Streaming, das – eigentlich für das glückliche Finale im digitalen Umbruch des Musikmarktes sorgen wollte und sollte, schluckt immer mehr Musik und Musiker. Wer eine Existenz auf Klänge und Rhythmen bauen oder gar ins Rampenlicht der Szene vorstossen mag, kommt an Streaming-Plattformen schon lange nicht mehr vorbei.

Die Honorierung gestreamter Werke und Titel mag dürftig, ja erbärmlich sein. Zudem geht nun auch eine Informations-Kultur verloren, die physische Tonträger dank Cover-Art, Credits und Liner-Notes ermöglichten. Streaming-Dienste aber haben sich als Gatekeeper des Musikbusiness etabliert. Und sie haben die Macht, die Aufmerksamkeit der Musikkonsumenten zu dirigieren.

Playlists

Der Mainstream ist jetzt ein Main-Stream. Als wichtigstes Tool erweisen sich dabei die Playlists. Es handelt sich um kuratierte oder algorithmisch eruierte Repertoires, die mit den Leseempfehlungen einer unübersichtlichen Bibliothek zu vergleichen sind; oder mit thematisch ausgerichteten Sälen eines Museums, das nur Teile seiner gigantischen Bestände ausstellt.

So präsentieren Playlists zum Beispiel neue Hits oder Klassiker eines Stils. Oder sie ergänzen mit Empfehlungen die Vorlieben ihrer Klienten, die diese durch ihre Streaming-Präferenzen bereits haben erkennen lassen. In der neuen Playlist-Kultur geben allerdings Repertoires den Ton an, in denen Musik kein Selbstzweck ist, sondern ein Mittel. Songs fügen sich hier in einen Soundtrack, der kein konzentriertes Zuhören verlangt, sondern sich diskret in den Alltag fügt – als Untermalung von Gemütslagen und Jahreszeiten, als Background zu Meditation, Work-out oder Wellness.

Musiker, die es nicht auf die beliebten Playlists schaffen mit ihren Titeln, drohen in Vergessenheit zu geraten. Aber auch wer auf einer Playlist figuriert, die so nützlich und vergnüglich sein mag für die Hörerschaft, sieht seinen Status als Künstler in Gefahr. In der möglichst fugenlosen Montage der Musik verlieren die einzelnen Stücke ihre Eigenständigkeit; und die Namen der Urheber werden ignoriert. Wer aber im Streaming-Katalog nicht selber eine gewisse Nachfrage generiert, hat weniger Chancen, für weitere Playlists berücksichtigt zu werden.

Musik als Convenient-Produkt

Erfolg im Streaming basiert immer weniger auf künstlerischer Originalität und Eigenständigkeit als auf einem Sinn für Streaming-affine Sounds. Tatsächlich kristallisieren sich im unmittelbaren Austausch von Angebot und Nachfrage der Streaming-Dienste besonders beliebte Muster heraus. Bei Spotify ist die Nachfrage nach therapeutischen Playlists wie «Chill Hits», «Winter Chillout» oder «Atmospheric Calm» gross. Diese beruhigen gestresste Zeitgenossen durch eine sedierende Menufolge von Songs, deren elegischer Tonfall das Gemüt massiert, die Aufmerksamkeit aber nicht zu sehr in Anspruch nimmt.

Spotify hat dafür eine Reihe von Sängerinnen ausgemacht, die das lässige Phlegma einer Lana Del Rey, die lakonische Poesie einer Billie Eilish mit kühl plätscherndem Elektro-Pop verbinden. Ihre Songs werden millionenfach gestreamt, ihre Namen aber (Charlotte Lawrence, Sasha Sloan, Nina Nesbitt, Ella Vos, Exes) kennt man kaum. Die «New York Times» hat für diese Musik eine Bezeichnung geprägt: «Spotifycore». Spotify selber ist also die Message. Und es dürfte eine Frage der Zeit sein, bis der Streaming-Dienst entsprechende Convenient-Tracks direkt in Bestellung gibt bei geeigneten Produzenten; oder er lässt sie gemäss algorithmischen Rezepturen mit Musiksoftware errechnen.

So frisst sich im Zeichen von Streaming immer mehr Anonymität in die Pop-Szene hinein. Ein Schatten legt sich über eine Welt, in der sonst Kameras und Scheinwerfer regieren. Denn was hat Pop bisher von älteren Populärkulturen unterschieden? Wahrscheinlich doch die Stars. Während sich volksmusikalische Talente vorab im Kreise eines gemeinschaftlichen, gegen aussen hin anonymen Musizierens profilierten – Tante Klara jodelte virtuos, und der Müller Hans handorgelt wie sonst keiner im Tal –, feiert Pop Idole, deren Glamour weit über die Grenzen traditioneller Gemeinschaften hinausstrahlt. Das Publikum aber, die Fans, sie schmachten im Dunkeln und träumen von fünfzehn Minuten eigener Berühmtheit.

