Ist das Gehirn ein Computer? Wie lautet der neuronale Code? Können Hirnforscher Gedanken lesen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die nächste Veranstaltung der Reihe „Überlebensstrategien“. Antworten geben Prof. Dr. Andreas Draguhn vom Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Medizinischen Fakultät Heidelberg und Prof. Dr Hilmar Bading vom Interdisziplinären Zentrum für Neurowissenschaften der Universität Heidelberg. Getragen wird die Veranstaltungsreihe von den Sonderforschungsbereichen der Ruperto Carola, in denen zentrale Fragen der molekularen Lebenswissenschaften bearbeitet werden;

sie ist ein gemeinsames Projekt mit der Rhein-Neckar-Zeitung. Die Veranstaltung „Gehirn“ findet am 8. November 2018 im Karlstorbahnhof statt und beginnt um 19.30 Uhr.
Wie überleben Lebewesen – vom Einzeller über Pflanzen und Tiere bis zum Menschen – unter widrigen Umständen und schwierigen Bedingungen? Mit der Reihe „Überlebensstrategien“ suchen die lebenswissenschaftlichen Forscher der Universität Heidelberg das Gespräch mit der breiten Öffentlichkeit und haben dazu ein besonderes Format gewählt: Im Karlstorbahnhof in entspannter Lounge-Atmosphäre führen sie in ausgewählte Fragestellungen, Methoden und langfristige Ziele der molekularen Lebenswissenschaften ein. Redakteure der RNZ-Stadtredaktion gestalten die Gesprächsführung: Ihre Fragen und Perspektiven bilden die Brücke zum Publikum, das in den Dialog einbezogen wird. Die sechs weiteren Veranstaltungen der Reihe mit musikalischer Begleitung durch Mitglieder des Collegium Musicum finden bis zum Juli 2019 jeden zweiten Donnerstag des Monats statt.
Prof. Draguhn ist Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Funktionelle Ensembles: Integration von Zellen, Genese von Aktivitätsmustern und Plastizität von Gruppen ko-aktiver Neurone in lokalen Netzwerken“ (SFB 1134). In diesem Verbund erforschen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen das komplexe Zusammenspiel von Nervenzellen und untersuchen wiederkehrende Muster, die den menschlichen Bewegungen, Gedanken und Wahrnehmungen zugrunde liegen. Aus der Arbeit des SFB berichten der Physiologe Andreas Draguhn und der Neurobiologe Hilmar Bading. Dabei wird es insbesondere um den „neuronalen Code“ gehen – also darum, wie im Gehirn zum Beispiel Erinnerungen, Pläne oder Gefühle entstehen. Was kann die moderne Hirnforschung erklären, wo liegen ihre Grenzen? Die Einführung und Moderation der Veranstaltung übernimmt Birgit Sommer von der RNZ-Stadtredaktion.
SFBs sind Forschungsverbünde, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert werden und sich aus 15 bis 20 Arbeitsgruppen zusammensetzen. Während Sonderforschungsbereiche in der Regel an einer Universität angesiedelt sind, verteilen sich die SFB/Transregio-Verbünde auf zwei oder drei Standorte. Projekte, die innerhalb eines SFB gefördert werden, behandeln eine übergreifende Fragestellung der Grundlagenforschung aus
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unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Techniken über einen Zeitraum von bis zu zwölf Jahren. An der Universität Heidelberg sind aktuell zwölf Sonderforschungsbereiche und SFB/Transregios mit lebenswissenschaftlichen Fragestellungen angesiedelt; eine weitere Initiative ist in Vorbereitung. Beteiligt sind Forscherinnen und Forscher aus den beiden Medizinischen Fakultäten, den Biowissenschaften, der Chemie und der Physik sowie Wissenschaftler aus den Partnereinrichtungen vor Ort und in der Region. Das Spektrum der Forschungsthemen reicht von Stammzellen und chronischem Schmerz über Hepatitis-Viren und Leberkrebs bis hin zur Haut als Sensor für Immunreaktionen. Über alle Disziplinen hinweg gibt es an der Universität Heidelberg derzeit 22 Sonderforschungsbereiche und Transregio-Verbünde.
Informationen im Internet: Reihe „Überlebenstrategien“ – www.uni-heidelberg.de/termine/ueberlebensstrategien SFB 1134 – http://sfb1134.uni-heidelberg.de

 

 

Hirnforschung: Kann er Gedanken lesen?

