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35 Jahre nach der «Kritik der zynischen Vernunft»: Peter Sloterdijk seziert das zynische Bewusstsein zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Internet, Terror, politische Korrektheit, Migration: Alle vier Entwicklungen bringen tiefgreifende Wandlungen im Verhältnis von Herrschen und Lügen mit sich. Dabei trifft sich der Zynismus von oben immer öfter mit dem Zynismus von unten. Was bedeutet das für die Zukunft des Westens?

Es gehört zu den eindrucksvollsten Merkmalen der Hochkulturen, die seit dem ersten vorchristlichen Jahrtausend den Gang der Zivilisationsgeschichte befeuern, dass sie «den Menschen» mit zunehmender Explizitheit als ein Wesen auffassen, in dessen Natur es liege, Irrtümern zum Opfer zu fallen. Damit war nicht gemeint, «der Mensch» sei im alltäglichen Umgang mit Dingen und seinesgleichen nie ganz vor dem Risiko zu schützen, sich in der einen oder anderen Hinsicht zu täuschen. Die hochkulturellen Weltanschauungen dramatisieren das Durchdrungen-Sein des Daseins von der Spannung zwischen Wahrem und Falschem bis an einen Punkt, an dem es in Gefahr gerät, einer umfassenden Täuschung zu verfallen. Von Anfang an scheint es eingetaucht in eine Irrtums-Ganzheit, aus der es sich nur durch ausserordentliche spirituelle Anstrengungen loszulösen vermag oder, sofern diese nicht genügen, dank dem Entgegenkommen der aus menschlicher Eigenmacht unerreichbaren Wahrheit.

Gähnen hilft gegen akuten Zynismus, der sich mit den Täuschungen des Lebens arrangiert hat . . . (Bild: Richard Kalvar / Magnum)

Gähnen hilft gegen akuten Zynismus, der sich mit den Täuschungen des Lebens arrangiert hat . . . (Bild: Richard Kalvar / Magnum)

Irrtum, Lüge, Ideologie

Unterhalb der Ebene solch hochfliegender, halb mythologischer, halb metaphysischer Deutungen des Menschen als eines ursprünglich verblendungsempfänglichen und quasi a priori irrenden Wesens entwickelt sich in allen Kulturen zugleich ein pragmatisches Verhältnis zu den Tatsachen des irrenden Bewusstseins. Auf der alltäglichen Ebene weiss man auf die eine oder andere Weise, wie oft der Augenschein, den die anfängliche Wahrnehmung gewährt, sich als trügerisch erweist und dass manche richtige Ansichten erst auf den zweiten Blick zu gewinnen sind. Ebenso weiss man aus schlichter Erfahrung, gleich in welcher Kultur man lebt, dass nicht alles, was gesagt wird, zutrifft. Selbst wenn es wahr wäre, dass die Welt alles sei, was der Fall ist, wäre nicht alles, was gesprochen wird, durch das, was der Fall ist, gedeckt.

 Die Sprache funktioniert wie ein Eldorado der Fiktionen – dies gilt nicht erst im Licht der modernen Sprachkritik, wie sie durch Mauthner und Wittgenstein inauguriert und von der Schule der analytischen Philosophie entfaltet wurde. Schon das ursprüngliche Sprachverständnis oszilliert zwischen Leichtgläubigkeit und Argwohn, und sofern es die argwöhnische Haltung pflegt, nimmt es spontan die Haltung ein, durch deren Kultivierung hervorgeht, was man seit den Anfängen der Aufklärung «Kritik» nannte. Nietzsche ging so weit, zu behaupten, Misstrauen und Spottlust seien Zeichen von solider Gesundheit.

Das Misstrauen gegen Gehörtes und Gelesenes ist in dem Masse gerechtfertigt, wie die Sprache schon immer mehr darstellt als ein Medium zum Weitersagen von kulturspezifischen Weisheiten und Mythen. Es ist eine Elementarerfahrung des Rede-Wesens Mensch, dass die Rede nicht nur der Artikulation von Bona-fide-Irrtümern zugute kommt. Sie ist zugleich das Mittel zur bewussten und absichtlichen Verdrehung der Tatsachen. Wie nichts anderes eignet sich Sprache zur Verheimlichung von zweiten Gedanken und zur Verführung von Rezipienten durch Vorspiegelung eines konsensfähigen Scheins. Die Lügen-Rede erzeugt also durchaus nicht bloss eine unwillkürlich falsche Repräsentation der gegebenen Verhältnisse – obschon gewisse Verzerrungen von Mitteilungen sich aus der Naturgeschichte der Verstellung erklären lassen. Es mag angeborene Dispositionen zur Dissimulation und Täuschung geben – das vielen Menschen innewohnende schauspielerische Talent spricht für diese Annahme. Aber man lügt nicht aus Versehen. Keine falsche Aussage ist angeboren. Stets enthält die Lüge eine vorsätzliche Auflehnung gegen die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, eine Pflicht, die in den Hochkulturen mit pathetischer Explizitheit bekräftigt wird.

So tritt, nach dem primären unfreiwilligen Irrtum, die Lüge in der alltäglichen Phänomenologie des irrenden und irreführenden Bewusstseins als dessen zweite Gestalt auf den Plan. In ihr ist die Täuschung auf der Seite des Täuschenden von bewussten Absichten animiert, auf der Seite des Getäuschten wird sie unfreiwillig erlitten.

Nietzsche ging so weit zu behaupten, Misstrauen und Spottlust seien Zeichen von solider Gesundheit.

Sobald das Getäuschtwerden von Freiwilligkeit affiziert ist, entsteht die dritte Gestalt des irrenden Bewusstseins, das man, je nach dem Bezugsrahmen der Irrtums-Kritik, als Aberglauben, als Behexung durch Idole, als Ideologie, als Autosuggestion oder als «willentliche Ausserkraftsetzung des Nichtglaubens» bezeichnet – die Letztgenannte ist nach Coleridge charakteristisch für die Haltung ästhetischer Rezeption von manifesten Unwahrscheinlichkeiten in der Form der Kunstwerke.

Vom «Aberglauben» ist in den monotheistischen Theologien die Rede, seit der Glaube an den wahren einen Gott unterschieden werden soll von den Kulten der vielen Götter: Die gelten nach der Offenbarung des Einen als erlogene Phantome oder als Fiktionen der Furcht. Wenn die Götter tot sind, so weil die Theologen des Einen sie getötet haben. Sie waren es, die der aufklärenden Polemik gegen menschengemachte Trugbilder den Weg bahnten.

