Vor 100 Jahren hielt Max Weber seine berühmte Rede – Ein Rollenmodell für amtierende Politiker ist sie nicht. Der Heidelberger Soziologe wollte einfach zu viel, auch Richard von Weizsäcker hatte von Berufspolitikern keine hohe Meinung. In der Regel sei er  nicht Fachmann, sondern „ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft“. Der erste Präsident der Bundesrepublik, Theodor Heuss, dachte ähnlich, machte aber einen Vorschlag, wie Berufspolitiker Selbstkritik üben und sich vor Überheblichkeit schützen konnten: Sie sollten Max Webers Rede „Politik als Beruf“ lesen.

Max Weber hatte diese Rede am 28. Januar 1919 in einer Münchner Buchhandlung gehalten – mitten im „Revolutionswinter“, in einer Zeit des politischen Tumults, als Deutschland versuchte, nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs zur Normalität des Friedens zurückzufinden. Wenige Tage zuvor war in Berlin der „Spartakus-Aufstand“ niedergeschlagen, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht waren ermordet worden.

In einer von bayerischen Studenten organisierten Vortragsreihe „Geistige Arbeit als Beruf“ hatte Max Weber bereits im November 1917 eine Rede zum Thema „Wissenschaft als Beruf“ gehalten. Die Wirkung auf die Studenten war überwältigend gewesen, Weber wurde für sie zum „Praeceptor Germaniae“. Als er 1919 gebeten wurde, über „Politik als Beruf“ zu sprechen, zögerte Max Weber, „niemand sei weniger berufen als er, über den Beruf des Politikers zu reden“. Koketterie! – denn der Professor der Nationalökonomie und Soziologie wäre beinahe Berufspolitiker geworden. Ende Dezember 1918 war Webers Kandidatur für die Nationalversammlung gescheitert. Erst als die Studenten drohten, den bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner einzuladen, den Weber als Gesinnungspolitiker ohne Augenmaß verachtete, sagte er zu. Das Interesse an seinem Vortrag war groß, wie Theodor Heuss schrieb, musste man Max Weber, „die Sensation der Universität“, einmal gesehen und gehört haben.

Der Übergang von der parlamentarischen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie war mühsam und konfliktgeladen. „Politik als Beruf“ ist ein eindrucksvolles Zeugnis für den Versuch, diesem Übergang intellektuelle Legitimität und emotionalen Zuspruch zu verleihen. Zusammen mit der Wissenschaftsrede gehört „Politik als Beruf“ zu den am meisten zitierten, immer wieder neu aufgelegten Texten Max Webers.

Zur Enttäuschung vieler Studenten hatte sich Weber geweigert, zu aktuellen Tagesfragen Stellung zu nehmen. In Teilen war seine Rede eine Vorlesung in Staatsbürgerkunde, die dank Webers Neigung zu peniblen Definitionen etwas pedantisch wirkte. Je länger er aber sprach, desto engagierter wurde er, und nie ist das Plädoyer für Nüchternheit in der Politik mit größerem Enthusiasmus vorgetragen worden. Von der Rede Webers bleiben vier Themengruppen in Erinnerung: die Typologie traditionaler, legaler und charismatischer Herrschaft, die Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, die Zuschreibung von Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß als die für den Politiker entscheidenden Eigenschaften und schließlich die Definition der Politik als „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“. Daraus wurde ein Gemeinplatz des Redens über Politik; Alexander Kluge hat ihm 2011 in seinem Buch „Das Bohren harter Bretter. 133 politische Geschichten“ eine ironische Reverenz erwiesen.

Überwölbt aber wird alles von Max Webers Faszination durch den politischen Führer, der seine Legitimation dem persönlichen Charisma verdankt und dem seine Jünger sich nicht „kraft Sitte oder Satzung fügen, sondern weil sie an ihn glauben“. Das Personal charismatischer Politiker wird dabei normativ-ethisch nicht eingeengt. Magier und Propheten gehören ebenso dazu wie Kriegshelden und Bandenchefs, „ganz große Demagogen“, Condottiere und mitreißende Parlamentarier. Auch in der „Volksherrschaft“ hat der Charismatiker seinen Platz, die Demokratie wird durch ihn geradezu geadelt. Als Ludendorff, dem Weber eine Mitschuld an der Niederlage im Ersten Weltkrieg gegeben hatte, seinerseits Weber für die Revolutionswirren mitverantwortlich machte und ihn als „Demokraten“ beschimpfte, entgegnete Weber: „Glauben Sie denn, dass ich die Schweinerei, die wir jetzt haben, für Demokratie halte?“ Und dann definierte er „Demokratie“: „In der Demokratie wählt das Volk seinen Führer, dem es vertraut. Dann sagt der Gewählte: ‚Nun haltet den Mund und pariert.‘ Volk und Parteien dürfen ihm nicht mehr hineinreden.“ Ludendorff gefiel die Definition, weniger wird ihm gefallen haben, dass für Weber der Führer, der folgenreiche Fehler gemacht hatte, nach Volkes Willen an den Galgen gehörte. Jahrzehnte später aber sollte sich am Beispiel Adolf Hitlers zeigen, dass ein Volk vom Charisma derart verblendet und gelähmt werden kann, dass es nicht in der Lage ist, die Verbrechen des „Führers“ zu erkennen oder ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen.

