So muss das durchaus formuliert werden dürfen: Michael Jackson war und ist einer der sagenumwobensten Musiker der Popgeschichte. Er war der Mann mit dem Moonwalk, er machte schwarze Tanzstile zum Mainstream. Er überschritt kulturelle Grenzen und, er war weder schwarz noch weiß. Er, der immer ein Kind bleiben wollte, gründete eine Stiftung für Not leidende Kinder und sang Lieder davon, wie er die Welt und seine „Peter Pan Neverland-Ranch“ zu einem besseren Ort machen könnte: Er würde mit dem Mann im Spiegel beginnen. Wenn dann aber dieses Spiegelbild einen Kinderschänder zeigte? Und was, wenn die Ranch sein Werkzeug gewesen wäre?
In der vierstündigen Dokumentation Leaving Neverland des britischen Regisseurs Dan Reed (The Paedophile Hunter), die am 3. und 4. März auf dem US-amerikanischen Bezahlsender HBO ausgestrahlt wurde, sprechen Wade Robson und James Safechuck sehr schmerzlich und glaubhaft darüber, dass sie als Jungen von Michael Jackson jahrelang sexuell missbraucht wurden. So viel ist klar: Niemand möchte, dass dieser Film existiert. Die Familie Jacksons, die nicht in der Doku auftritt, hat ihn als „öffentliches Lynchen“ bezeichnet. Michael Jackson kann sich schließlich nicht mehr wehren. Die Nachlassverwalter, die seit Jacksons Tod 2009 Milliarden verdient haben, wollten die Ausstrahlung auf HBO verhindern und fordern nun einen Schadenersatz von mehr als 100 Millionen US-Dollar.
Die zweiteilige Dokumentation beginnt relativ harmlos, beinahe erbaulich. Robson und Safechuck erzählen, wie sie in Michael Jacksons Orbit gelangten. Er war die Sonne und die Jungen waren seine Planeten. Der heute 41-jährige James Safechuck lernte Jackson 1987 kennen, als er im Alter von etwa zehn Jahren mit dem Sänger in einem Werbespot auftrat. Jackson lud ihn und seine Familie in sein Haus nach Kalifornien ein, die Bindungen wurden enger. „Er war wie mein Sohn“, sagt Safechucks Mutter über Jackson, „ich habe sogar seine Kleider gewaschen.“
Gemeinsames Duschen wurde Routine.
War da aber noch was?
Der Australier Wade Robson, inzwischen 36, war fünf Jahre alt, als er Jackson zum ersten Mal traf. Er hatte einen Tanzwettbewerb gewonnen, dessen Preis in einem Treffen mit dem Superstar bestand. Als er sieben Jahre alt war, zog der heutige Choreograf mit seiner Mutter und seiner Schwester nach Los Angeles, um in der Nähe von Jackson sein zu können, der seine Tanzkarriere förderte.
Beide, Robson und Safechuck, waren was man im Amerikanischen als starstruck bezeichnet: von Anfang an von dem Superstar begeistert. Die Jungen wurden Teil von Jacksons Leben und er wurde schnell Teil des Lebens ihrer Familien. Alle reisten auf das kitschige Anwesen, das Jackson nach dem Kinderbuchklassiker Peter Pan Neverland-Ranch benannt hatte. Dort, so berichten die Männer, hätten sie in Jacksons Zimmer geschlafen, es sei zu sexuellen Spielen gekommen. Unbemerkt, auch weil der Flur, der zu Jacksons Schlafzimmer führte, stark gesichert und so verkabelt gewesen sei, dass die Schritte von jedem, der sich näherte, eine Glocke ausgelöst hätten.
Gemeinsames Duschen, Fummeln und Oralsex seien zur Routine geworden. In einer Szene beschreibt Robson, wie er nackt und auf allen Vieren auf eine Peter-Pan-Figur aus Pappe guckte, während Michael Jackson masturbiert habe. Safechuck beschreibt die Ranch detailliert: das Kino, den Game Room, das „Schloss“, die Modellbahnstation, den Swimmingpool. „Wir hatten dort Sex“, sagt er ruhig. An jedem Ort. Jeden Tag. „Es hört sich krank an, aber es war, wie wenn Sie zum ersten Mal mit jemandem ausgehen – Sie haben viel davon.“ Jackson habe sogar eine geheime „Hochzeit“ inszeniert, sagt Safechuck, er habe ihm einen Diamantring geschenkt. Er hält ihn in die Kamera. Der Ring ist so klein, dass er nicht über seinen Finger passt. Ein tieftrauriges Bild.
Leaving Neverland wurde im Januar auf dem Sundance Film Festival uraufgeführt. Seitdem wird der Film in den USA zunehmend kontrovers diskutiert. In den vergangenen 17 Monaten haben viele Amerikaner gelernt, die Erzählungen von Missbrauchsüberlebenden ernster zu nehmen als zuvor. Aber keiner kann Michael Jackson aus der popkulturellen Geschichte löschen, wie Ridley Scott Kevin Spacey aus seinem Film Alles Geld der Welt geschnitten hat.