Einem Hirnforscher ist es gelungen, mit Menschen in Kontakt zu treten, die vollständig gelähmt, aber noch bei Bewusstsein sind. Was er erfuhr, hätte niemand erwartet

Acht Jahre nachdem in einem italienischen Dorf eine Familie ins Unglück stürzte, tiefer und tiefer, je weiter die Zeit voranschritt, ist ein Mann auf dem Weg, ihr neue Hoffnung zu bringen. Niels Birbaumer, klein und weißhaarig, 72 Jahre alt, Professor für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie an der Universität Tübingen, 609 wissenschaftliche Publikationen, 27 veröffentlichte Bücher, 15 Auszeichnungen, drei Ehrendoktorwürden, steuert seinen Wagen eine Landstraße westlich von Venedig entlang. Alte Einfachheit zieht vorüber, bescheidene Häuser, flache Felder. Dann hält er vor einem gebrechlichen Anwesen.

Kaum ist er ausgestiegen, läuft ihm ein Herr Mitte siebzig entgegen, die Arme ausgebreitet, er strahlt: „Professore, wir sind so glücklich, dass Sie da sind.“

Luigi Furin packt Birbaumer an den Schultern, vergräbt den schmächtigen Mann in seinen Armen und ruft: „Endlich!“ Zögerlicher, ehrfürchtig fast, kommt hinter ihm seine Frau Caterina zum Vorschein, zierlich, dunkles Haar, sie lächelt Birbaumer zu. Zu dritt gehen sie über den Hof ins Haus. Die Eltern reden über ihren Jungen, über Fabio, ihren Fabietto. Seinetwegen ist Birbaumer gekommen. „Er ist bestimmt ganz aufgeregt“, sagt Caterina Furin.

In einem Zimmer warten gedrängt ihre Tochter Carlotta, deren zweijähriger Sohn sowie drei Mitarbeiter Birbaumers, medizintechnische Ingenieure, die vor ihren Laptops sitzen. Seit zwei Tagen sind sie bereits bei der Familie. Sie haben Fabio vorbereitet auf diesen Moment. Birbaumer lächelt, sagt zu den Eltern: „I miei cretini“, meine Dummköpfe, er deutet auf seine Männer, „haben euch hoffentlich keine Sorgen bereitet.“

Die Ingenieure schmunzeln, sie kennen seine Art, Herzlichkeit zu zeigen. Birbaumer schaut sich kurz um, dann tritt er an das breite Bett in der Ecke des Raumes. Der Boden knarzt. An der Wand pendeln elf Kuckucksuhren, auf dem Nachttisch seufzt ein Beatmungsgerät im Takt Luft aus. „Hallo, Fabio“, sagt Birbaumer mit gedämpfter Stimme und beugt sich hinunter.

Im Bett liegt, regungslos und unter dicken Decken, Fabio Furin, 38, ein hagerer Mann, die Augen geschlossen, die schwarzen Haare geschoren, ein Bart deckt die eingefallenen Wangen.

„Na, wie geht’s dir?“, sagt Birbaumer, der fließend Italienisch spricht. „Ganz schön was los hier heute.“

Fabio, Sohn und Bruder, ist, so lautet der Fachterminus, „completely locked in„, komplett eingeschlossen. Gefangener des eigenen Körpers. Er kann sich nicht bewegen, ist vollständig gelähmt. Er kann nicht selbst atmen, ist unfähig, mit der Welt in Kontakt zu treten, obwohl sein Gehirn nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen arbeitet wie das eines Gesunden, er fühlen, hören, schmecken kann und mitbekommt, was um ihn herum geschieht.

