Wir erinnern uns an den 27. Januar 1945 – den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Erst in der Nacht zuvor hatten SS-Truppen das letzte der vier aus Erfurt gelieferten Großkrematorien gesprengt; eines war im Oktober 1944 bei einem Aufstand des „Sonderkommandos“ zur Leichenverbrennung zerstört, die beiden anderen waren bereits im Dezember zerlegt und Richtung Mauthausen verfrachtet worden. Dort, am Rand der geplanten Alpenfestung, sollte unter dem Codewort „Neu-Auschwitz“ ein gleichwertiges Vernichtungslager entstehen. Bis Ende 1944 waren in Auschwitz eine Million Menschen ermordet worden, die allermeisten, weil sie Juden waren.
Am 27. Januar vor 74 Jahren verharrten noch etwa 7000 von den geflüchteten Wachmannschaften zurückgelassene, extrem geschwächte Häftlinge im Lager. Nach Gefechten mit Wehrmachtsverbänden erreichten zwei vermummte Soldaten das Tor von Auschwitz-Birkenau um 15.00 Uhr. 213 ihrer Kameraden waren bei den Kämpfen um Auschwitz gefallen. Ihr Maschinengewehr zogen die beiden Soldaten per Schlitten hinter sich her. Ein Freudenschrei erhob sich aus der Menge der Gefangenen: „Die Russen sind da!“
Die Deutschen mussten mit Gewalt befreit werden
Einige Tage später erreichten sowjetische Truppen den Osten Berlins. Dort, auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee, hielten sich einige Dutzend Juden versteckt, unter ihnen Rabbiner Martin Riesenburger. Er berichtete: „Man schrieb Montag, den 23. April 1945. Als es 15 Uhr war, durchschritt das Tor unseres Friedhofs der erste sowjetische Soldat! Aufrecht und gerade war sein Gang. Ich hatte das Gefühl, dass er mit jedem Schritt bei seinem Kommen zu uns ein Stück des verruchten Hakenkreuzes zertrat. Wir umarmten diesen Boten der Freiheit, wir küssten ihn – und wir weinten!“ „Für mich“, so notierte der Philosoph Rudolf Schottlaender, der dank seiner „arischen“ Ehefrau in Berlin-Heiligensee überlebt hatte, „war eben Befreiung, was ringsum nur Niederlage und Schrecken bedeutete.“
Sowjetische Soldaten mussten die mit Abstand schwersten Opfer auf sich nehmen. Sofern sie den Krieg lebend überstanden hatten, kehrten sie in eine zerstörte, ausgeplünderte und ausgeblutete Heimat zurück; mehr als zwei Millionen von ihnen wurden in deutscher Gefangenschaft vorsätzlich ermordet, zumeist mit dem Mittel des Hungers. Zu den Gefallenen oder von Deutschen als Gefangene ermordeten sowjetischen Soldaten zählen auch 200 000 der insgesamt 500 000 jüdischen Rotarmisten.
Mit harter militärischer Gewalt mussten im Mai 1945 viele Zehnmillionen Deutsche dazu gezwungen werden, ihr Werk des Hasses, der Zerstörung und Selbstzerstörung zu beenden. Sie hatten Hitler gewählt, bejubelt oder geduldet und für ihn gekämpft. Insgesamt mobilisierte die Wehrmacht von 1939 an 18 Millionen deutsche Männer – fast alle, die laufen konnten –, um zerstörend, raubend und mordend über Europa herzufallen: vom Nordkap bis zum Kaukasus, von Marseille bis Leningrad. Weit überwiegend fühlten sich die Landser als Herrenmenschen, zumal im Osten Europas. Angetrieben hatte sie nazistische Überzeugung, vaterländisches Pflichtgefühl, nationaler Dünkel, Abenteuerlust oder Gleichgültigkeit – die Verrohung erzeugte die Art der Kriegsführung, verstärkt von der begleitenden Propaganda vom „Untermenschen“.