Die theologische Kritik an Gebilden des Aberglaubens, wie sie sich zwischen Irenäus von Lyon und Augustinus von Hippo geformt hatte, geht zu Beginn der Neuzeit in politisch und moralisch virulente Ideologiekritik über. Sie hält sich dieser Aufgabe für gewachsen, nachdem die westliche Rationalitätskultur sich genügend entwickelt hat, um die Strukturen und Inhalte des mystifizierten, unterdrückten und entfremdeten Bewusstseins auf Abstand zu halten – beginnend mit Bacons Aufzählung der Erkenntnis-verzerrenden Götzenbilder (das heisst der Idole des «Stammes» – womit das Menschengeschlecht insgesamt gemeint ist, der «Höhle» – womit persönliche Neigungen und Neurosen umschrieben werden, des «Marktes» – mithin des herrschenden Meinungsklimas, und schliesslich des «Theaters» – was sich sinngemäss auf den spätscholastischen Universitätsbetrieb bezieht.)

Der Baconschen Entrümpelungsaktion folgt Spinozas Spott über die historischen Religionen; sie setzt sich fort in Feuerbachs generalisierter Kritik der Religion als Projektion menschlicher Einbildungskraft. Sie kulminiert in der marxistisch inspirierten Kritik der proletarischen und kleinbürgerlichen Weltauffassungen.

Schliesslich mündet sie um die Mitte des 20. Jahrhunderts in die Kritik der «Bewusstseinsindustrie» geldgetriebener Massengesellschaften. Ein tragikomisches Nachspiel finden diese Kritiken in der Demontage des «Patriarchats», das im 20. Jahrhundert per se darniederliegt, und in der «Dekonstruktion» essenzialisierter Geschlechter-Differenzen, die seit geraumer Weile zur Flexibilisierung tendieren.

. . . doch darf man sich nicht täuschen lassen: Es sind beide Male dieselben Katzen, nur anders. (Bild: Richard Kalvar / Magnum)

. . . doch darf man sich nicht täuschen lassen: Es sind beide Male dieselben Katzen, nur anders. (Bild: Richard Kalvar / Magnum)

Der teuflische Pakt

Für die Gebilde der ideologischen Irrtumsstufe ist der halb bewusste, halb unbewusste Pakt zwischen den Lügnern und den Belogenen kennzeichnend. Mit Ideologie im präzisierten Wortsinn – als dritter Gestalt in der Formenreihe des irrenden und irreführenden Bewusstseins – hat man es folglich zu tun, solange eine mehr oder weniger explizite Produktion von suggestiven Idolen konvergiert mit der mehr oder weniger offenen Nachfrage nach erbaulichen Illusionen. Diese Konvergenz – oft unter religiösen, später überwiegend unter politisch-ethischen Vorzeichen codiert – erwies sich aus historischer Sicht als überaus erfolgreich, ihrer Labilität zum Trotz. Sie setzt sich überall durch, wo ein «Wille zum Glauben» – um mit William James zu reden – auf «Propaganda» trifft, sprich auf elaborierte und nachhaltige Überredungssysteme vom Typus Missionspredigt, Konfessionsliteratur, Sektenpresse und Parteiindoktrinierung.

Marxistische Autoren definierten die Ideologie zumeist als «notwendig falsches Bewusstsein», versäumten es jedoch in der Regel, über die Natur der «Notwendigkeit» der Falschheit Auskunft zu geben. In diesem Versäumnis nistet sich Unaufrichtigkeit ein. Bewusstsein ist wohl stets lokal, jedoch niemals «notwendig falsch». Ohne das Verlangen nach dem Unwahren, sofern es sich in einer gegebenen Situation als lebensdienlich erweist, fänden die kuranten Täuschungsangebote von den archaischen Pseudomedizinen bis zu den modernen Führerkulten keinen Absatz. Wie es, dem Satz des Aristoteles gemäss, bei allen Menschen ein ursprüngliches Streben nach Erkenntnis gibt, so auch ein gleich ursprüngliches Interesse an Täuschung. Hier berührt sich die jüngere Ideologiekritik mit den älteren Lehren von der primären Versenkung der Menschenwesen in den Irrtum. Friedrich Nietzsche: «Wir haben die Kunst, damit wir an der Wahrheit nicht zugrunde gehen.» Ernst Bloch: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, besonders wenn er keines hat.»

Der moderne Zynismus

In ihrem Zerfall, der seit dem späteren 18. Jahrhundert seine Symptome nicht verhehlt, setzt die scheiternde Ideologie den Zynismus frei: Von dem war zu gegebener Zeit zu zeigen, auf welche Weise er – über Irrtum, Lüge und Ideologie hinaus – die von der überlieferten Philosophie kaum beachtete vierte Gestalt in der Formenreihe des irrenden, irregeführten und irreführenden Bewusstseins bildet. Die «Kritik der zynischen Vernunft» (1983) geriet zu einem zugleich ironischen und ernsthaften Unternehmen, da ihr Gegenstand einen Zwitter aus Wahrheit und Unwahrheit darstellt: Seine dissonante Struktur wird in der Formel «Das aufgeklärte falsche Bewusstsein» abgebildet. Zu seiner Untersuchung ist die Kombination der «fröhlichen Wissenschaft» mit einer Theorie der unwillkommenen Wahrheit vonnöten.

1983: «Kritik der zynischen Vernunft»

rs. Peter Sloterdijk wuchtet vor 35 Jahren 1000 Seiten hin, zwei prall gefüllte Suhrkamp-Bände in zartem Rosa. Die Farbe trügt. Die Vertreter der Akademie merken bald, dass sich hier eine neue Stimme Gehör verschafft, die nichts gegen Disput hat – im Gegenteil. Sloterdijk greift nicht nur ein, sondern auch an: Seine «Kritik der zynischen Vernunft» avanciert zu einem philosophischen Bestseller.
Abgesehen hat er es darin auf die Ideologiekritik à la Horkheimer, Adorno und Habermas. Deren Prämisse: Ein falsches Bewusstsein – also eine Art Wahrnehmungsverzerrung – würde die Menschen in modernen Industriegesellschaften gefangen halten. Doch ist nach Sloterdijk die Praxis längst viel weiter als die Theorie. Denn (fast) alle haben begriffen: Machtverhältnisse kann man zwar lange kritisieren, aber man kann sie durch ein höheres Wissen nicht einfach aus der Welt schaffen. Es gibt keinen herrschaftsfreien Diskurs, wohl aber die Enttäuschung darüber, dass es keinen gibt. Und so schlägt der kritische Impuls irgendwann in Zynismus um. Sloterdijk: «Zynismus ist das aufgeklärte falsche Bewusstsein.»
Weinerlichkeit paart sich mit Skrupellosigkeit. Dieser Zynismus beginnt die Menschen aufzufressen. Was hilft? Wiederum Sloterdijk: «Heitere Respektlosigkeit». Er pflegt sie bis heute.