Stille. Der ganze Raum wie betäubt. Dann färbt sich der Bildschirm rot. Fabio denkt

Vor acht Jahren erhielt Fabio Furin die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose, ALS, eine Nervenkrankheit, unheilbar: Nervenzellen, die Fabios Muskeln steuerten, starben ab. Seine Arme und Beine verweigerten den Dienst. Seine Zunge, seine Lunge und seine Stimmbänder hörten auf zu funktionieren. Fabios Muskeln, weil ohne Impuls und Aktivität, degenerierten.

Sein Gehirn koppelte sich ab vom Rest des Körpers, kein Signal drang mehr durch zu den Muskeln. So blieb sein Bewusstsein erhalten, während jede Bewegung verging. Fabio Furin ist ein wacher Geist in einer leblosen Hülle.

Oft können sich Eingeschlossene noch minimal äußern. Der ehemalige Chefredakteur der französischen Frauenzeitschrift Elle, Jean-Dominique Bauby, wachte nach einem Schlaganfall in einem Krankenhaus fast völlig gelähmt auf. Mit der ihm einzig verbliebenen Möglichkeit, sich mitzuteilen – dem Blinzeln des linken Auges –, diktierte er seine Memoiren Schmetterling und Taucherglocke, die später verfilmt wurden.

Fabio kann nicht einmal mehr blinzeln. Im Frühling versagte sein letzter Muskel, eine Zuckung in der rechten Wange, und damit die Fähigkeit, Ja oder Nein zu signalisieren. Fabios Gedanken versanken ins Unergründliche.

Birbaumer ist nach Italien gekommen, um sie wieder hervorzuholen. Er will der Familie helfen, zu verstehen, was hinter Fabios blasser Stirn vor sich geht, will ihm, der schon so lange verstummt ist, wieder eine Stimme geben. Dafür muss er Fabios Gedanken lesen.

Niels Birbaumer ist es als erstem Wissenschaftler gelungen, mit komplett eingeschlossenen Menschen in Kontakt zu treten, indem er entschlüsselt, was in ihrem Kopf vor sich geht.

„Zusammen schaffen wir das“, sagt er zu Fabio, und zu seinen Leuten: „Gut, legen wir los.“

Ujwal Chaudhary, ein 34-jähriger Inder und langjähriger Mitarbeiter Birbaumers, klebt Elektroden auf Fabios Kopfhaut und stülpt ihm vorsichtig eine Kappe aus Neopren über, darauf 16 Sensoren, verbunden mit dem Laptop. Sein brasilianischer Kollege prüft, ob alles passt.

Luigi Furin setzt sich auf den Stuhl am Bett seines Sohnes, neben ihm Frau und Tochter. Birbaumer steht am Kopfende.

Alessandro Tonin, ein italienischer Doktorand, den Birbaumer vor einem halben Jahr in sein Team holte, erklärt Fabio, was nun geschehen wird: „Der Computer wird dir gleich zwanzig Fragen stellen, die du mit Ja oder Nein beantworten kannst. Die Fragen hat deine Schwester vorher zusammengestellt und eingesprochen. Wenn du mit Ja antwortest, denk bitte so lange Ja, bis die Computerstimme ›Grazie‹ sagt. Das sind fünfzehn Sekunden. Bei Nein ist es genauso.“

Tonin schaut zu Birbaumer, der nickt ihm zu. Tonin drückt am Laptop auf die Enter-Taste. Aus zwei Lautsprecherboxen fragt, deutlich und laut, die vertraute Frauenstimme: „Ist Carlotta deine Schwester?“

Luigi Furin starrt in seine abgehärteten Hände. Carlotta, neben ihm, beißt sich auf die Unterlippe. Ihre Mutter faltet die Finger ineinander, hofft. Muss sich Fabio nach all den Monaten völliger Isolation nicht längst aufgegeben haben? Wird er den Weg zurück zu ihnen finden?

