Dazu passend behandelten seine Romane oft graue Tristesse, bevölkert sind sie von Lebensvermeidern, manchmal auch -verneinern, deren äußerer Erlebnisarmut ein Innenleben kontrastiert, auf dessen Reichtum Genazino selbst den größten Wert legte. Dieser Autor war ein stiller Verzweifelter. Unermüdlich hat er uns eines unter die Nase gerieben: dass es im falschen Ganzen keine richtigen Teile geben kann. Wenn er aber mit Adorno davon überzeugt war, dass auf dem modernen Erwerbsleben kein Segen ruhe und es kein richtiges Leben im falschen gebe, dann hat er, mit Witz und Trauer zugleich, mit Humor und Treffsicherheit das Beste draus gemacht.
Ein vor acht Jahren geführtes Gespräch
mit Wilhelm Genazino über seine Befindlichkeiten:
[2]Leben Sie eigentlich anders, seit Sie mit Ihren Büchern ordentlich Geld verdienen?
Nein. Die Lust, mich konsumistisch zu verhalten, nur weil ich das Geld dazu habe, ist nicht da. Ich habe alles, was ich brauche.
Was brauchen Sie denn?
Ruhe, jeden Tag ein paar Stunden zum Arbeiten. Ein Auto habe ich nicht. Das Fernsehen habe ich mir vor dreißig Jahren abgewöhnt.
So schlimm?
Ja. Ich war ein Opfer dieser Apparatur geworden. Ich habe mir irgendeinen Mist angesehen und immer mehr Gefallen am Nebenprodukt gefunden. Auf einmal habe ich mich dabei ertappt, wie ich ausgiebig das Hemd des Moderators betrachtete oder minutenlang beobachtete, wie einer Moderatorin alle paar Sekunden eine Haarsträhne ins Gesicht fiel. Nur so konnte ich das Programm noch ertragen. Irgendwann begriff ich, dass ich mich, wenn ich das Ding jetzt nicht rausschmeiße, auch ins Grab legen kann.
Kein Auto, kein Fernseher, Ihre Bücher schreiben Sie auf der Schreibmaschine – haben Sie was gegen Dinge, die Ihnen das Leben erleichtern?
Ich habe nichts dagegen, aber mich interessiert das alles nicht. Virtuelle Welten, soziale Netzwerke – ich habe Mühe, mir das anzueignen. Natürlich versucht meine Tochter mir das beizubringen, aber die Sache geht immer gleich aus: Zuerst bin ich guten Willens, dann verliere ich die Lust, und am Ende werde ich geschimpft.
Weil Sie sich so dumm anstellen?
Weil ich Anstoß an Nebensächlichkeiten nehme. Ich kann es zum Beispiel nicht ertragen, dass diese Geräte alle summen.
Klingt ziemlich neurotisch.
Es klingt vielleicht arrogant, aber ich halte das digitalisierte Leben nicht für einen Teil des wirklichen Lebens. Das Internet, die sozialen Netzwerke, die Chats sind ein Surrogat, ein friedlicher Ersatz, auf den sich die Menschen geeinigt haben. Das wirkliche Leben ist geheimnisvoller und poetischer. Es zu finden ist uns aufgegeben, man kann es nicht in einem Kaufhaus erstehen.
Sie klingen wie ein altmodischer, alter Mann.
Ich weiß, wie ein Opa, der den ganzen Tag durch den Park läuft. Aber nur weil diese Generationsdiskriminierung funktioniert, habe ich noch lange nicht unrecht. Ich habe mich damit abgefunden, dass Menschen wie ich nur noch als Museumsdarsteller geduldet werden, die in Talkshows bestaunt werden.
Wo finden Sie das wirkliche Leben?
Wenn ich in Hagen oder Osnabrück aus dem ICE steige. In diesen verrumpelten Städten geht mir eine Herzkammer auf. Ich stehe auf dem Bahnhof und denke: Osnabrück – genau, das ist die wirkliche Welt. Oder wenn ich Enten im Park beobachte, die auf einem Bein stehen und schlafen, darüber kann ich mich freuen wie ein kleines Kind.