Unter Zynismus ist fürs Erste ein Enthemmungsphänomen zu verstehen: Das freimütige Sagen der Wahrheit – jene vom späteren Foucault gelobte Tugend der parrhesia – ersteigt in ihm die Stufe der Selbstdemaskierung. War die Heuchelei eine Verbeugung des Lasters vor der Tugend, so vollzieht der Zynismus die Absage der Lüge an die Konvention, sich idealistisch zu bedecken.

Dies hat die Lockerung des Maskenzwangs auf beiden Seiten des Ideologie-begründenden Illusionspakts zur Voraussetzung. Wenn die Oberen die Maske fallen lassen, verhehlen sie ihre Gleichgültigkeit gegen die ihnen offiziell zugewiesene Sorge um das Gemeinwohl nicht länger. Das Bonmot der Madame de Pompadour: après nous le déluge, der Überlieferung (oder Legende) nach gesprochen im November 1759 nach dem Eintreffen der Nachricht von der Niederlage französischer Truppen bei Rossbach gegen die Preussen, um ein elegantes Fest nicht unterbrechen zu müssen, illustriert die Tendenz zur Enthemmung der Noblen auf exemplarische Weise. Sie sind von der Überzeugung erfüllt, von der Sintflut würden sie selbst nicht mehr betroffen. Marie Antoinette, die Gattin von Louis XVI, soll auf dem Weg ins Boshafte einen Schritt weiter gegangen sein, als sie angesichts von Hungerprotesten in Paris den Ausspruch tat: «Wenn das Volk kein Brot hat, dann soll es doch Kuchen essen.» Das Bonmot könnte zu den Anekdoten gehören, die, um mit Giordano Bruno zu sprechen, wenn nicht wahr, doch gut erfunden sind.

In ihren Zynismen lassen die Herrschenden sich anmerken, dass sie es leid sind, die Mühe der Heuchelei auf sich zu nehmen. Sie glänzen mit der Ironie der Gut-Davongekommenen. Für sie sind Grössen wie Ehre, Anstand, Wahrheitsliebe, Takt und Einfühlung blosse Spielfiguren im grossen Welttheater. Sie geniessen die Überzeugung, sie dürften jederzeit das Recht auf Ausnahmen für sich beanspruchen. In unseren Tagen gehört Warren Buffett zu denen von ganz weit oben, die zuweilen meinen, keine Maske mehr nötig zu haben: «Es wird ein Klassenkrieg geführt, ganz recht, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die den Krieg führt, und wir gewinnen.»

Auf der plebejischen Seite entfesselt sich – nach der Auflösung des Stabilitätspakts für sozialverträgliche Illusionen – der Zynismus des «Pöbels». Die enthemmende Tendenz lässt sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit Händen greifen, vor allem in Frankreich – sie ist untrennbar von den Stimmungen vor-revolutionärer Unruhe. Zum Pöbel, im Sinne Hegels, zählt, wer sich für zu arm hält, um sich die Komödie der Anständigkeit leisten zu wollen. Was der Zynismus von oben mit dem von unten gemeinsam hat, ist der selbstgewährte Dispens von den Zumutungen einer allgemeingültigen Moral. Die zynische Skepsis kleiner Leute beruft sich nicht selten auf die Unmoral der Grossen. Wer auch immer die Anstandsregeln bricht, er gratuliert sich selbst zu seinem Realismus. Zu Recht schrieb Nietzsche: «Zynismus ist die einzige Form, in welcher gemeine Seelen an das streifen, was Redlichkeit ist.» («Jenseits von Gut und Böse», 26)

Das 20. Jahrhundert I

Die meisten Ideenhistoriker sind sich in der Auffassung einig, der Erste Weltkrieg habe den tiefsten Einschnitt in der Mentalitätsgeschichte der Moderne bewirkt – weit jenseits der Folgen der Pest im 14. Jahrhundert und des Nachhalls der Napoleonischen Kriege, die das 19. Jahrhundert als das Zeitalter der Massen und ihrer Mobilisierung inauguriert hatten. Wenn das 19. Jahrhundert, zumal in seiner ersten Hälfte, zu einer Ära der «Restauration» geriet, so weil der «wiederherstellende» Impuls den Willen zur Ruhigstellung der zwischen 1789 und 1815 entfesselten Kräfte mit einigem Erfolg in die Tat umsetzte. Die damals freigesetzten Motive – als Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus etikettiert – konnten nach Lage der Dinge nur zeitweilig angestaut, nicht dauerhaft neutralisiert werden.

Im Weltkrieg vollzog sich die Entladung der über ein Jahrhundert akkumulierten Energien. Ein Krieg neuen Typs, der neben den Kämpfern in Uniformen in zunehmendem Mass maschinelle Waffensysteme und chemische Kampfmittel ins Feld führte, setzte nicht nur Truppen in Marsch; er brachte das nach Dimensionen und Intensitäten unbekannte Phänomen der totalen Mobilmachung hervor, in welcher die Differenz zwischen Truppen und Zivilbevölkerung ausgelöscht wird. Nach der Juli-Krise, die in die reziproken Kriegserklärungen von Anfang August 1914 mündete, wurde erkennbar, in welchem Ausmass die ineinander verklammerten Mächte sich gezwungen sahen, auf die Waffengattung der Lüge zu setzen.

Die Lügen-Waffe hatte seit je die Funktion, das Feindbild eines Kollektivs nach aussen stabil zu halten; sie musste nun auch vor allem massiv nach innen angewandt werden, um «das Volk in Waffen», wie der Militärschriftsteller Colmar von der Goltz es in seiner Schrift von 1883 evoziert hatte, als Mystifikationsgemeinschaft zusammenzuschweissen. Sie beruht, über den gewöhnlichen Patriotismus hinaus, auf der populären Bereitschaft, um nicht zu sagen auf dem kollektiven Verlangen, von der eigenen Führung belogen zu werden.