Denkt ein Mensch Ja, wird sein Gehirn anders durchblutet

Wenn ein Mensch denkt, findet im Gehirn eine biochemisch-elektrische Reaktion statt. Das Messsystem, an das Fabio jetzt angeschlossen ist, macht diesen Prozess sichtbar. Leuchtdioden an der Kappe auf seinem Kopf senden langwelliges Infrarotlicht durch seinen Schädel, die Sensoren in der Kappe fangen das zurückgeworfene Licht ein, auf dem Laptop können die Wissenschaftler erkennen, welche Regionen in seinem Gehirn gerade aktiv sind.

Stille. Der ganze Raum wie betäubt. Dann beginnen auf dem Bildschirm plötzlich zwei grüne Flächen ihre Farbe zu ändern, werden orange, dann rot. Fabio denkt.

Die Farbverschiebung zeigt in Echtzeit an, was gerade in seinem Gehirn vor sich geht: Der Blutfluss verändert sich, die Sauerstoffkonzentration steigt an, vom Computer dargestellt durch die rötliche Tönung. Und das bedeutet, Fabio konzentriert sich auf einen Gedanken. Im Geiste beantwortet er die Frage, ob Carlotta seine Schwester ist. Er denkt: „Ja.“

„Grazie“, antwortet die Stimme aus dem Rechner. Auf dem Stuhl ballt der Vater die Faust, Carlotta grinst, ihre Mutter blickt zu Boden und lächelt ins Leere. In allen Augen: Erleichterung, Freude. Fabio ist da. Er hat zu ihnen gesprochen.

Denkt ein Mensch Ja, wird sein Gehirn anders durchblutet, als wenn er Nein denkt. Aber wie sehr und in welchen Hirnregionen sich der Blutfluss ändert, ist individuell unterschiedlich. Die Fragen, die Fabio nun zu hören bekommt, sind deshalb Fragen, deren Antworten die Familie und vor allem der Computer bereits kennen. So kann die Maschine genauer begreifen, welche Hirnaktivitäten bei Fabio Ja bedeuten und welche Nein.

Ohne Pause geht es weiter: „Kommt deine Mutter aus Sardinien?“ Die grüne Fläche auf dem Monitor müsste sich rot verfärben, seine Mutter wuchs auf Sardinien auf.

Sekunden vergehen, nichts passiert, Grün bleibt Grün. „Grazie.“ Der Computer hat die Antwort nicht erkannt.

Der Sauerstoffgehalt verringert sich. Und das bedeutet: Der Patient hat Nein gedacht

„Ganz normal am Anfang“, flüstert Birbaumer. Vielleicht hat Fabio nicht intensiv genug Ja gedacht, vielleicht ist ihm etwas anderes in den Sinn gekommen.

Bei der nächsten Frage wird aus dem Grün ein Blau. Der Computer stellt weniger Hirnaktivität fest: Der Sauerstoffgehalt verringert sich. Und das heißt Nein: Fabio antwortet, dass er nie tätig war bei einer Bank.

Aus den Lautsprechern dringt jetzt Frage um Frage. „Heißt dein Hund Hope?“, „Warst du bei den Pfadfindern?“, „Hast du mal Posaune gespielt?“.

Mal antwortet Fabio richtig, mal erkennt der Computer nicht, was er denkt. Nach einer Stunde ist die erste Fragerunde zu Ende.

Tonin sagt: „Das ist ziemlich gut gelaufen, Fabio. Einige Antworten hat der Rechner nicht erkannt …“

„Aber“, unterbricht Birbaumer, „das ist kein Problem. Mach dir keine Sorgen. Das wird. Denk weiter so stark!“

Er geht hinaus in den Hof und lässt sich auf eine Bank fallen. Der erste Schritt ist gemacht. Fabio hat wieder Kontakt zur Außenwelt. Vielleicht können sie heute schon damit anfangen, Fragen zu stellen, deren Antworten sie noch nicht kennen. Vielleicht auch die wichtigste: Geht es dir gut?

Eine absurde Frage auf den ersten Blick. Einem Menschen, der nicht mehr ist als ein Gefangener seines gelähmten Körpers, kann es nicht gut gehen. So denkt man als Gesunder. Aber womöglich, sehr wahrscheinlich sogar, ist dies ein Irrtum.

