergehen, bis das Ungarn, das ich und Angehörige meiner Generation noch kennen, wieder zum Leben erweckt werden könnte. Der verheerende Schaden, den Orbán in den staatlichen Institutionen, im Bildungs- und im Gesundheitssystem angerichtet hat, im kulturellen Leben des Landes, in den Theatern, in der Literatur, Kunst, Wissenschaft und Forschung, mag sich in ferner Zukunft wiedergutmachen lassen. Aber der Hass, der Rassismus, der zerstörte soziale Zusammenhalt und das selbstbesoffene, anmaßende Ganoventum, das sich soziale Akzeptanz verschafft hat − all das wird für die Dauer unseres Lebens nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein. Meine Botschaft lautet daher: Ungarn ist verloren. Aber die EU und die meisten ihrer Mitgliedsstaaten könnten sich noch retten.

Von Grund auf wiederaufbauen

Sind die ungarischen Wählerinnen und Wähler verantwortlich für die Situation in Ungarn? Schon, schließlich kam Orbán 2010 durch legale Wahlen an die Macht (auch wenn es bei den Wahlen 2014 und 2018 nachweisbar zu Manipulationen gekommen ist). Wäre Ungarn ohne einen Beitritt zur EU in den Abgrund gestürzt, in dem es sich heute befindet? Wohl kaum. Der ungarische Staat fußt zu großen Teilen auf EU-Fördermitteln, einer Handvoll deutscher Unternehmen und darauf, dass die Grenzen für Andersdenkende offen sind.

Die EU hätte der parlamentarischen Demokratie, Kultur und Gesellschaft in Ungarn zum rechten Zeitpunkt einen großen Dienst erweisen können, etwa indem sie die Mittel gestrichen hätte. Gelegenheiten dazu hätte es gegeben: 2011, als die Pressefreiheit abgeschafft wurde, oder spätestens 2012, als die Menschenrechte aus der Verfassung gestrichen wurden. Die EU entschied sich dagegen, mit der Begründung, es wäre eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates, würde vor allem der ungarischen Bevölkerung schaden und schüre antieuropäische Ressentiments. Schließlich sei Orbán in freien Wahlen an die Macht gekommen und vertrete den Willen der Wählerschaft.

Ironischerweise ist es Orbán selbst, der der ungarischen Bevölkerung Schaden zufügt, antieuropäische Ressentiments schürt und zu allem Überfluss die Schuld dafür der EU in die Schuhe schiebt, die für ihn eine Marionette der jüdischen Weltverschwörung ist. Dass die EU Orbáns Behauptung, die Interessen des ungarischen Volkes seien identisch mit seinen Interessen, auf den Leim gegangen ist, hat Ungarn also weit mehr gekostet als nur Geld. Hätte man Orbán in der EU geächtet, wäre er womöglich sehr schnell zum Proeuropäer geworden. Und obwohl ein wirtschaftlicher Kollaps des Landes gewiss extrem schmerzhaft gewesen wäre, hätten die staatlichen Institutionen ihn doch zumindest überlebt – und so wäre ein Neuanfang möglich gewesen. Aber es ist anders gekommen und man müsste in Ungarn ganz von vorn anfangen. Zwar taumelt die Ökonomie noch vor sich hin, aber alles andere liegt brach. Das Land muss von Grund auf wiederaufgebaut werden: Seine Institutionen, sein Rechtssystem, die Gesellschafts-, Kooperations- und Kommunikationsstrukturen sind ein einziges Trümmerfeld und das Know-how wurde aus dem Land vertrieben oder in den Ruhestand gedrängt.

Inzwischen ist es zu spät, als dass Geldkürzungen der EU noch etwas ausrichten könnten. Denn das Herrschaftssystem Orbán kann jetzt auch mit weniger Ressourcen auskommen und funktionieren – vor allem, wenn er mit der deutschen Industrie auch außerhalb der EU einen Deal schließen kann. Einen Kurswechsel durch die Opposition hätte Orbán auch ohne Finanzspritzen aus der EU nicht zu befürchten, denn juristische Mittel und die Macht der Gerichte sind ausgehebelt. Ein breiter Bewusstseinswandel ist angesichts des von ihm etablierten Meinungsmonopols ebenfalls kaum zu erwarten. Und so siecht Ungarn seinem Zerfall entgegen − nur Bulgarien hat von allen Ländern in der EU einen noch niedrigeren Lebensstandard.

Trotzdem könnte es helfen, wenn die EU zumindest mit diesem Szenario droht. Immerhin würde ihr das ermöglichen, Kontrolle über die Geldflüsse zu erlangen. Sie könnte eine in Ungarn mit einheimischen Beamten besetzte EU-Behörde mit Zuständigkeit für Finanzkontrolle und Mittelvergabe etablieren sowie einen dort ansässigen EU-Gerichtshof, der dafür sorgt, dass Ungarn sich an EU-Verfassungsrecht hält. Und nicht zuletzt könnte sie einen freien Fernseh- und Radiosender einrichten, um die Bevölkerung mit unabhängiger Berichterstattung über Ungarn zu versorgen. Dies wäre immerhin ein kleiner Beitrag der EU, um den Ungarn dabei zu helfen, den Schaden für das Land zu verringern, den sie selbst mit angerichtet hat.

Noch besser wäre es, damit aufzuhören, Ungarn weiterhin für eine Demokratie zu halten, und stattdessen nach Beweisen zu suchen, dass es keine Diktatur ist. Die EU-Instanzen und die einzelnen Mitgliedsstaaten halten an ihrer Überzeugung fest, eine Demokratie könne sich selbst verteidigen. Dabei ist längst offensichtlich, dass es keine schwächere Staatsform als die Demokratie gibt, in der sich jeder um ein politisches Amt bewerben kann. Zwar ist diese Schwäche der Demokratie zugleich ihre große Stärke, denn sie ermöglicht relativ schnell Eigenkorrekturen im System. Aber ob und wann eine Demokratie an dem Punkt angelangt ist, an dem ihre Selbstzerstörung beginnt, zeigt erst der historische Rückblick.

Es ist Zeit, sich auf die guten Vorbilder zu berufen und zu lernen, wie Widerstand geht, wie man für Aufklärung, Menschenrechte, Selbstbestimmung, parlamentarische Debatten und internationale Kooperation kämpft. Es ist Zeit, machthungrige, blutdurstige, autoritäre Herrscher ernst zu nehmen, statt diplomatische Gespräche über Menschenrechte zu führen, als wären diese Themen als politische Fragen verhandelbar. In weiten Teilen der EU haben Rechtsradikale den Diskurs bereits an sich gerissen; aber noch ist die Mehrheit für ein Europa, das vereint ist, tolerant und auf Kooperation basiert. Noch.

Aus dem Englischen übersetzt von Anne Vonderstein

 

 

Apr. 2019 | Allgemein, Essay, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren

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