 

Allerdings sollte man sich nicht blenden lassen vom gleissenden Schein. In der Finsternis wirkten seit je anonyme Kräfte, die Pop kaum weniger beeinflussten als Diven und Kings. So steht im Schatten fast jeder poppigen Lichtgestalt eine Armada von Helfern und Helfershelfern aus Produzenten und Promotern, Komponisten und Instrumentalisten. Die aufwendige Produktion von Pop-Musik erinnert insofern ans Kino, wo im Abspann Myriaden von Namen aufscheinen, die sich kaum jemand merken kann. Ein Beispiel für anonyme Produktivkraft waren die Funk Brothers von Motown Records in Detroit oder die Wrecking Crew im Kalifornien der sechziger Jahre – virtuose Studiomusiker, die Stile und Spielarten geprägt und für Stars Hunderte von Hits eingespielt haben, ohne dass ihre Namen je erwähnt worden wären auf Albumcovers.

Mehr noch als solchen grauen Eminenzen verdankt Pop seinen Erfolg freilich dem Zuspruch des Publikums. Und wenn ein Musiker seine Berühmtheit zu festigen gewillt ist, wird er seinen Namen weiter und weiter in die Öffentlichkeit hinaustragen. Die anonyme Masse prägt hier den Geschmack, und sie lässt sich nur bedingt verführen von eigenwilligen Künstlern oder avantgardistischen Eliten. Vielmehr bestimmt sie Markt und Kultur durch ihre eigenen musikalischen Bedürfnisse.

Medien als Durchlauferhitzer

Fans mit ihrer Expertise und Leidenschaft mögen Trends und Subkulturen prägen. Die Charts jedoch werden von einer durchmischten, immer älteren Hörerschaft bestimmt, die im Leben anderes zu tun hat, als sich mit Musikern und Stilen auseinanderzusetzen. Deshalb gab sie sich früher schon mit Orientierung stiftenden Repertoires zufrieden – mit Hitparaden oder mit den computergesteuerten Programmen des Formatradios. Heute aber hilft ihr Spotify mit Playlists durch ein erdrückendes Angebot von bereits 40 Millionen Titeln.

Seit je fungieren Massenmedien als Durchlauferhitzer für Pop-Karrieren. Und so überrascht es kaum, dass Internet und neue soziale Netzwerke den Wucher der Prominenz beschleunigt haben. Presse, Radio und Musikfernsehen konnten das Profil der Stars noch schärfen – durch die kuratorische Macht der Kritik und Auswahl. Im Zeichen von Instagram, Youtube und Spotify hingegen greifen die alten Mechanismen von Selektion und Promotion nicht mehr.

So stehen sich die Stars im Dichtestress des heutigen Musikbusiness gegenseitig vor dem Licht. Im Angebot der Streaming-Dienste bilden sie eine amorphe Population, deren schieres Ausmass inflationäre Auswirkungen auf den Star-Kult an sich haben muss. Wer heute an all die Pop-Stars denkt, sieht ein Firmament über sich, an dem Abertausende von Sternchen funkeln – je länger man hinschaut, desto mehr werden es. Von den wenigsten weiss man auch die Namen. Um das Überleben grosser Stars muss man sich freilich keine Sorgen machen. Musikbusiness und Streaming-Dienste kommen ohne den Motor des Personenkultes nicht aus. Aber es scheint, dass die Schwelle zu allgemeiner, internationaler Popularität steigt; gleichzeitig verflacht das Gefälle zwischen Künstlern und Publikum.

Fame für alle

So empfängt die Pop-Kultur nun einerseits immer mehr Impulse aus der Schattenwelt der Anonymität. In der realen Welt beweist das die Allgegenwart von Graffiti oder Street-Art. Und durchs Internet schwirren millionenfach die sogenannten Memes – Bilder, Texte, Videos, deren Urheber so wenig bekannt sind wie die Autoren von Witzen und Anekdoten.

Andrerseits werden Fame und Glamour fortan demokratischer verteilt. Schon Andy Warhol hat seinen Zeitgenossen bekanntlich je eine Viertelstunde Weltberühmtheit versprochen. In Social Media aber kann sich jeder ein Leben lang als Star in Szene setzen. Allerdings bleibt die Wirkung in der Regel auf die biedere Intimität einer Bubble beschränkt, in der sich Öffentlichkeit und Privatsphäre überlagern. Deshalb wurde Warhols Statement unterdessen umformuliert: «On the web, everyone will be famous to fifteen people.» So scheint die poppige Selbstinszenierung nun an eine Art postfamiliäre Sippschaft adressiert. Bringt zuletzt ausgerechnet das World Wide Web eine neue, egalitäre Volkskultur hervor?

Apr. 2019 | €uropa | Kommentieren