Das Anlegen der nationalen Uniform ist Perspektivismus in Waffen. Verboten bleibt, was die Mobilisierung der Autosuggestionen stört.

Tatsächlich gelingt die psychische Mobilmachung nicht, solange man den kämpfenden Truppen nicht mit der Hilfe von patriotischen Priestern und Ideologie-Kommissaren suggerieren kann, sie zögen als Opfer von ungerechten Übergriffen des Feindes ins Feld. Diese Suggestion bildet den Kern aller Propaganda. Erst in der Auflehnung gegen die Zumutung, leidendes Opfer fremder Mächte zu sein, vollzieht sich die soldatische Subjektwerdung – die Wende von der legitimen Abwehr zum begeisterten Angriff auf den perfiden Feind.

Im Enthusiasmus erreicht die Autosuggestion die Stärke eines Missionsauftrags. Daher die Jubelbilder der Kriegsfreiwilligen vom August 1914, die im historischen Rückblick ebenso obszön wie rätselhaft erscheinen. Tatsächlich hatte es sich im Zeitalter der Massenaushebungen, die im Gefolge der Französischen Revolution zur neuen Norm des Kriegs geworden waren, als unmöglich erwiesen, die allgemeine Wehrpflicht im Kriegsfall durchzusetzen, ohne zugleich die Pflicht zur Einseitigkeit zu beschwören; man gewinnt keinen Krieg mit Soldaten, die für die andere Seite Verständnis haben. Die Festlegung auf die «eigene» Sicht der Dinge kommt einem Denkverbot gleich. Das Anlegen der nationalen Uniform ist Perspektivismus in Waffen. Verboten bleibt, was die Mobilisierung der Autosuggestionen stört. Autosuggestion ist der Stoff, aus dem der synthetische Heroismus des 20. Jahrhunderts gemacht ist.

Das 20. Jahrhundert II

Der heftigste Sturzbach zynischer Enthemmungen aufgrund von Ideologie-Zerfall ging über Europa freilich nieder, als sich die Waffenhandlungen ihrem Ende näherten. Man hat bisher kaum bemerkt, dass Lenin in seiner heute kaum noch gelesenen Schrift «Staat und Revolution», wenige Wochen vor der sogenannten «Oktoberrevolution» im finnischen Spätsommer 1917 verfasst, den weltgeschichtlichen Gipfel des Zynismus erklommen hatte. An diesem resolut doktrinären Versuch über das Wesen der Staatlichkeit ist ein wesentlicher Zug des Zeitgeists im frühen 20. Jahrhunderts abzulesen: Der extremste Zynismus setzt weder bloss die aristokratische Morbidität noch die klerikale Selbstparodie voraus, auch nicht das von Dostojewski dargestellte Ressentiment des gescheiterten Manns im Kellerloch. In seinen höchsten Ausprägungen geht er aus dem Geist strategischer Kalkulationen hervor, die mit geschichtsphilosophischer Tendenz geladen sind.

Lenins verkannter Beitrag zur Entfaltung zynischer Bewusstseinsstrukturen im 20. Jahrhundert folgt aus seiner Verteidigung des Opportunismus. Für den zum Äussersten entschlossenen Revolutionär muss gelten: Gelegenheit ist alles.

Die zentrale Aussage von «Staat und Revolution» lautet: Der Nationenkrieg erzeugt, wenn er lange genug dauert, die kollektive Demoralisierung, die die erwartete Gelegenheit zum Bürgerkrieg herbeiführt. Lenin wusste recht gut, warum er empfahl, den Teufel des äusseren Kriegs durch den Beelzebub des inneren auszutreiben, mit der Nuance, dass für diesmal der Bürgerkrieg – nach Auffassung der klassischen Politologie das summum malum der Staatenwelt – als Instrument zur Wende ins Gute alias Sozialismus dienen sollte.

Nicht umsonst hatte Lenin schon vor 1917 auf die Karte des «revolutionären Defaitismus» gesetzt. In der Tat entwickelten sich die Dinge in Russland zwischen 1917 und 1922 summarisch so, wie Lenins Schrift sie programmiert hatte und wie er sie in seiner makabren «Theorie der Atempause» zwischen den Kriegen vom März 1918 weiter erläuterte. Im Sankt Petersburger Oktober 1917 wurden nicht die Prämissen für den Übergang vom Feudalismus zum Sozialismus geschaffen: Der Februar desselben Jahres hatte den Übergang in eine republikanisch-demokratische Lebensform inauguriert; der Zar hatte abgedankt und stand nicht länger im Zentrum der Ereignisse. Was im Oktober eingeleitet wurde, war der Übergang vom Krieg gegen den Nationalfeind zum Krieg gegen den «Klassenfeind». Als nach dem von Trotzki organisierten Sieg der Roten über die Weissen, im Jahr 1922, die Sowjetunion ins Dasein gerufen wurde, über den Leichen von nicht weniger als fünf Millionen Menschen, konnte sie auf lange Sicht nichts anderes als die Heimstätte des real existierenden Zynismus werden.

Der sowjetische Zynismus war von Anfang an tragisch. Seine Protagonisten waren Idealisten, die im Fach Realpolitik promovierten. Lenin und die Seinen besassen nicht die nötige Morbidität, um subjektive Zyniker zu sein. Sie glaubten – sofern sie an etwas glaubten – an den objektiven Zynismus der Geschichte – gleichsam die materialistische Neufassung der «List der Vernunft». Die würde ihren Verkehrungen eines Tages recht geben. Bis dahin blieben sie gezwungen, ihre zweiten Gedanken zu verbergen.

Folglich gaben sie der organisierten Lüge vor der schamlosen Offenheit den Vorzug. Sie hielten sich an die Überzeugung, wonach der hohe Zweck die schlimmen Mittel rechtfertigt. Um ihr Gesicht zu wahren, trugen sie die Maske des guten Willens bis zuletzt. Wo sie tiefer nachdachten, verstanden sie sich als Märtyrer des unvermeidlichen Verbrechens. Noch dem postsowjetischen Russland ist die Imprägnierung durch den Lügenäther der offiziellen Sprachregelungen aus der Stalinzeit und danach allenthalben anzumerken.