Ähnlich wirkungsvoll wie Webers Betonung des Charismas in der Politik wurde seine Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Der Gesinnungsethiker folgt einer Überzeugung, ohne sich von möglichen Folgen seines Tuns einengen zu lassen, für den Verantwortungsethiker dagegen begrenzt die Abwägung der möglichen Konsequenzen seinen Handlungsspielraum. Mithilfe von Begriffen wie „charismatische Herrschaft“ und mit der Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik lassen sich Akteure und Aktionen der Politik einordnen und kritisch werten. Der Aufstieg Barack Obamas beispielsweise lässt sich ebenso mit seinem Charisma erklären wie sein Abstieg dem Vorgang folgt, den Max Weber als „Veralltäglichung des Charismas“ bezeichnet hat.

Die Politik muss versuchen, zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik eine Balance zu finden. Angela Merkels Entscheidung im Herbst 2015, die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen, war ein Akt reiner Gesinnungsethik, den man nicht nur rechtfertigen kann, sondern auch bewundern darf. Der gesinnungsethischen Aussage der Kanzlerin aber, für das Recht auf Asyl gebe es keine Obergrenze, hätte die verantwortungsethische Einschränkung folgen müssen, dass Deutschland an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit angelangt war.

„Politik als Beruf“ bietet heute noch Orientierung im politischen Geschehen. Ein Rollenmodell für amtierende Politiker liefert der Vortrag aber nicht. Weitgehend sprach Max Weber nicht vom Berufspolitiker, sondern vom „Politiker aus Berufung“. Dieser sollte fähig sein, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik miteinander zu versöhnen, er müsste mit „heißer Leidenschaft“ agieren und zugleich mit Augenmaß, das heißt der Fähigkeit, „die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen“. Die Rede war von einem Idealtypus, dessen Eigenschaften sich zu einem Überforderungskatalog summierten. Politiker, die dem Rat von Theodor Heuss folgen und „Politik als Beruf“ lesen, sollten sich davon aber nicht entmutigen lassen.

Weber hatte seinen Vortrag frei gehalten, die Handschrift der in Kopien erhaltenen Notizzettel verrät die nervöse Energie, mit welcher er seine Gedanken ordnete. Auffallend ist das kämpferische Vokabular, in dem „Parteinahme, Kampf, Leidenschaft“ dominieren. Politik ist oft Tragödie und voller Hybris; der große Politiker versucht nicht weniger, als „seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte zu legen“. Weber dramatisierte die Politik so sehr, dass die Dichterin und Historikerin Ricarda Huch, die den Vortrag Max Webers in der ersten Zuhörerreihe verfolgt hatte, ihren Eindruck in die Worte zusammenfasste, sie habe einen Schauspieler erlebt.

Ein „Schauspieler“ war Weber aber nur insofern, als sich hinter der Maske des Wissenschaftlers, der die Wirklichkeit „mit innerer Sammlung und Ruhe“ auf sich wirken lässt, die „heiße Leidenschaft“ des Politikers verbarg. Max Weber klagte Bismarck und Kaiser Wilhelm II., diesen „dilettierenden Fatzke“, an, eine „Nation ohne politische Erziehung und ohne politischen Willen“ hinterlassen zu haben. Zu dieser politischen Erziehung wollte er seinen Beitrag leisten – und nahm an den Beratungen über die Grundzüge der Weimarer Verfassung teil. Weber verachtete Politiker wie Kurt Eisner, die bereit waren, die deutsche Kriegsschuld anzuerkennen – und wurde Mitglied der deutschen Friedensdelegation, die in Versailles die Antwort auf die alliierte Kriegsschuldthese formulieren sollte. „Polarnacht!“ hieß eine der letzten Eintragungen auf Webers Notizzetteln für seinen Vortrag. Es war das Stichwort für eine Prognose, in der Max Weber die politische Entwicklung der kommenden Jahrzehnte vorauszuahnen schien: „Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern zunächst eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte, mag äußerlich jetzt siegen welche Gruppe auch immer.“
Feb. 2019 | Heidelberg, Allgemein, Essay, Feuilleton, Politik, Wissenschaft | Kommentieren