Religion beginnt, wo der Nutzen endet. – Wozu ist dies oder jenes gut? Die Frage nach dem Nützlichen und Zweckdienlichen ist, obgleich sie in unzähligen Varianten den Alltag regiert, keine «letzte» Frage, keine jedenfalls, die nicht überfragt werden könnte. Mitunter verliert sie denn auch ihre Selbstverständlichkeit. Geschieht dies, versteht der, der sie unentwegt gestellt hat, vielleicht sich selbst nicht mehr. Zumindest versteht er sich nicht mehr wie von selbst als denjenigen, auf dessen Willen, auf dessen Wünsche und Bedürfnisse die Welt zugeschnitten sein soll. Es meldet sich dann eine Gegenfrage, eine, die das Nützlichkeitsdenken durchkreuzt und die Perspektive umkehrt: Wozu bin ich gut? Wozu existieren wir?
Nicht allen frommt das Fromme
Religion also beginnt – oder sie kann beginnen – wo der Nutzen endet. Gleichwohl ist es alles andere als abwegig, Religion ihrerseits in einer sozusagen innerweltlichen Perspektive des abzuwägenden Nutzens zu bedenken. In Anbetracht der Aufdringlichkeit, mit der Religion sich seit geraumer Zeit – wieder – öffentlich und konfliktträchtig bemerkbar macht, mag dies sogar geboten sein. Religion, so die Vorstellung aus religionspolitisch weniger turbulenten Zeiten, trage zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei. Religiös begründete oder eingeübte Sitten und Gebräuche bildeten einen Humus, von dem auch die säkularen Gemeinwesen zehrten. Doch in stark pluralisierten und individualisierten Gesellschaften frommt das Fromme nicht allen gleichermaßen; und ob es dem Ganzen des Gemeinwesens zugute komme, hängt von den Umständen ab.
Der Blutzoll (nicht nur) vergangener Epochen gemahnt an das hohe Gut des Religionsfriedens. Ebenso wie die Verknechtung der Kreatur in theokratischen Regimen an die weltgeschichtliche Wohltat der Trennung von Thron und Altar, Staat und Kirche, Politik und Heil erinnert. Daraus können bereits Kriterien gewonnen werden, nach denen sich die «Güte» einer Religion kühl und leidenschaftslos bemessen ließe: Wenn Religion für die Menschen und ihr Zusammenleben gut sein soll, dann muß sie zum Friedensschluß fähig sein und zur Freiheitsförderung das Zeug haben.
Mit einer bestimmten Form der Freiheit bekommt es heutzutage jede Religion ohnedies unweigerlich zu tun. Religionen verkörpern – nolens volens – diese Freiheit geradezu. Gemeint ist die Freiheit der Wahl. Wollen wir die Situation des religionskulturellen Pluralismus auf auch nur irgendeinen Punkt bringen, müßten wir von einem «häretischen Imperativ» sprechen dürfen. Keine religiöse Tradition gelte mehr fraglos. Alle Gläubigen oder Glaubenswilligen, eine jede und ein jeder für sich, seien gehalten, aus den Traditionsbeständen Passendes auszuwählen. (Das griechische Wort «hairesis» bedeutet Wahl oder Auswahl.) Auch die, die sich zu einer religiösen Orthodoxie bekennen, kämen in global pluralistisch gewordener Umgebung nicht umhin, sich für ihre Rechtgläubigkeit eigens zu entscheiden. Alle, so die aufmunternde Botschaft dieses Befundes, sind «Häretiker».
Ratzinger, derzeit Emeritus Benedikt, macht es uns leicht, Häretiker zu sein!
Wir müssen nur wissen wollen …
Da Ratzinger immer noch jener Benedikt ist, dem wir unterstellen, als Kardinal einer Nachfolgeorganisation der Inquisition als Vorsteher der Glaubenskongregation angehört zu haben, hat er doch bereits in dieser Funktion Kirche immer mehr zu einem reaktionären Bollwerk ausgebaut.
Das sehen wir in nicht allzuferner Vergangenheit, innerhalb welcher Ratzinger seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) allen Veränderungen äußerst ablehnend gegenübersteht. So werden seiner Meinung nach die Lehren der Kirche durch Zweifel und Hinterfragen „besudelt“ – womit er deutlich und unverholen zugleich eine Rückkehr zum katholischen Fundamentalismus anstrebt, indem er die (unter anderem nur) unanfechtbare Wahrheit des vom Papst ex cathedra verkündeten Dogmen hervorholt.