Die Kriegsverbrechen der Wehrmacht
Mir bleibt rätselhaft, wie der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland zu folgender Forderung fand: Auch „wir haben das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“. Ich verspüre kein solches Bedürfnis. Warum das so ist, erkläre ich Ihnen am Beispiel des Feldwebels Werner Viehweg. Er wurde 1912 geboren und wuchs in einem sozialdemokratischen Elternhaus auf. Sein Vater verlor 1933 sofort seine Stellung als Bezirksoberschulrat im sächsischen Löbau; 1945 wurde er als Ministerialrat in Dresden reaktiviert. Doch dokumentiert das Kriegstagebuch, das Werner Viehweg 1941/42 in Polen und Russland führte, wie regimekon-form er und auch seine beiden Brüder waren – trotz sozialistischer Erziehung.
Auf dem Marsch Richtung Ukraine notierte Viehweg: „Auffallend die vielen Juden in Polen. Ich lernte sie in ihrem Dreck so richtig kennen, als ich unverhofft ins Judenviertel kam. Überall saßen die ekelhaften Gestalten vor ihren vor Dreck starrenden Läden und mauschelten jiddisch.“ Aus der Ukraine berichtete er: „In der Nähe hatte vor einigen Stunden ein Überfall versprengter Russen auf einen Trupp Flaksoldaten stattgefunden; sechs Mann waren dabei ermordet worden. Bei der Gegenaktion schnappte man an die 100 Russen, die größtenteils erschossen wurden. Nur einige hatten eine Gnadenfrist erhalten, um verhört zu werden.“
Am 13. August 1941 notierte er: „Dann bummelte ich durch die trostlose Stadt, als dauerndes Schießen verriet, dass eine Erschießung im Gange war. Ich kam gerade hin, als die letzten beiden Raten dran kamen. Jedes Mal wurden sechs Mann an die Grube geführt. Ein Ukrainer gab ihnen Anweisungen ,Kopf hoch! Mehr links! Mehr rechts!‘ – dann kommandierte ein SS-Mann, und die Schüsse knallten. Lautlos sackten die Leute zusammen und fielen in die Grube. Wer sich noch regte, bekam einige Schüsse mit der MP. Die Leichen lagen wie Heringe in dem Loch. Ein ekelhafter Blutgeruch drang von dort heraus.“
Auch Viehweg muss gedacht werden
Neben der beifällig-passiven Teilnahme an weiteren Massenmorden notierte unser sächsischer Infanterist, wie er das Abbrennen halber Dörfer bewerkstelligte, wie „das Organisationskommando“ Schweine und Hühner einfing, Honig, Getreide und Gemüse requirierte, oder wie man sich in einer kühlen Oktobernacht in der Nähe von Kiew behalf: „Schnell wurden die Schulbänke zerkloppt und in den Ofen gesteckt, so hatten wir es herrlich warm.“ An anderer Stelle redete er zu sich selbst: „Nur gut, dass ich mir gestern ein paar wundervolle Stiefel von einem Gefangenen besorgt hatte.“ Möchte jemand in diesem Plenarsaal auf diesen ansonsten durchschnittlichen, gewiss gut und menschenfreundlich erzogenen Wehrmachtssoldaten stolz sein?
Werner Viehweg fand am 8. Februar 1942 den sogenannten Heldentod. Wir sollten auch seiner gedenken, allerdings mit Schaudern vor den menschlichen Abgründen, mit dem selbstkritischen und demütigen Wissen, wie schnell Menschen verrohen und das nur scheinbar feste Korsett bürgerlicher Kultiviertheit abschütteln können.
Auch Werner Viehweg war einer von uns. Kein Fremdkörper. Er gehört zu Deutschland, zur deutschen Geschichte. Vergessen wir ihn nicht, indem wir uns bequem mit den Opfern des nationalsozialistischen Volksstaats identifizieren und uns einbilden, wir Heutigen stünden auf der moralisch sicheren Seite. Indirekt verweist das Tagebuch auf die üblichen Beschönigungen familiärer Nazivergangenheiten, die so lauten: „Unser Großvater Erich wurde 1933 als SPD-Schulrat entlassen: Wir waren Opfer, durch und durch antifaschistisch!“ Aber Vater Erich Viehweg entschied sich früh und in der DDR gegen ein solches Märchen, fertigte eine Abschrift und bewahrte das Tagebuch in der Familie – zur mahnenden Erinnerung. Das ehrt ihn besonders.