Haben Sie manchmal Angst, dass Ihnen Tiere wichtiger werden als Menschen?
Nein, Tiere treten nicht in Konkurrenz zu den Menschen. Aber ich habe nun mal Vergnügen an Tieren wie ein kleines Kind oder ein alter Mann, und wahrscheinlich bin ich beides.
Ein Zitat aus Ihrem Buch: »Wer allein lebt, erkennt die anderen allein Lebenden.« Woran?
An ihrer inneren Eingesunkenheit. Man sieht es Menschen an, wenn sie es nicht gewohnt ist, offensiv zu kommunizieren. Sie sitzen da, schauen durch die Gegend, in Restaurants lesen sie lange in der Speisekarte.
Ziemlich traurig
Nicht unbedingt. Es gibt Menschen, die darin, und zwar nur darin, absolut souverän sind.
Sind Sie einer von diesen Menschen?
Nein, ich habe Freunde, aber die Tatsache, dass ich Romane schreibe, macht mich notwendigerweise zum Außenseiter. Es stimmt schon, ich nehme die Welt als zerfetzt wahr.
Aber Schriftsteller ist doch ein anerkannter Beruf.
Für Sie vielleicht, ich stelle anderes fest. Die Menschen, die mit mir in diesem Haus wohnen, meine Nachbarn und die Leute, denen ich auf der Straße begegne, haben alle einen anderen Beruf. Wenn die hören, was ich mache, sind sie voller Achtung, aber auch befremdet, wobei die Befremdung überwiegt. Ich muss immer wieder feststellen, dass mein Beruf in dieser Gesellschaft nicht vorgesehen ist.
Jetzt übertreiben Sie. Millionen von Menschen lesen Bücher, es gibt Buchmessen, eine ganze Industrie lebt davon.
Seien wir ehrlich: Von zehn Leuten lesen neun nicht. Ich erlebe immer wieder, dass Leute mich fragen, was ein Schriftsteller den ganzen Tag macht. Meistens gehe ich diesen Gesprächen aus dem Weg, indem ich mich als Verlagsangestellter ausgebe.
Warum machen Sie das?
Um mir das Befremden der Menschen zu ersparen. Neulich war ich zu einem Gala-Essen eingeladen. Das Literaturhaus in Frankfurt feierte sein 20-jähriges Bestehen. Ich saß mit sechs Industriellen und ihren Frauen am Tisch. Die konnten es nicht fassen, dass da einer sitzt, der mit dem Schreiben Geld verdient, dabei fand das Essen wie gesagt in einem Literaturhaus statt.
Der Außenseiter hat einen Vorteil: Er muss sich nicht nach den Normen der Gesellschaft richten. Er kann ganz er selbst sein.
Stimmt. Ich glaube nicht, dass man heute noch das Gefühl haben kann, ein Individuum zu sein, ohne gleichzeitig ein Außenseiter zu sein. Es gibt allerdings eine Voraussetzung: Man muss ein erfolgreicher Außenseiter sein. Die Rechnung muss aufgehen. Tut sie es nicht, ist man kein Individuum, sondern ein Verlierer. In meinem Fall: Ich muss von meinen Büchern leben können, denn ein älterer gescheiterter Schriftsteller ist das Fürchterlichste, was es gibt.
Der Protagonist Ihres neuen Romans kommt ins Gefängnis, der davor landete in der Psychiatrie. Müssen wir Angst um Sie haben?
Aber nein. Nur weil ich nicht einverstanden bin mit der Welt, heißt das nicht, dass ich unter ihr leide. Ich habe eine andere Taktik gefunden. Ich stelle mich den Schwierigkeiten nicht, ich gehe ihnen aus dem Weg und erlaube mir, die Welt mit den Augen eines Kindes zu betrachten.
Wie wünschen Sie das verstanden zu wissen?
Als Schriftsteller kann ich meiner Lebensunlust ungestraft nachgehen, ja, ich kann sogar Gewinn daraus ziehen. Ich muss nicht aufstehen, wenn ich nicht möchte, ich muss auch nicht ans Telefon gehen, wenn es klingelt. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich arbeite jeden Tag, aber wenn ich gerade ein besonders gutes Buch lese, lege ich mich nach dem Frühstück wieder hin und lese so lange, bis ich fertig bin.