Das 20. Jahrhundert III

Die zweite Kaskade von mentalen Konsequenzen des Weltkriegs fiel auf die Länder Mittel- und Westeuropas. Auch in ihnen manifestierten sich die Symptome der Demoralisierung, auf die sich Lenins Erwartung der Revolutionschance gestützt hatte, die «Diktatur des Proletariats» vor Augen. Die kritischen Geister der westlichen Nationen zogen auf ihre Weise Folgerungen aus den materiellen und moralischen Verwüstungen des Krieges. Ein momentaner Impuls führte bei einer Gruppe von in die Schweiz emigrierten Kriegsdienstverweigerern deutscher und französischer Herkunft im Jahr 1916 zur Gründung des Dadaismus. Man darf in ihm eine Radikalisierung der Satire sehen, die fürs Erste nicht viel mehr sein wollte als eine symbolische Widerspiegelung der Widersinnigkeit des Weltlaufs.

Aus der Verweigerung des Kriegsdiensts ging die Verweigerung des Sinn-Diensts hervor, ja, die Weigerung zur Mitwirkung an der «höheren Kultur» im Ganzen, sofern sie die Matrix der kriegerischen Exzesse bildete. Für die Ereignisse in Russland hatten die Berliner Dadaisten nicht mehr als bitteren Spott übrig; für sie war, was dort geschah, nur eine neue Deklination der Politik des «Blutigen Ernsts», so der Titel einer Dada-Zeitschrift. Der selbstproklamierte «Ober-Dada» Johannes Baader mokierte sich um 1920 über «die Proktatur des Diletariats» – als habe er verkünden wollen, allein der Nonsens sei noch «kritisch».

Als aus dem Dadaismus der Surrealismus hervorging, steigerte sich die Haltung der grossen Weigerung gegen die bellizistisch entstellte Welt zur Absage an jede Form von vulgärem Realitätsglauben. Die Surrealisten begnügten sich nicht mit der ästhetischen Revolte; sie intendierten die Emigration aus der Gewöhnlichkeit in all ihren Gestalten. Ihre Doktrin empfahl sich als Theorie und Praxis des Ausweichens in die Transzendenz. Die Praktikanten des Surrealen suchten ein Jenseits, in dem sich das Unbewusste mit dem Phantastischen und dem Überraschenden zu einer Gegenwelt verband. Sie postulierten eine Alternative zum Seienden im Ganzen. Als Emigranten aus dem Ernst des Lebens forderten sie das Wohnrecht im Unmöglichen.

Angesichts der Erosion des Sinns für Ernst, Wahrheit und Aufrichtigkeit lag es in der Natur der Dinge, dass nach 1918 neben dem Revolutionär und dem Surrealisten auch die Figur des Hochstaplers hervortreten musste, begleitet von der des Verbrechers mit unternehmerischen Instinkten – wie ihn Brecht in seiner «Dreigroschenoper», 1928, unter dem Namen Macheath auf die Bühne brachte. Das klassische Manifest der Escroquerie ist Walter Serner zu verdanken: Er überarbeite sein zynisch-antinomisches Dada-Manifest «Letzte Lockerung» von 1918 einige Jahre später im Geist der Neuen Sachlichkeit zu einem «Brevier für Hochstapler».

Das Dokument, 1927 erschienen (es ist auch das Jahr von Heideggers «Sein und Zeit»), gewinnt in unseren Tagen höchste Aktualität: Es illustriert, wie die einstmalige Geheimdevise «die Welt will betrogen werden» im frühen 20. Jahrhundert zu einem Gemeinplatz ausgeweitet wurde. Nun sickerte sie in die Betriebsrezepte von Unternehmensführungen und in das hysteroïde Ethos der Massenpresse ein. In den Nationen, in denen über Jahre hin die Weltkriegspropaganda entfesselt worden war, erwies sich die Rückkehr zu den Tonarten von Aufklärung und Mässigung als atmosphärisch unplausibel. Mochte auch der heisse Krieg vorüber sein, seine Spiegelung im Sensationalismus der Medien würde während des folgenden Jahrhunderts nie mehr ganz an ihr Ende gelangen.

Das 20. Jahrhundert IV

Wo der Revolutionär, der Surrealist, der Hochstapler und der expeditive Verbrecher zu einer einzigen Figur zusammengezogen werden, dort entsteht der synthetische Held des 20. Jahrhunderts auf politischem Boden: der duce, der generalissimo, der strongman, der Führer – nicht selten umgeben vom Mythos des Retters oder der Aura eines Delegierten der Vorsehung. Unnötig zu erklären, warum in ruhigeren Zeiten die Nachfrage nach solchen Gestalten abflaut; unter erhöhtem ökonomischem Stress haben sie erneut Konjunktur.

Es mag nichts Neues sein, dass im offenen Meer die grossen Fische die kleinen fressen; jetzt tun es die Raubfische im Aquarium der modernen Staatenwelt ihren Verwandten im Ozean gleich. Im Italien der zwanziger Jahre zirkulierte das Bonmot, die Zeiten seien hart, aber modern. Was das sagen will, erläutert Mussolinis Diktum, der fascismo sei der Horror vor dem bequemen Leben. Die Sehnsucht nach dem synthetischen Heroismus hat sich nie besser erklärt.

Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts wird der psychopolitische Mechanismus, der das 20. bestimmte, zunehmend durchsichtig: Regungen der radikalen Rechten sind nicht exklusiv an die Bedingungen der Nachkriegszeit von 1918 ff. gebunden – wenngleich der historische fascismo sich zunächst nur in seiner Epoche, sprich aus den Reaktionen auf die Resultate des Ersten Weltkriegs, begreifen lässt. Er war die mentale Spur der missglückten Demobilisierung in den Verlierer-Nationen. Dass er in Italien zuerst Form annahm, ist als eine Ironie der Geschichte anzusehen: Das histrionisch begabte Land gab auf diese Weise zu, sich unter die Verlierer zu rechnen, obwohl es sich pro forma zu den Siegern gesellt hatte. In den zwanziger Jahren führte Mussolinis Italien vor, wie aus der Demoralisierung einer vom Krieg destabilisierten Nation die Flucht in den simulatorischen Heroismus hervorgeht.

Zynismus im 21. Jahrhundert

Wenn man mit einem Satz die mentale Grosswetterlage des angebrochenen 21. Jahrhunderts charakterisieren sollte, im Westen wie im «Rest der Welt», er müsste lauten: Die Impostur ist zum Weltgeist geworden. Um die regressive Wende zu verstehen, sollte man sich bewusst machen, dass auch die weitere Gegenwart – die Spanne von 1990 bis 2018 – eine Variante des Phänomens «Nachkriegszeit» darstellt. Sie bildet die Ära, die auf den Kalten Krieg mit seinem paradoxen «Gleichgewicht des Schreckens» folgt. Sie weist die für solche Lagen typische symmetrische Verteilung von Gewinnern und Verlierern auf, ob sie Nationen im Ganzen umfasst oder prekäre Schichten innerhalb von Nationalstaaten.