Flucht ins Vergessen
Die meisten Deutschen schwiegen jedoch 1945, vernichteten Dokumente und flüchteten ins Vergessen. Zunächst bezeichneten sie die Niederlage vom 8. Mai 1945 als Zusammenbruch, dann faselten sie von der Stunde null, später vom Neuanfang – Begriffe, mit denen sie versuchten, die begangenen Verbrechen geschichtlich zu amputieren. Ohne Erfolg. Auch wenn wir Heutigen es selten aussprechen, begreifen wir den Mai 1945 doch weit überwiegend als den Beginn der menschlichen, kulturellen und politischen Wiedergeburt unseres Landes.
Nicht auszudenken, wenn die Deutschen – also „wir“ – diesen Krieg gewonnen hätten. Welche Denkmäler wären errichtet worden? Wer alles hätte Verdienstkreuze, Ehrenbürgerschaften, Straßennamen und Preise bekommen? „Wenn es so weitergegangen wäre“, überlegte ein polnischer Autor 1973, „wer weiß, wie viele Tagebücher und Erinnerungen bis heute in Deutschland erschienen wären, vielleicht mit Titel wie ,Ich war in der politischen Abteilung des KL Auschwitz‘ oder ,Ich vernichtete 600 000 Feinde des Dritten Reiches‘ oder ,Buchenwald-Majdanek-Mauthausen. Kampfetappen eines treuen SS-Mannes‘.“
Apropos „treuer SS-Mann“: In der Gegenwart werden gelegentlich kaum mehr verhandlungsfähige 95-Jährige wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht gestellt, weil sie in einem KZ-Lager als Wachleute oder auf der Schreibstube tätig waren. Wären solche Prozesse nach den heute angewandten strafrechtlichen Kriterien zwischen 1950 und 1970 in den drei Nachfolgestaaten des Großdeutschen Reiches – DDR, BRD und Österreich – geführt worden, dann hätten mindestens 300 000 deutsche und österreichische Männer und einige Zehntausend Frauen wegen solcher Taten zu lebenslänglicher Haft verurteilt werden müssen. Das hätten die Gesellschaften und Millionen betroffene Familienmitglieder nicht ertragen.
Oft geht uns der auf Distanz bedachte Begriff „SS-Scherge“ allzu leicht über die Lippen. Denn 1945 stammte jeder zweite der damals etwa 40 000 KZ-Wachmänner aus der Wehrmacht. Frauen wurden in der zweiten Kriegshälfte für gewöhnlich über die Arbeitsämter als KZ-Aufseherinnen rekrutiert. Eine Mitgliedschaft in der NSDAP war dafür nicht entfernt erforderlich.
Sprache ist eine Waffe. Immer noch …
Hier in Thüringen dauerte der Nationalsozialismus bekanntlich nicht zwölf, sondern rund 14 Jahre. Mit einer Unterbrechung stellte die NSDAP hier seit dem 23. Januar 1930 den ersten nationalsozialistischen Minister, den späteren Reichsinnenminister Wilhelm Frick, und Ende August 1932 wurde Gauleiter Fritz Sauckel nach einem glänzenden Wahlerfolg der NSDAP zum Chef der Landesregierung gewählt.
Die frühen Siege der NSDAP gingen mit sprachlicher Verrohung einher. So beschimpfte der Abgeordnete Sauckel 1931 seine Konkurrenten der bürgerlichen Parteien als „Verräter“, „Betrüger“, „trottelhafte Greise“, „Leisetreter“ oder „bürgerliche Schlappschwänze“. Nachdem die erste Regierung mit der NSDAP gescheitert war, rief Sauckel im April 1931 zur Jagd auf die Demokraten: „Wir kommen wieder, und über Ihre Parteileichname spaziert das deutsche Volk!“
Als Volksbildungsminister hatte Frick 1930 den folgenden Erlass herausgegeben: „Seit Jahren machen sich fast auf allen kulturellen Gebieten in steigendem Maße fremdrassige Einflüsse geltend, die die sittlichen Kräfte des deutschen Volkstums zu unterwühlen geeignet sind. Einen breiten Raum nehmen dabei die Erzeugnisse ein, die – wie Jazzband- und Schlagzeug-Musik, Negertänze, Negergesänge, Negerstücke – eine Verherrlichung des Negertums darstellen und dem deutschen Kulturempfinden ins Gesicht schlagen.“ Laut Begründung sollte „die Verseuchung deutschen Volkstums durch fremdrassige Unkultur (…) mit aller Schärfe“ gestoppt werden. Unter der Überschrift „Wider die Negerkultur – für deutsches Volkstum“ steht dieser Text im Amtsblatt des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung vom 22. April 1930.
