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[2]Steht – wie von vielen Besserwissern derzeit behauptet – der Fall Relotius wirklich für zynischen Journalismus, ist das journalistische Fehlverhalten eines jungen Mannes, welches dieser Tage aufgedeckt wurde, wirklich jene alleinstehende Einzeltat, als die sie jetzt dargestellt wird, das ist auch immer noch alles andere, als geklärt. „Erschüttert“ seien sie, so lamentieren seine früheren Förderer. Damit sollten es aber weder „Der Spiegel“ – noch „der Journalismus im Allgemeinen“ – bewenden lassen. Der Vorfall sollte, nein muß – wie immer mal wieder – Anlass sein, grundsätzlich über die Wirkungsweise und die Macht des Journalismus nachzudenken.
Lassen wir den Neurowissenschaftler, Psychiater und Sachbuchautor (Bild) Prof. Dr. Joachim Bauer zu Wort kommen:
Vieles spricht dafür, dass Claas Relotius auf die Spitze getrieben hatte, was der Arbeitsweise seines journalistischen Umfeldes entsprach. Um dies zu vermuten, reicht ein Blick auf einige zufällig herausgegriffene Reportagen im „Spiegel“-Heft 52/2018, welche nicht dem Übeltäter, sondern verschiedenen anderen Themen gewidmet sind und die öffentliche Hinrichtung des ehemaligen Jungstars durch seine bisherigen Arbeitgeber sozusagen einrahmen: „Freunde oder Feinde“ (Seite 24) behauptet, basierend auf Hörensagen und ohne ein einziges Faktum zu benennen, eine „chaotische Amtsführung“ durch den Wirtschaftsminister (CDU). Eine mit „Haaaaallllloooooo“ überschriebene Reportage über eine Reise des Bundespräsidenten (vormals SPD) nach China (Seite 28) liefert dem Leser keine handfesten Informationen, aber eine Serie von Zynismen und pseudopsychologische Erwägungen über den „Tanz zwischen dem alten und dem neuen Ich“ des sozusagen auf die Analyse-Couch allwissender Journalisten gelegten Staatsoberhauptes.
Nicht weniger bizarr ist ein mit „Tabubruch“ überschriebener Beitrag über den zu den Grünen zählenden Tübinger Oberbürgermeister (Seite 34). Der Artikel liefert zwar keinen Beleg für einen Tabubruch, macht den Leser dafür aber mit der Ansage vertraut, dass angeblich ganz Deutschland über diesen Oberbürgermeister lache. Behauptungen einfach einmal in den Raum zu stellen, in der Erwartung, dass sie zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden ist ein bewährtes Arbeitsprinzip von Stimmungsmachern.
Ein Nachdenken über einen zunehmend zynischen, einseitig und unsachlich auf die angeblichen Mängel unserer Demokratie und ihrer politischen Akteure ausgerichteten Journalismus ist überfällig. Aus diesem Grunde entstand in den USA ein internationales Netzwerk, „Solutions Journalism Network“ genannt, dem die Journalistin und Pulitzer-Preisträgerin Tina Rosenberg und der Sozialforscher und Buchautor David Bornstein angehören.
Die beiden verfassten im November 2016 einen Beitrag, der den Titel „When Reportage Turns to Cynicism“ trägt, in welchem sie reflektieren, inwieweit ein seit Jahren immer zynischerer Journalismus ungewollt zum Wahlerfolg Donald Trumps beigetragen haben könnte.
Den Autoren geht es nicht darum, dass Journalisten keine Kritik an Missständen äußern sollten, sondern um ein Nachdenken über einen von impliziter Verachtung gegenüber dem Politikbetrieb getragenen Journalismus, der, ohne es zu wollen, Populisten den Boden bereitet haben könnte, die das demokratische System als Ganzes für heruntergewirtschaftet halten. Haben pauschal abwertende Darstellungen auch bei uns denjenigen Vorschub geleistet, die unser demokratisches Gemeinwesen als Ganzes als „versifft“ bezeichnen?
Da Realität für den Menschen immer nur das ist, was er auf eine bestimmte Art und Weise wahrnimmt, erzeugen Medien Realität. Wenn ein Journalist mit der Annahme in ein Interview geht, dass er oder sie sich dem Vorwurf der Hofberichterstattung aussetze, wenn der oder die Interviewte am Ende nicht eine miserable Figur macht, dann wird der Interviewpartner tatsächlich keine gute Figur machen.
Dass die Welt etwas ist, das wir uns konstruieren, haben vor Jahrzehnten bereits die Soziologen William und Dorothy Thomas erkannt. Im Jahre 1928 formulierten sie das sogenannte Thomas-Theorem: Wenn ich der Überzeugung bin, dass Menschen, die in Verantwortung stehen, grundsätzlich pflichtvergessen handeln und korrupt sind, werde ich überall Unfähige und Korrupte sehen. Wenn ich andererseits der – fraglos als naiv zu bezeichnenden – Meinung bin, der Mensch sei grundsätzlich gut, werde ich gegenüber dem vielen Bösen dieser Welt blind sein.