Für Verlierer in Nachkriegszeiten, gleich ob von rechts- oder linksextremer Tendenz, ist nichts so bezeichnend wie die Weigerung, die Waffen abzulegen.

Das zornige Nicht-Verlieren-Können der Besiegten zwischen 1918 und 1933 spiegelt sich nach dem 11. September 2001 und in gewisser Weise auch nach der Bankenkrise von 2008 in zahlreichen politischen Bewegungen wider – namentlich in der westlichen Welt (zu welcher man ad hoc auch Indien und Brasilien rechnen muss) –, Bewegungen, die nicht selten rechtsextreme Fabrikationen mit linken Motiven verbinden, namentlich dem Appell an die hart arbeitenden einfachen Leute, die nach einem mühsamen Leben oft mit leeren Händen dastehen: Vergleichbares hatte man an Mussolinis fasci und an Hitlers Alternative für Deutschland – alias nationaler Sozialismus – ablesen können.

Für Verlierer in Nachkriegszeiten, gleich ob von rechts- oder linksextremer Tendenz, ist nichts so bezeichnend wie die Weigerung, die Waffen abzulegen. Für sie gilt durchwegs die Parole «Der Kampf geht weiter». Man darf sich nicht davon beirren lassen, dass es eine linksradikale Gruppierung im Italien der siebziger Jahre war, die das Motiv lotta continua explizit zu ihrem Namen wählte.

Das Schema des Kampfs, der weitergeht, wird heute von der radikal veränderten welt-psychopolitischen Konstellation modifiziert. Die bedeutendste in dieser ist ohne Zweifel, dass den westlichen Sozialdemokratien nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Argument aus der Hand genommen wurde, sie verkörperten gegenüber den Zuständen im östlichen Lager das geringere Übel. Mit ihm haben sie ein Gutteil ihrer raison d’être verloren. Ohne den Druck der während der Ära des Kalten Kriegs akuten Kommunismus-Drohung wird westliche Sozialdemokratie zunehmend unplausibel; sie lebte nicht zuletzt von dem Schlimmeren, das sie verhinderte oder zu verhindern vorgab. Sie wusste sich stets als das «kleinere Übel» darzustellen.

Durch den Wegfall der Drohung geriet das zeitweilig wirksame Management sozialer Ungleichheit durch die Liaison von Wachstum und Sozialstaat-Politik aus dem Ruder. Infolgedessen musste die Inegalitätsdynamik der geldwirtschaftlich bewegten Gesellschaftsstrukturen in der westlichen Hemisphäre wieder ungefiltert an den Tag treten. Die von den sozialdemokratisch codierten Hoffnungen auf Besserung im Stich gelassenen Teile der Populationen fühlen sich veranlasst, ihre Verhältnisse mit ernüchterten Augen zu betrachten. Ihre Desillusionierung wandelt sich wie über Nacht in Wut gegen das «System» als Ganzes: In dem fatalen Ausdruck kehrt eine Sprachregelung der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit kaum verändertem Akzent wieder.

Was sich gegenüber den Verhältnissen der Ära zwischen den Weltkriegen verändert hat, lässt sich summarisch durch vier in jüngerer Zeit emergierende Faktoren erläutern: die Revolution der Kommunikationsverhältnisse durch das Internet; die Umstellung der internationalen Verfeindungssysteme von Kaltem Krieg auf Terrorismusabwehr; die Heraufkunft des neomoralistischen Sprach-Codes, den man als political correctness bezeichnet; schliesslich die Entfesselung von Flüchtlingsströmen, die aus den Zonen akuter Unlebbarkeit in Attraktionsgebiete relativen Wohlstands und höherer Rechtssicherheit fliessen. Alle vier Entwicklungen bringen profunde Wandlungen in den Relationen von Herrschen und Lügen mit sich.

Expansion

An erster Stelle ist zu notieren: Mit der epidemischen Durchsetzung des Internets wurden sämtliche bisherigen Ausprägungen von «Expansionismus» auf unerwartbare Weise übertroffen. Die kürzlich auftauchenden «sozialen Medien» verleihen dem Diktum des britischen Kolonialpolitikers Cecil Rhodes, «expansion is all», eine von Grund auf neue Bedeutung. Sie bestätigen das Gesetz des positiven Feedbacks, auf dem alle modernisierenden Dynamiken beruhen: Was erfolgreich ist, wirkt selbstverstärkend.

Im gegebenen Fall heisst das: Aus Vernetzung wird mehr Vernetzung, aus Datenflüssen werden zusätzliche Datenflüsse, aus Veröffentlichungen werden mehr Veröffentlichungen – so wie aus Prominenz mehr Prominenz entsteht, aus Geld mehr Geld, aus Maschinen mehr Maschinen, aus Kunst mehr Kunst, aus Medizin mehr Medizin, aus Sport mehr Sport, aus Mode mehr Mode, aus Rechtsvorschriften mehr Rechtsvorschriften.

Der Expansionismus der Kommunikationen bewirkt die Konvergenz von Medienpräsenz und Sein. Hierin liegt der Grund dafür, dass die faktische Präsenz in Medien den Vorzug vor der Wahrheit des Präsentierten gewinnt. In kulturgeschichtlicher Sicht lässt sich der «postfaktische» Effekt sozialer Netzwerke mit einer galoppierenden Inflation vergleichen: Der Wahrheitswert eines Posts im Netz sinkt proportional zur Zahl seiner Rezipienten. Dieser Effekt verstärkt den latenten Zynismus des medialen Apparats, der sich gemäss seiner inhärenten Logik weigert, zwischen der Expansion einer Information und ihrem Wahrheitswert zu unterscheiden. Den Grenzwert der Entwicklung markiert die Auto-Pornografie des Celebretariats, das heisst die Selbstentblössung von mediokren Personen, die ihre Trivialität unverborgen zur Ansicht freigeben; daher so viele «Modelle», die man im angezogenen Zustand nicht wiedererkennt.