Dem damals, also vor 89 Jahren, in Weimar formulierten Verständnis von deutscher Leitkultur entspricht heute die in äußerlich gepflegtem Ton vorgetragene Bemerkung: Die Leute fänden Jérôme Boateng zwar „als Fußballspieler gut“ – aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben“. Dazu passend behaupten rechtsradikale Ideologen wie etwa Björn Höcke, „die brutale Verdrängung der Deutschen aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet“ sei „heute Teil der Demographiestrategie der Bundesregierung“.
Wo Adolf Hitler agitierte, „der schwerste Kampf“ müsse „nicht mehr gegen die feindlichen Völker, sondern gegen das internationale Kapital ausgefochten werden“ – gemeint war das angeblich „jüdische“ – geht es bei Höcke um „die Strukturen des globalen Geldmachtkomplexes“; aus dem „nationalen Sozialismus“ und der „Volksgemeinschaft“ wird bei ihm „solidarischer Patriotismus“.
Die Verantwortung der Kirche
In seiner bekannten „Vogelschiss“-Rede setzte der AfD-Vorsitzende Gauland der volksgestützten nationalsozialen Verbrechensherrschaft „über tausend Jahre erfolgreicher deutscher Geschichte“ entgegen. Damit meinte er auch Martin Luther, sprich die protestantische Reformation. Aber 1932/33 wählte jeder zweite Protestant Hitler, jedoch nur jeder vierte Katholik. Bei den Kirchenwahlen vom 23. Juni 1933 errangen die sogenannten Deutschen Christen, also die nazifreundliche Fraktion der evangelischen Kirchen, in Thüringen 88 Prozent der abgegebenen Stimmen, und das bei ungewöhnlich hoher Wahlbeteiligung.
Am 12. November 1933 ließ der gewählte Vorstand der thüringischen Landeskirche diesen Text von den Kanzeln verlesen: „Schuldige Dankespflicht gegen Gott und Adolf Hitler treibt uns, uns feierlich und einmütig hinter diesen Mann zu stellen, der unserem Volke und der Welt gesandt ist, die Macht der Finsternis zu überwinden! Wir rufen darum unsere Gemeinden auf, gleichen Sinnes mit uns sich als ein einig Volk von Brüdern hinter den Führer zu stellen.“
Elf evangelische Landeskirchen gründeten 1938 das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ in Eisenach, ausgerechnet am Fuß der Wartburg, der Zuflucht Martin Luthers. Der Direktor dieses evangelischen Verbrecherinstituts war der später in der DDR noch aktive und anerkannte Jenenser Theologieprofessor Walter Grundmann.
Er forderte 1942 unter dem Titel „Das religiöse Gesicht des Judentums“: „Der Jude muss als feindlicher und schädlicher Fremder betrachtet werden und von jeder Einflussnahme ausgeschaltet werden. In diesem notwendigen Prozeß fällt der deutschen Geisteswissenschaft die Aufgabe zu, das geistige und religiöse Gesicht des Judentums scharf zu erkennen.“
Was ist das: Deutsch?
Auf die Frage, was das Besondere an unserer Kultur sei, erwiderte Gauland: „Es gibt Bach und Goethe und Händel, es gibt Thomas Mann.“ Aber ähnlich dem Protestantismus wurden 1933 all diese Namen von Leuten verraten, die sich für Träger der deutschen Kultur hielten, und es vor 1933 und oft auch nach 1945 tatsächlich waren. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus konfrontiert uns immer wieder mit hochgebildeten, feinsinnigen Männern und Frauen, die aus freien Stücken zu Helfern und Exekutoren der Barbarei wurden. Hannah Arendt sprach deshalb vom Bündnis zwischen Mob und Elite.
Johann Sebastian Bach, der in Eisenach, Ohrdruf, Weimar, Mühlhausen und Arnstadt als Kantor gewirkt hatte, war bald nach seinem Tod von der deutschen Kulturwelt vergessen worden. Wiederentdeckt hat ihn und seine Werke Felix Mendelssohn Bartholdy. Aber dessen als „jüdisch“ gebrandmarkte Symphonien und Oratorien verschwanden 1933 sofort von den Programmzetteln, hingegen wurde der französischen und italienischen Einflüssen zugeneigte Bach zum Inbegriff „deutscher Stammesart“ umgebogen.