Weniger Unterschied zwischen Nachricht und Meinung
Welche Welt konstruiert uns der Journalismus? So wie die Medien Realität konstruieren, so wird sie auch sein. Weil Menschen die Welt durch die Augen des anderen – und Medienkonsumenten sie durch die Augen des Journalismus – sehen, werden massenhaft amplifizierte Darstellungen selbst dann geglaubt, wenn ihnen eine gegenteilige Evidenz entgegensteht. „Sagen, was ist“ – das ist ein naives Statement, welches vernebelt, dass wir alle, durch die Augen der Journalisten sehend, immer die Welt sehen, die uns dargestellt wird.
Darstellungen bilden vor allem dann, wenn sich ein Medienorgan nicht um Sachlichkeit und Nüchternheit bemüht, keine objektive Realität ab. Journalistisch erzeugte Stimmungen haben eine sozial ansteckende Wirkung. Optimismus, Angst oder Hass, auch Handlungsbereitschaft sind ansteckend und werden intuitiv von Menschen auf andere übertragen. Umso bedenklicher, dass sowohl im Fernsehen als auch in vielen Zeitungen zwischen Nachricht und Meinung immer weniger unterschieden wird. Verrückterweise sind auf diesen Zustand einige Medien sogar stolz und weisen darauf hin, man betreibe nun einmal einen „meinungsstarken Journalismus“.
Was richten zynische und abwertende Darstellungen unserer westlichen Demokratien an? Was folgt aus der auf persönliche Entwürdigung zielenden Art, mit der politische Akteure beschrieben werden? Wie wirkt das alles auf „normale“ Menschen, die sich mit ihrer Arbeit abmühen, Sorge um den Arbeitsplatz oder um bezahlbaren Wohnraum haben, sich um Kinder und um pflegebedürftige Angehörige kümmern? Die Conditio Humana ist nicht durch den Journalismus verschuldet, tritt mit ihm aber in eine Wechselwirkung. Journalismus kann den Grundtatsachen des Lebens eine apokalyptische oder eine eher optimistische Note hinzufügen.
Aus Sicht des Gehirns besonders anziehend ist die Apokalypse:
Seit Millionen Jahren war es überlebenswichtig, Gefahren zu erkennen. Wer Gefahren an die Wand malt, kann sich hoher Lese-, Einschalt- oder Klickquoten sicher sein. Wenn Medien den Politikbetrieb in Schwarz malen und seine Akteure nur als inkompetent und lächerlich darstellen, wird die Politik für den normalen Menschen zu einer Projektionsfläche.
Ein dann auftretendes Phänomen ist eine Spaltung der Welt in Schuldige und Opfer, in böse Politiker auf der einen und „Wir“, die Guten, auf der anderen Seite. Populistische Verführer befeuern dies: Die Demokratie als Gesellschaftsordnung und ihre mit Mängeln behafteten Akteure seien aufseiten des Bösen, auf der Seite der Täter. Diesem „versifften“ Szenario, wie es ein Populist ausdrückte, müsse ein autokratischer Retter als das Gute entgegengestellt werden.
David Bornstein und Tina Rosenberg vermuten in ihrem erwähnten Beitrag, dass ein zynischer Journalismus ungewollt einen Beitrag zum Populismus unserer Tage geleistet habe, und schreiben: „Journalismus findet immer eine Sprache, wenn es darum geht, Gefahren und Versagen zu beschreiben, aber er bleibt stumm, wenn es darum geht, die Gesellschaft wissen zu lassen, wo etwas gelungen ist. … Wir Journalisten fühlen uns gut, wenn wir Versagen schildern und zum Narrativ des Niedergangs beitragen können.“
Verächtlichmachung unserer Demokratien
Eine als Geschichte ständigen Versagens erzählte Tagespolitik, als Abfolge von lächerlichen oder unfähigen Charakteren, erzeugt ein Gefühl, das Martin Seligman als „gelernte Hilflosigkeit“ beschrieben hat. Frustration kann Wut und Aggression zur Folge haben. Ständig erneuerte Untergangsnarrative sind der ausgebreitete rote Teppich, den Populisten beschreiten, um unsere demokratische Gesellschaftsordnung insgesamt als Wegwerfmodell darzustellen.
Das Fehlverhalten des Claas Relotius sollte Anlass sein, über unseren Journalismus grundsätzlich nachzudenken. Wegen der Verrücktheiten, die sich der noch sehr junge Journalist geleistet hat, geht die Welt nicht unter, zum Glück nicht! Was unsere Welt wirklich gefährden kann, ist ein zynischer, systematisch auf die Verächtlichmachung unserer Demokratien und der in ihnen handelnden Akteure zielender Journalismus.
Wir brauchen kritischen Journalismus, der uns deutlich macht, woran unser System (noch) krankt, und der aufdeckt, wo unsere politischen Akteure Fehler machen, der aber nicht so weit geht, dass Menschen sich nach selbst ernannten populistischen Rettern sehnen müssen.
Der Autor ist Neurowissenschaftler, Psychiater und Sachbuchautor. Er lebt und arbeitet in Berlin.