Es stellt sich auch die Frage, wie sinnvoll das wäre. „Michael Jacksons Musik ist keine Mahlzeit; sie ist elementarer als das“, schreibt Wesley Morris in der New York Times. „Sie ist das Salz, der Pfeffer, das Olivenöl und die Butter. Seine Musik ist, womit alles beginnt. Und die Musik, die daraus entstanden ist – diese Musik ist auch überall. Wo würde das Tilgen anfangen?“
Jacksons Fans sehen in Leaving Neverland nur einen weiteren Versuch, den missverstandenen Künstler zu diskreditieren. Sie glauben inbrünstig daran, dass Jackson seiner Kindheit beraubt wurde (was ja auch stimmt) und er deshalb sein Leben selbstlos anderen Kindern widmete. Ihre Erinnerungen sind mit Jacksons Musik verwoben, und wenn die hässlichen Anschuldigungen wahr sind, dann ist das Fundament ihres Glaubens erschüttert.
„Ich habe Michael geliebt, Michael hat mich geliebt“
Tatsächlich heißt es in der Klage gegen HBO, dass der Film von Michael Jacksons Erfolg profitieren wolle. Leaving Neverland sei kein Dokumentarfilm, sondern vielmehr „die Art von Boulevardattentat, die Michael Jackson im Leben und jetzt im Tod erdulden muss“, hieß es in einer Erklärung der Nachlassverwalter im Januar. In ihrer Klageschrift argumentierten sie, HBO verstoße gegen eine Abmachung, den verstorbenen Künstler nicht zu verunglimpfen. Demnach hatte HBO 1992 im Zuge der Übertragung eines Jackson-Konzerts in Bukarest eine Vereinbarung unterzeichnet, wonach der Sender nichts tun dürfe, was Jacksons Ruf schaden könnte. Mit der Ausstrahlung der Dokumentation werde diese Vereinbarung verletzt.
Es ist indes nicht das erste Mal, dass dem verstorbenen Musiker vorgeworfen wird, Jungen missbraucht zu haben. Die zweite Hälfte der Dokumentation beginnt mit dem Prozess gegen Jackson von 1993. Damals behauptete der 13-jährige Jordan Chandler, der Sänger habe ihn missbraucht, als er auf der Neverland-Ranch war. Die Klage wurde außergerichtlich beigelegt. 2005 wurde Jackson von ähnlichen Vorwürfen in einem Strafverfahren freigesprochen – Womit der 46-jährige Jackson einer Haftstrafe entging, die ihn fast zwanzig Jahre seines Lebens hätten kosten können. Zeugen wie ehemalige Hausangestellte auf der Neverland-Ranch, Freunde wie Schauspieler Macaulay Culkin oder seine Exfrau Debbie Rowe unterstützten die Verteidigung Jacksons durch ihre entlastenden Aussagen. Michael Jackson selbst sagte auf Anraten seines Anwalts nicht vor dem Gericht im kalifornischen Santa Monica aus. Dazu hatte auch der Dokumentarfilm Living with Michael Jackson aus dem Jahr 2003 beigetragen, darin hielt der Sänger die Hand des zwölfjährigen Gavin Arvizo und erzählte, dass er sein Bett gerne mit Kindern teile.
In beiden Gerichtsverfahren sagten Robson und Safechuck für Jackson aus. Später litten sie allerdings unter starken Depressionen und inzwischen sind sie selbst Väter. Dies, und auch die #MeToo-Bewegung, habe sie dazu ermutigt, schließlich die Wahrheit zu sagen. Wenn die beiden missbraucht wurden, ist es in der Tat verständlich, warum sie diese Erinnerungen zunächst begraben wollten. „Ich war begeistert von der Idee, ihn verteidigen zu können, ihn retten zu können“, sagt Robson über seine erste Zeugenaussage. Damals war er elf Jahre alt. Er sagt auch, dass er seine Erfahrung lange nicht als Missbrauch verstanden habe. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich verletzt wurde, dass mir etwas Schlimmes passiert ist“, sagt er. „Ich habe Michael geliebt, Michael hat mich geliebt.“ Und beiden Männern brach das Herz, als Michael Jackson sie durch einen anderen, jüngeren Jungen ersetzte, durch Macaulay Culkin und Brett Barnes. Diese beiden sagen übrigens, sie hätten keinerlei sexuellen Kontakt mit Michael Jackson gehabt.
Warum ließen die Eltern das zu?