So steht es in dem Aufruf vom Frühjahr 1933, mit dem führende protestantische Kantoren verhindern wollten, dass „unserem Volk eine nichtbodenständige, kosmopolitische Kirchenmusik dargeboten wird“. Zu den Initiatoren gehörte Günther Ramin, Thomaskantor in Leipzig von 1940 bis zu seinem Tod 1956. Bruno Walter, der bessere Kapellmeister, der seit 1929 das Leipziger Gewandhausorchester dirigiert hatte, musste die Stadt 1933 seiner „fremden Rasse“ wegen verlassen. Der Naziprofiteur Ramin wurde in der DDR wie in der Bundesrepublik mit Sonderbriefmarken geehrt.
Auch der weltoffene, strikt antinationalistische Johann Wolfgang von Goethe wurde von der noblen Goethe-Gesellschaft in das System des Bösen gezwungen. Die großzuüge Erweiterung des Goethemuseums am Weimarer Frauenplan stammt aus dem Jahr 1935. Im Vestibül prangten bis 1945 eine bronzene Hitlerbüste und diese Ehrentafel: „Erweiterungsbau geschaffen durch die hochherzige Unterstützung des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler im dritten Jahr seiner Regierung 1935.“
Als Direktor des Goethe-Nationalmuseums amtierte von 1918 bis zum Tode 1949 der Germanist Professor Hans Wahl. 1928 hatte er den antisemitischen Kampfbund für deutsche Kultur mitbegründet. Wie Heinrich Lilienfein, der von 1920 bis zu seinem Tode 1952 Generalsekretär der Deutschen Schillerstiftung in Weimar gewesen war, ruht Hans Wahl in einem Ehrengrab in nächster Nähe zu Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller.
Auch Lilienfein, einer meiner Großonkel, hatte 1933 das von so vielen deutschen Intellektuellen unterschriebene, an Hitler gerichtete „Gelöbnis treuester Gefolgschaft“ abgelegt. Wenn deutsche Hochkultur, die sich im mitteldeutschen Raum zweifellos besonders stark entwickelt hatte, derart missbraucht werden konnte, dann bleibt Skepsis geboten.
Nun zu Alexander Gaulands letztgenanntem Zeugen: Thomas Mann. Er weigerte sich bis zu seinem Tode mit guten Gründen, die 1944 erworbene amerikanische Staatsbürgerschaft abzulegen und wieder deutscher Staatsbürger zu werden.
Zu Leuten, die fremdenfeindliche Tiraden schwangen und dafür trommelten, dass Deutschland ausschließlich sogenannten Blutsdeutschen gehören solle, bemerkte er 1937: Aus „einem völkergesellschaftlichen Minderwertigkeitsgefühl“ erwuchs ostentative Überheblichkeit. „Dünkelmütiger Provinzialismus“ machte „die Atmosphäre verdorben und stockig“ und das Wort „international“ zum Schimpfwort. 1945 resümierte er: „Der deutsche Frei-heitsbegriff war immer nach außen gerichtet; er meinte das Recht, deutsch zu sein, nur deutsch und nichts anderes.“ Er beinhaltete nicht die Freiheit der Menschen, sondern die „für das deutsche Vaterland“. Er war – und ist – Ausdruck von „völkischem Egoismus“ und „militantem Knechtssinn“.
Am 19. Februar 1945 schworen die so vielen Nationen angehörenden Überlebenden von Buchenwald, für eine „Welt des Friedens und der Freiheit“ einzutreten. Im Sinne des Schwurs von Buchenwald danken wir den Millionen ausländischer Soldaten, unter ihnen – gerade hier in Thüringen – den vielen Soldaten afroamerikanischer Herkunft: Sie befreiten die Gefangenen der Konzentrations- und Vernichtungslager, die todgeweihten Zwangsarbeiter, die Insassen der Heil- und Pflegeanstalten;
und nicht zuletzt befreiten sie die Deutschen von sich selbst.
Der Text ist das Manuskript der Rede, die Götz Aly am 25. Januar im thüringischen Landtag
zum 74. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau hielt.