Für wie dumm hält uns jener Joseph Ratzinger-Benedikt
Und für wie dumm hält er nicht nur gläubige Katholiken, sondern auch kirchliche Lehren hinterfragende katholische Theologen, wenn er dies als Recht auf Freiheit unter die Leute bringt:
„Das verbriefte Recht auf Freiheit des Glaubens rechtfertigt nicht das Herleiten eines Rechts auf Abweichung. Das Recht auf Glaubensfreiheit hat nicht die Freiheit in Bezug auf die Wahrheit zum Inhalt, sondern die freie Bestimmung eines Menschen, in Übereinstimmung mit seinen moralischen Verpflichtungen, die Wahrheit zu akzeptieren.“
(Original-Ton Ratzinger in „Verschlusssache Jesus„) der Kongregation für Glaubenslehre …
Man wäre also von Ratzingers Gnaden zwar völlig frei, die Lehre der Kirche zu akzeptieren, nicht aber, sie zu hinterfragen. oder sie abzulehnen. Freiheit in dieser Kirche, wenn sie denn, wie Freiheit in kurial-römischer Lesart, nur aus Unterwerfung zu bestehen in die Lage versetzen soll, vermittelt ein zumindest seltsames Verständnis davon. Diese allen Katholiken auferlegten, ungeheuerlichen, psychische und emotionale Schäden verursachenden Beschränkungen, mit denen aus Bigotterie und Intoleranz genährte Schuldgefühle verursacht und genährt werden, beschneiden in wahrlich unzulässiger Weise den Horizont von Erkenntnis und Verständnis. Es wirken sich all diese kaum in Worte zu fassenden (ja, ich nenne das) Brutalitäten ja aber „nur“ auf jenen Teil der Weltbevölkerung aus, die sich alledem freiwillig unterwerfen. Nichtkatoliken hingegen haben (sagen wir für diesmal mal: Gott sei Dank!) „die Freiheit eines Christenmenschen“, diesen unverfrorenen Blödsinn zu ignorieren. Tun wirs denn also! Katholiken wünschen wir den – ja, was denn eigentlich – Mut (vielleicht), sich auch zu befreien …
Arrangements
Für Religionen, die sich im Medium der Gewissensfreiheit entwickelt haben, mag diese Einsicht leichter zu gewinnen sein. Andere können sich ihr hartnäckig versperren und so tun, als wäre die Wahl keine Wahl, sondern eine schicksalhafte Notwendigkeit. Die Selbsttäuschung, die damit verbunden ist, kann man Fundamentalismus nennen. Mit der Möglichkeit jener Einsicht ist – grundsätzlich – auch der Weg zu der Erkenntnis geebnet, dass es besser wäre, die faktisch in Anspruch genommene Freiheit als ein allgemeines Recht zu gewährleisten. Eine Religion, die die allseitige Religionsfreiheit in der institutionalisierten Form des liberalen und säkularen Rechtsstaats anerkennt, muß dann aber auch akzeptieren, dass ihre Anhänger von dieser Freiheit (ein weiteres Mal) Gebrauch machen und der Religion – dieser bestimmten oder der Religion überhaupt – den Rücken kehren. Im Islam tut man sich damit, zurückhaltend formuliert, noch immer schwer. Ein Hadith überliefert bekanntlich die Bestimmung: «Wer seine Religion wechselt, den tötet!»
Das Christentum, insbesondere die katholische Kirche, hat vorgemacht, wie man sich allmählich mit dem Ungeliebten arrangiert. Bis vor vier Jahrzehnten noch, bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, war auch «Rom» nach heutigen Maßstäben so etwas wie eine fundamentalistische Organisation, die zur Trennung von Staat und Religion nur per Lippenbekenntnis Ja sagte. Die Religionsfreiheit machte man sich im Vatikan politisch zunutze, lehnte sie aber theologisch ab. Wer einen inneren Vorbehalt gegen das freiheitliche, säkulare Gemeinwesen hegt, sich aber an Recht und Gesetz hält, ist nicht gerade ein vorbildlich guter Staatsbürger, aber auch kein schlechter.
Unter dem Aspekt der Sozialverträglichkeit darf eine Religion, deren Anhänger und Repräsentanten sich entsprechend doppelzüngig – und das heißt aber eben: gesetzeskonform – verhalten, indes sogar als «gut» gelten, jedenfalls als «gut genug».
Religionsfreiheit als religiöses Gebot?
Besser noch wäre es freilich, die Religionsfreiheit würde selbst als religiöses Gebot aufgefaßt werden. Seit dem Zweiten Vaticanum stehen auch in der katholischen Kirche die theologischen Argumente dafür zur Verfügung. Es gehört demnach zur Wahrheit der göttlichen Offenbarung, dass diese Wahrheit sich nicht in Gestalt eines christlichen Staates durchsetzen will und kann. Ansätze zu einer Theologie der Säkularisation finden sich im Protestantismus naturgemäß in grösserer Zahl – obgleich auch er seine Zeit gebraucht hat, um zu realisieren, daß die institutionelle Trennung von Politik und Religion zum Proprium des Christentums gehört („dem Kaiser, was des Kaisers ist; Gott, was Gottes ist“). – Ein islamisches Pendant zu solcher theologisch begründeten Selbstbeschränkung von Religion scheint noch auf sich warten zu lassen – und es dürfte, angesichts der für theokratische Konzepte sprechenden Quellenlage, auch nicht aus dem Ärmel zu schütteln sein.
Eine gewisse Zuversicht könnte man allgemein aus der religionswissenschaftlichen Beobachtung schöpfen, dass es ein allen Weltreligionen eigentümliches Prinzip zu sein scheint, den menschlichen Willen zurückzunehmen. Allerdings hängt dann noch immer einiges davon ab, wie der jeweilige göttliche Wille ausgestattet ist, dem sich der menschliche empfiehlt oder unterstellt.
Wie auch immer: Zwar sind in liberalen Staaten Glaubensgemeinschaften rechtlich dazu verpflichtet, von der politischen Durchsetzung eines absoluten religiösen Wahrheitsanspruchs abzusehen – und wenn sie das tun, ist es gut. Sie sind aber rechtlich nicht verpflichtet, diesen Verzicht theologisch für richtig zu halten oder nach einer theologischen Begründung für ihn zumindest zu suchen. Wenn sie dies dennoch tun wollen und es zudem zu tun in der Lage wären: Umso besser.
„Das Wort sie sollen lassen stahn.“ (got)