Und die anderen Menschen müssen sich selbst belügen, um das Leben ertragen zu können?
So krass würde ich das nicht sagen. Ich mache mich auch nicht mehr lustig über Menschen, die voller Begeisterung einen Urlaub buchen oder sich eine neue Hose kaufen. Ich habe es akzeptiert, dass es Frauen glücklich macht, wenn sie sich neue Unterwäsche kaufen, obwohl sie keine brauchen. Mich ödet so ein Einkaufsbummel an, aber es scheint eine Lustquelle zu sein. Anders als früher kämpfe ich nicht mehr gegen Einzelheiten.
Vielleicht sind Sie mit 68 endlich erwachsen geworden?
Auf jeden Fall gelassener. Mit dreißig bin ich unrasiert und verwahrlost durch die Gegend gelaufen. Ich wollte alles sein, nur nicht modisch, und habe es jedes Mal genossen, wenn mich einer komisch schaute. Im schiefen Blick der Passanten spürte ich meine eigene Authentizität. Heute weiß ich, dass der Aufwand in keinem Verhältnis zur Sache steht.
Wogegen kämpfen Sie heute?
Gegen nichts. Ehrlich gesagt habe ich Mühe, mit Menschen klarzukommen, die erwachsen sind und einen Kampf gegen einen Autobahnzubringer führen.
In Ihren Büchern findet sich keine einzige politische Aussage, trotzdem lesen sie sich wie Systemkritik.
Ich fühle mich auch als Systemkritiker, aber wir haben nur dieses System, ein anderes ist nicht in Sicht. Deshalb bekämpfe ich es nicht, sondern verhalte mich wie meine Figuren. Ich suche das Arrangement, den nicht benutzten Nebenweg, der am wenigsten Ärger macht und häufig auch Glückshormone aussendet, weil er erstaunliche Unterhaltungsprogramme liefert: lustige Tiere, skurrile Menschen, merkwürdige Geschäfte, aus diesen Dingen kann man sich ein großartiges Programm basteln, vorausgesetzt, man ist neugierig genug und hat ein Vergnügen an sonderbaren Tatsachen.
Nebenwege beschreiten, die keinen Ärger bringen – ist das nicht ein bisschen feige?
Ich habe mir das nicht ausgesucht, es ist so gekommen. Es handelt sich um ein biografisches Programm. Eines Tages bin ich vor lauter Überdruss und Ekel bestimmte Straßen nicht mehr gegangen.
Ekel wovor?
Neulich war ich seit Langem wieder mal auf der Zeil in Frankfurt. Ich bin so erschrocken: dieses Getümmel, das Sich-Wälzen der Massen, die Billigläden, die Freizeithemden, die latente Aggressivität der Menschen; das Kind, das nach einem Eis schreit, und die genervten Eltern, in der einen Hand die Tüten, an der anderen die Leine mit dem Hund. Es war abstoßend und entwürdigend. Ich habe mich nicht bewusst für den Nebenweg entschieden, man findet ihn en passant. Ich habe diese Grundempfindung des Überdrusses und bin durch meinen Überlebenselan gezwungen, mich zu fragen, wo ich mich noch bewegen kann. Dieser Druck, der mich nach der Alternative suchen lässt, ist mein Glück.
Zur Person:
Bevor Wilhelm Genazino Ende der Siebzigerjahre durch die »Abschaffel«-Trilogie bekannt wurde, arbeitete er als Journalist, unter anderem für die Satire-Zeitschrift »Pardon«. Mit »Abschaffel« aber hatte er sein Lebensthema gefunden: die Zumutungen der modernen Welt aus der Sicht des kleinen Angestellten. 2004 erhielt Genazino den Büchner-Preis, sein neuer Roman »Wenn wir Tiere wären« war für den Deutschen Buchpreis 2011 nominiert. Wilhelm Genazino, der übrigens viel heiterer ist als seine Figuren, lebt in einer ruhigen Straße in Frankfurt am Main.