An einem Nachmittag im Frühjahr, als er noch nichts von Fabio und dessen Schicksal weiß, sitzt Birbaumer am Esstisch seines Hauses in Mössingen, einem Dorf nahe Tübingen. Seit ungefähr 1992 wohnt er hier, genau wisse er das nicht mehr, sagt Birbaumer. In Tübingen, dieser Akademikerstadt, dieser Spießerstadt, halte er es nie lange aus. „Dann lieber dieses gottverlassene Nest.“ Ein Idyll. Draußen erwärmen erste Sonnenstrahlen üppige Felder und gepflegtes Fachwerk, drinnen duftet es nach Tee und alten Büchern. Ruhe herrscht. Endlich.

Birbaumer ist seit Wochen ständig unterwegs, hält Vorträge, gibt Interviews. Auslöser ist ein Artikel, den er und sein Team in einer Fachzeitschrift veröffentlicht haben. Sie beschreiben darin den ersten erfolgreichen Versuch, mit vier komplett eingeschlossenen Menschen zu kommunizieren. Der Bericht ging um die Welt. Die britische Tageszeitung The Guardian schrieb von einem „groundbreaking system“, einem bahnbrechenden Verfahren, aus allen Zeitzonen riefen Journalisten bei Birbaumer an und wollten wissen, wie ihm als weltweit erstem Forscher gelang, was eigentlich doch unmöglich scheint: die Gedanken eines völlig gelähmten Menschen zu lesen.

Die Schlagzeilen kündeten allerdings nicht allein von der erfolgreichen Kontaktaufnahme. Sondern auch davon, was die Kranken kraft ihrer Hirnaktivität mitgeteilt hatten, und das war Erstaunliches. Von Birbaumer nach der Lebensqualität gefragt, über Wochen hinweg, hatten alle Patienten geantwortet, es gehe ihnen gut.

In einem solchen Zustand, in dem der Mensch kaum mehr Mensch ist? In dem er nicht lachen, nicht laufen, arbeiten, küssen kann?

In Birbaumers Institut haben sie die Lebensqualität von 80 ALS-Kranken, die noch nicht ganz eingeschlossen waren, mit der von 80 depressiven Menschen und 80 gesunden verglichen. Das Ergebnis: Die ALS-Erkrankten fühlten sich zwar deutlich schlechter als die Gesunden, aber deutlich besser als die Depressiven. Auf der Zufriedenheitsskala bewegten sie sich im unteren, aber noch normalen Bereich.

Ein Koma-Experte der Universität Lüttich führte 2011 eine ähnliche Studie durch und fragte 65 Locked-in-Patienten, die mindestens noch blinzeln konnten, ob sie glücklich seien. Drei Viertel von ihnen bejahten. Es gibt noch weitere Untersuchungen, sie alle kommen zu dem Schluss, dass die Kranken ihre Situation ganz anders einschätzen, als Außenstehende sie wahrnehmen.

Kern menschlichen Daseins ist der Austausch von Gedanken

Wenn ein körperlich gesunder Mensch, gefangen in verzweifelten Gedanken, größeres Leid verspürt als ein in seinem unbeweglichen Körper gefangener – was folgt daraus? Wie wichtig ist der Geist, wie wichtig der Körper für das Empfinden der Seele?

Auch Niels Birbaumer bedrängten diese Fragen. Er wollte am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, ganz auf sein Inneres zurückgeworfen zu sein. Ein Experiment sollte es ihm verraten.

Curare ist ein Pfeilgift, tödlich in Sekunden. Indigene Völker in Südamerika gehen damit auf Jagd. Trifft ein mit Curare getränkter Pfeil sein Opfer, hemmt das Gift die Rezeptoren im Muskel- und Nervensystem. Die Muskeln werden gelähmt, die Atmung setzt aus. Der Geist aber bleibt bis zum einsetzenden Tod unversehrt. Das Opfer kann denken und wahrnehmen – wie beim Locked-in-Syndrom.