Terror

An zweiter Stelle ist festzustellen, dass nach dem Ende der Opposition von «Ostblock» und westlicher Allianz weltweit neuartige Verfeindungsverhältnisse in Erscheinung treten. Während die neuen sozialen Netzwerke eine Inflation der Privatlügen beflügeln, ist die gegenwärtige politische Sphäre einer innovativen Expansion der Staatslügen ausgesetzt. Bei dieser Verwandlung kommt dem Phänomen des «Terrorismus» die Schlüsselrolle zu. Durch den «Terror», den man nirgends und überall lokalisiert, transformiert sich das globale Kriegstheater in eine Bühne für asymmetrische Verfeindungen. Was auf ihr erscheint, wird von der Öffentlichkeit als Ungleichgewicht des Schreckens wahrgenommen.

In Wahrheit kann man dem Phänomen des Terrors nicht gerecht werden, solange man in ihm nicht den Kampf zwischen verschiedenen Stufen des getäuschten Bewusstseins erkennt. Er stellt eine Kommunikationstechnik mit phobokratischer Tendenz dar. Sein explizites Ziel ist die Korruption einer Bevölkerung durch Angstausbreitung. Er lässt die Hebelwirkung der Presse für sich arbeiten, die allein imstande ist, einen lokalen Anschlag zur nationalen und internationalen Irritation zu machen. Terror von aussen legt den endoterroristischen Zug der nationalisierten Öffentlichkeiten offen, wie er sich vom Beginn des Ersten Weltkriegs an ausgebildet hatte. Wer auch immer damals bereit war, sich chronisch belügen zu lassen, wird jetzt auch fähig sein, sich episodisch selbst in Angst und Schrecken zu versetzen.

Jede Terrorhandlung stellt einen Fall von praktiziertem Zynismus dar – oft ergänzt durch den Zynismus eines Sprechakts, mit dem man den Anschlag für sich reklamiert.

Wirksamer Terrorismus – es gibt auch nahezu unwirksamen: Von 1980 bis heute wurden zirka fünftausend Selbstmordattentate verübt, von denen in der westlichen Presse kaum der zehnte Teil erwähnt wurde – wäre nicht möglich ohne die seit den Tagen des Anarchismus offen ausgesprochene Annahme, dass es auf der Seite der Angegriffenen keine Unschuldigen gebe. Mag wohl zumeist der Zufall entscheiden, wer getötet wird, die Anklage durch die Tat findet auf dem Medienweg wie mit Notwendigkeit die gemeinten Adressaten. Es sind jene, die traditionell nicht nur betrogen werden wollen, sondern sich auch als Angegriffene fühlen möchten: Sobald «man» durch Schläge aus dem Hinterhalt getroffen wird, scheint unwiderlegbar bewiesen, dass «man» unter den Unschuldigen sei. Die Antwort beruht stets auf der Zurückweisung des im terroristischen Akt erhobenen Vorwurfs, wonach alle schuldig seien. Die Asymmetrie der Schuldzuweisungen erweist sich als unaufhebbar. Vergessen ist Robespierres strategisches Schreckenswort von 1794: «Wer jetzt zittert, ist schuldig» – je dis, quiconque tremble en ce moment est coupable. Eine analoge Asymmetrie erscheint hinsichtlich des Ethos solcher Taten: Hält der Terrorist sich selbst für einen bis zur Selbstlosigkeit mutigen Krieger, definiert ihn die angegriffene Seite unvermeidlich als einen «feigen Verbrecher».

Jede Terrorhandlung stellt einen Fall von praktiziertem Zynismus dar. Der Zynismus der Aktion wird nicht selten durch den Zynismus eines Sprechakts ergänzt, mit dem eine auf Aggression gepolte Organisation den Anschlag für sich reklamiert. Solche Unverhohlenheit wird von denen, die sich auf die Seite der Opfer stellen, unvermeidlich und aus ihrer Sicht zu Recht als Perversion verurteilt. Zumeist wird übersehen, in welchem Mass die angegriffene Seite durch terror-analoge Aktionen vorbelastet ist. Sobald Terroristen Terroristen Terroristen nennen, legt der Zeitgeist seine Karten offen.

In manchen Staaten – namentlich in Russland und in der Türkei – gehen scheindemokratische Regierungen so weit, nahezu alle Arten von Opposition als Terrorismus zu brandmarken, um ihnen gegenüber das Ausnahmerecht der Notwehr, ja sogar das Kriegsrecht in Kraft zu setzen. Hierdurch verbreitet sich das aus der Sowjetunion bekannte, inzwischen von China auf breitester Front kopierte Muster, nach welchem sich ein gewaltbasiertes politisches System auf die Position der Lüge zurückzieht, um seine zynische Tiefenstruktur – seine erodierte Ideologie – zu verhüllen.

Was sich heutzutage zeitbedingt geändert hat, ist allerdings, dass die Opfer des Staatsterrors nicht mehr als Konterrevolutionäre, Spione des Klassenfeinds, Saboteure und Reaktionäre «identifiziert», sondern schlechtweg als Terroristen bzw. als deren Sympathisanten inkriminiert werden. Das gegenwärtige Konfliktfeld gehört dem Clinch zwischen Lügnern, die sich gegen Terrorangriffe zur Wehr setzen, und Zynikern, die sich zur Gewalt bekennen, als ob sie Heilstaten vollbrächten.

Politische Korrektheit

Die dritte Aktualisierung des Zynismus entspringt aus Reaktionen auf die political correctness, die seit einem Vierteljahrhundert ein mehr oder weniger rigides Regime von Sprachregelungen und Verhaltenscodes durchgesetzt hat, ausgehend vom amerikanischen Campus mit seinen hochsensiblen Minderheiten, unterstützt von einer immerwachen Massenpresse auf der Suche nach dem anprangerbaren Fauxpas, aufgegriffen von Unzähligen, die Grund haben, anzunehmen, das freie Wort werde ihnen schaden.

Was man seit einigen Jahren mit dem suspekten Ausdruck «Populismus» benennt, ist in mancher Hinsicht nicht mehr als eine Reaktion – im quasi chemischen oder allergologischen Sinn des Worts – gegen das, was von vielen als der Sensibilismus überlauter Minoritäten und mehr noch als permanente Zensur durch eine inquisitionsartige Sprachpolizei empfunden wird. Für den «Populismus» – wir bleiben faute de mieux bei dem unglücklichen Ausdruck – und seine aktivierten Klienten erscheinen der heutige Staat und seine Öffentlichkeit wie eine Verabredung zwischen den Besserverdienenden, den Höhergebildeten und den geschult Empfindlichen – man fasst sie in dem irreführenden Begriff der «Eliten» zusammen. Wer sich von ihnen ausgeschlossen fühlt, braucht keine Erklärungen, warum er «ihr» «System» nicht als das seine empfindet.