In dem Dokumentarfilm wird deutlich, dass auch Robson und Safechuck sich wünschen, dass es nie dazu gekommen wäre. Ihre Mütter, ihre Ehefrauen oder andere Familienmitglieder, die zu Wort kommen, um ausführlich über die Verstrickung ihrer Familien mit Jackson zu sprechen, fühlen sich von Jackson verraten, den sie für einen Freund oder ein Familienmitglied hielten. Vor einigen Jahren erhoben beide Männer Klagen gegen den Nachlass, die aufgrund von Verjährungsfristen jedoch abgewiesen wurden.
Warum alle Eltern einwilligten, ihre Kinder mit einem Mann allein zu lassen, den sie nicht wirklich kannten – ganz zu schweigen davon, dass sie ihre Söhne unbeaufsichtigt im selben Raum mit dem Mann schliefen ließen –, ist eine Frage, die Leaving Neverland immer wieder aufwirft. Die Antwort scheint schlicht darin zu bestehen, dass Jackson eben selbst auch kindlich, gutherzig und großzügig war. Familienangehörige wurden mit Geschenken, Reisen und anderen Dinge überhäuft. Safechucks Eltern bekamen sogar ein Haus. Und natürlich war der Mann nicht irgendwer: Er war Michael Jackson, der King of Pop.
Nach vier Stunden, wenn der Abspann rollt, ist es fast unmöglich, sich nicht betroffen zu fühlen, so kraftvoll und belastend sind die Berichte, die der Regisseur Dan Reed hier vorlegt. Man kann hinterher schwerlich so tun, als hätte man den Film nicht gesehen. Gleichzeitig schwillt das Gemurmel jener Menschen an, die sich den Film nicht ansehen wollen, damit sie Jacksons Musik ein bisschen länger ungestört genießen können.
Nach der Ausstrahlung des zweiten Teils der Dokumentation am Montag folgt sogar noch eine Sondersendung mit der Talkmasterin Oprah Winfrey, die sich mit den Beteiligten für ein Interview zusammensetzte. Sie hat sich bereits auf einen Social-Media-Shitstorm gefasst gemacht. „Ich weiß, dass Menschen auf der ganzen Welt in Aufruhr geraten werden und darüber debattieren, ob Michael Jackson diese Dinge getan hat oder nicht, ob diese beiden Männer lügen“, sagte sie. „Aber für mich transzendiert dieser Moment Michael Jackson. Er ist größer als eine Person.“
Die etwas selbstmitleidige Frage, die man sich nun stellen mag, lautet: Was machen wir jetzt mit der Musik, die uns der Sänger hinterlassen hat? Der Guardian titelte ganz unverblümt: „Können wir noch Michael Jackson hören?“ Die Antworten der Redakteure fallen unterschiedlich aus. Vielleicht ist es in Ordnung, seine Musik auch weiterhin zu hören, schreibt der Popkritiker Alexis Petridis, „solange sie uns daran erinnert, dass große Kunst von schrecklichen Menschen gemacht werden kann“. „Die Trennung von Mensch und Musik ist schwierig, wenn die Leistung dieses Mannes einem kulturellen Phänomen gleichkommt“, betont die Tanzkritikerin Lyndsey Winship, aber „es muss möglich sein, die Person zu verurteilen, sogar seine Platten wegzulegen, ohne sich des Einflusses seiner Musik auf uns, der guten Dinge, die er inspiriert hat, und der Karrieren, die er inspiriert hat, zu schämen“. Die erste Reaktion ihres Kollegen Priya Elans bestand aber genau darin: Jacksons Album Off the Wall in den Mülleimer zu werfen. Stephanie Zacharek schreibt dazu im TIME Magazine: „Jacksons Tragödie ist von solch komplexer Art, eine, die verlangt, dass wir das Leid derer, denen er Schaden zugefügt hat, genauso hochhalten wie die Freude, die er uns gebracht hat. Das ist eine knifflige, fast unmögliche Umarmung.“
Dennoch bleibt die wichtigere Frage als die nach den Fans jene Frage, was all dies mit dem Leben der betroffenen Menschen angerichtet hat. Die Scham und Verwirrung, die Überlebende von sexuellem Missbrauch erleiden, sind oft bodenlos. Leaving Neverland ist nicht schlüpfrig oder reißerisch. Die Männer ringen oft schmerzlich nach Worten für etwas, wofür sie noch keine Worte haben.
Die Dokumentation wartet nicht mit neuen Beweisen auf. Wie andere aktuelle Filme, die sich eher auf die mutmaßlichen Opfer konzentrieren wie Surviving R. Kelly und Untouchable (der Sundance-Dokumentarfilm über Harvey Weinstein), ist auch Leaving Neverland vor allem eine Anklage gegen eine Kultur, die sich von Prominenten so sehr blenden lässt, dass sie dabei die Würde der einfachen Menschen aus den Augen verliert. Es ist, dies zumndest, ein zutiefst bewegender Überlebensbericht.