Unter Aufsicht eines Anästhesisten, der ihn durch künstliche Beatmung im Leben hielt, führte Birbaumer Anfang der siebziger Jahre als junger Forscher durch, was er einen interessanten Versuch, andere nur verrückt nannten. „Als das Gift in mich eindrang, ging es ganz schnell: Zack, und nichts ging mehr. Außer der hier“, sagt Birbaumer und klopft sich mit der flachen Hand gegen den Schädel. Das Gefühl? „Durch die Lähmung können die Muskeln nicht mehr verkrampfen. Der Körper kann nicht mehr auf Angst reagieren, das führt zu völliger Entspannung.“ Natürlich sei das nicht zu vergleichen mit dem, was seine Patienten durchlebten. Es gebe allerdings teilweise Aufschluss darüber, weshalb sich viele Eingeschlossenen wohlzufühlen scheinen.

Aber, Herr Birbaumer, was ist das dann überhaupt: Menschsein, Leben, Glück?

„Kennen Sie den Ludwig Hohl?“, fragt er zurück. Dieser Schweizer Philosoph habe mal geschrieben, mit dem Ende der Kommunikationsfähigkeit sei auch das Leben vorbei. „Der Hohl hatte recht.“

Für Birbaumer ist der Kern menschlichen Daseins der Austausch von Gedanken mit anderen. Der Mensch wolle sich mitteilen, reden, gehört werden, und dafür brauche es ein Du, ein Gegenüber, das zuhört, antwortet, versteht. Deshalb sei es so wichtig, mit den Eingeschlossenen in Kontakt zu treten, mit ihnen zu sprechen, sie zu berühren, ihnen das Gefühl zu schenken, noch inmitten dieser Welt zu sein.

Niels Birbaumer, geboren am 11. Mai 1945, drei Tage nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, hatte schon von Jugend an eine Schwäche für die Schwachen. Er wuchs in Wien auf, beim Vater, einem Lehrer, dessen Gesicht im Krieg eine Explosion entstellt hatte. Der Vater schwärmte für Literatur und Kommunismus, beides gab er weiter an den Sohn, der bereits als Knirps eine große Klappe hatte, aufmüpfig war und sich jeder Anpassung verweigerte.

In der Pubertät streifte Niels Birbaumer mit einer Bande Kleinkrimineller durch die Stadt, knackte Autos und kaufte sich von dem Geld neue Fahrräder und erste Liebesnächte. Als ihm ein Mitschüler auf dem Schulhof sein Pausenbrot klaute, nahm er eine Schere und stach sie dem Dieb durch den Fuß. Ein Tag Jugendarrest.

Sein Vater drohte ihm mit einer Lehre als Polsterer. Bitte, flehte ihn der Junge an, noch eine Chance.

Er bekam sie. Andere Schule, anderes Umfeld. Musterschüler. Dann Student der Psychologie an der Universität Wien. Die 68er, Birbaumer rebellierte mit. Und flog von der Uni. Für einige Monate ging er nach London, anschließend nach München. Erste Erfahrungen als Verhaltenspsychologe. 1975 erhielt er den Ruf auf den Lehrstuhl für Klinische und Physiologische Psychologie in Tübingen. Mit 29 Jahren wurde Birbaumer einer der jüngsten Professoren der Bundesrepublik.

Ein Mensch kann seine Atmung lenken, seinen Herzschlag – und seine Hirntätigkeit

Auch im Kreis der Geistesgrößen hielt sein Hang zu Außenseitern. Birbaumer arbeitete mit Inselbegabten, Zwangsgestörten, Psychopathen. Vor allem aber gilt er als Pionier auf dem Feld des Neurofeedbacks, einer in den Siebzigern neuartigen Methode, die unbewusst entwickelte Verhaltensmuster zu korrigieren versucht. Dabei bekommt der verkabelte Proband seine eigene Denkaktivität auf einem Bildschirm angezeigt. Denn so wie der Mensch in der Lage ist, Atmung und Herzschlag zu beeinflussen, so kann er auch lernen, durch starke Konzentration seine Hirntätigkeit zu lenken.