Donald Trump

«Populismus» ist das gegenwärtige Stadium des Unbehagens in der Kultur. Mehr als dies, stellt er das Unbehagen im Modus des Gegenangriffs zur Schau. Es erübrigt sich, den Effekt am Beispiel des amtierenden US-amerikanischen Präsidenten zu erläutern. Der Politiker-Entertainer Donald Trump wird in die jüngere Zivilisationsgeschichte als Beispiel dafür eingehen, wie dank einer seit längerem eingeübten Enthemmung vor Publikum der Zynismus von oben mit dem Zynismus von unten zusammenfindet. Seine Auftritte lösen bei seinen Anhängern Begeisterung aus, weil er über Forderungen nach Zivilisierung hinweggeht wie ein rollender Stein.

Trump ist nicht bloss ein Lügner, der Kritiker seiner Entscheidungen und die Entlarver seiner Lügen Lügner nennt; er demonstriert, wie die Lüge ins Zeitalter ihrer künstlichen Unwiderlegbarkeit übergeht. Dem russischen Magier-Mönch Rasputin, der vor dem Umbruch von 1917 die Zarenfamilie verzauberte, wird die Äusserung zugeschrieben: «Die Kraft ist die Wahrheit.» Politiker vom Typus Putin und Trump würden hinzufügen: Wahrheit ist das, was sich aus der Lüge machen lässt. Im Übrigen ist nicht länger zu verkennen, dass der «erfolgreiche Unternehmer Trump» eine Kunstfigur in Putins Spiel gegen den Westen darstellt. Die von russischen Hackern und Trollen ausgehenden Manipulationen der Wahl vom November 2016 lassen sich nicht mehr leugnen; ja, Timothy Snyder hat ohne Zweifel recht, wenn er Trump einen Gefechtskopf im russischen Cyber-War gegen die westliche Demokratie nennt.

 Migration

Schliesslich ist an den Flüchtlingsströmen, die nach Europa und in sonstige relative Wohlstandszonen der Erde drängen, abzulesen, wie die okzidentale Ideologie des abstrakten Universalismus unter Druck gerät – mit Folgen, die das Ökosystem von Wahrheit und Lüge in den Zielgebieten der grossen Wanderungen betreffen.

Der erhöhte Zuwanderungsdruck zieht eine Neugliederung der Felder von Gastrecht, Aufenthaltsrecht, Asylrecht und Einwanderungsrecht nach sich. Die westlichen Nationen befinden sich inmitten von juristischen und politischen Reformturbulenzen. Schwer aufklärbare Konfusionen überschatten die öffentliche Diskussion; die Krise der Zugehörigkeiten hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht; der Streit um die Justierung der nationalstaatlichen Grenzen zwischen den Polen von Offenheit und Undurchlässigkeit nimmt zunehmend heftigere Formen an. Schon jetzt ist zu erkennen, wie der universalistische Elan des Asylrechtsgedankens – gleichsam des humanen Kerns der Demokratien – schweren Schaden nimmt, sobald die Zahl der an Zuflucht Interessierten die Aufnahmekapazität der Zielländer übersteigt.

Wenn ein politisches System die Endlichkeit seiner Bemühungen um humanes Handeln eingestehen muss, ist das zynische Selbstdementi der gestern gegebenen Rechtszusagen nicht weit. Dieser korrosive Effekt lässt sich durch die Berufung auf den Grundsatz ultra posse nemo tenetur – «übers Können hinaus ist niemand zu Hilfeleistungen verpflichtet» (§ 275 BGB) – nicht ausreichend kompensieren, analog: impossibilium nulla est obligatio (Digesta 50.17.185).

Die Formulierungen des westlichen Asylrechts enthalten offenkundig überschwängliche Momente, die ihre Brüchigkeit verraten, sobald der Stress durch das Reale die Schwelle des Machbaren überschreitet. Zugleich ist solcher Überschwang als prä-konstitutionelles Medium des Daseins unter einer demokratischen Verfassung unentbehrlich, weil er das Engagement des Gemeinwesens zugunsten seiner stets weiterzuführenden Selbstverbesserung belebt. Wo er fehlt, nehmen die mit Demokratie unverträglichen Stimmungen des politischen Masochismus und der Unterwerfung unter die vermutete Unverbesserlichkeit der conditio humana zu.

Die Grenzen des Könnens sind naturgemäss immerfort fliessend; sie werden in letzter Instanz vom Wollen gesetzt. Der im Westen um sich greifende «Populismus» mobilisiert Nicht-Wollen unter dem Vorwand des Nicht-Könnens. Aus ihm entstehen Enthemmungen, die an die schlimmsten Jahre Europas im vorigen Jahrhundert erinnern. Einige rollende Steine im Osten Deutschlands haben aus dem, was sie im Sinn haben, kein Geheimnis gemacht: Je mehr «von denen» im Mittelmeer ertrinken, desto besser «für uns». Dem antworten hilflos schrille Stimmen des prohumanitären Lagers, wenn sie Inseln wie Lampedusa und andere «Ankunfts»-Zentren vor den Küsten Südeuropas als «Auschwitz am Meer» bezeichnen.

Ausblick

Die beschriebenen Tendenzen lassen sich nicht unter zwingenden Oberbegriffen resümieren. Sie haben, jede auf ihre Weise, Anteil an der Inflation des Prinzips mundus vult decipi (die Welt will betrogen werden). Die einen scheinen entschlossen, sich nicht länger betrügen zu lassen; sie fühlen sich von den Gut-Davongekommenen im Stich gelassen und neigen dazu, der erstbesten falschen Versprechung Raum zu geben. Zumeist sind sie nicht willens, zu gestehen, dass sie nach einem alternativen Betrug suchen. Die anderen arbeiten an der Modernisierung der ineinander verschränkten Lügensysteme.

Zwischen ihnen stehen die Freunde der Wahrheit, offensichtlich in die Minderheit geraten und kaum noch fähig, ihre Atemnot zu verbergen. Von ihrem Verhalten wird es abhängen, ob wir einen zweiten Atem der Demokratie erfahren oder ob die Welle des zynischen Obskurantismus, die gegenwärtig vor allem von Russland und einigen muslimischen Ländern ausgeht, den Westen und den «Rest der Welt» mit sich reissen wird.

Peter Sloterdijk ist Philosoph. Sein Werk erscheint im Suhrkamp-Verlag.