Birbaumer wandte die Technik bei Epileptikern an. Er verkabelte die Probanden mit Elektroden und brachte ihnen bei, bestimmte Gehirnwellen, Slow Cortical Potentials (SCP) genannt, selbst zu regulieren. SCP entstehen, wenn die menschlichen Sinne etwas wahrnehmen, beim Hören, Fühlen, Sehen, oder wenn die Aufmerksamkeit sich verstärkt – wie bei Epileptikern kurz vor einem Anfall.

Gelang es den Probanden, ihre SCP zu regulieren, sendete der Computer ein positives Feedback-Signal. Auf diese Art lernten sie, nahende Anfälle abzuwehren. Für seine Arbeit erhielt Birbaumer 1995 den Leibniz-Preis, die renommierteste Auszeichnung, die Deutschlands Wissenschaft zu bieten hat.

Das Preisgeld, 1,5 Millionen Mark, investierte er in ein neues Projekt. Ihm war klar: Wenn Epileptiker ihre SCP regeln konnten, musste das auch einer anderen Gruppe Schwerkranker gelingen, einer Gruppe, über die bislang kaum etwas bekannt war – Menschen mit Locked-in-Syndrom.

Birbaumer wusste, dass dieser rätselhafte Zustand nach einem Schlaganfall auftreten kann, häufiger noch im Verlauf einer ALS-Erkrankung.

Er beschäftigte sich intensiver mit ALS, erfuhr, dass Eiweißablagerungen in Rückenmark und Gehirn Ursache für die Krankheit sind; dass Männer öfter betroffen sind als Frauen; dass es unter 100.000 Menschen jährlich zwei trifft. 2009 war einer davon Fabio Furin.

Fabios Eltern, Luigi und Caterina Furin, sitzen in ihrer Küche, eine ruhige Stunde, die Erinnerung hüllt das Haus in leise Trauer. Im Mai jenes Jahres spürte ihr Sohn eine seltsame Taubheit im rechten Mittelfinger. Er arbeitete damals noch als Krankenpfleger. Fabio, sagt die Mutter, war einer wie keiner, großzügig, hilfsbereit. Noch heute träfen sie auf der Straße ehemalige Patienten, die erzählten dann von Fabio, dem Pfleger, der immer kam, wenn jemand Hilfe brauchte, der geduldig war, lustig, ihnen jeden Wunsch von den Lippen ablas.

„Fabio sagte uns nichts von seinem tauben Finger“, erinnert sich Caterina Furin. „Er war überhaupt kaum hier, sondern viel in der Natur unterwegs. Als ahne er, was kommen würde. Als wolle er Zeit einsammeln, bevor es zu spät ist.“

Es war August, Ferienzeit, und Fabio fuhr mit Freunden in den Urlaub nach Sardinien. Auf dem Rückweg saß er am Steuer des Autos, als ihm plötzlich sein rechter Arm nicht mehr gehorchte. Er musste anhalten, Fahrerwechsel. Zu Hause zeigte er den Eltern seinen Arm, der regungslos herabhing. Sie fuhren in das Krankenhaus, in dem Fabio arbeitete.

Die Chefärztin untersuchte den Freund und Kollegen. Sie verließ den Raum. Nach einer Weile kam sie wieder, mit Tränen in den Augen.

„Danach ging alles ganz schnell“, sagt Luigi Furin. Die Krankheit griff nach dem anderen Arm, nach den Beinen, ließ den Körper erzittern, heftig und unkontrolliert. Noch einmal reisen, bat Fabio und fuhr mit Carlotta, der Schwester, nach Berlin. Das Brandenburger Tor. Die Spree. Das Deutsche Technikmuseum. Als sie vor dem Museum standen, an einem eiskalten Januartag, verließen Fabio die Kräfte. Auf dem Vorplatz brach er zusammen.

Ein Rollstuhl, weil er nicht mehr gehen konnte.

Eine Magensonde, weil er nicht mehr essen und trinken konnte.

Ein Beatmungsgerät, weil er nicht mehr atmen konnte.

„Fabietto wollte weiterleben, obwohl er wusste, wie es endet“, sagt die Mutter.

„Fabio liebte das Wandern, das Angeln, die Natur“, sagen die Freunde. „Deshalb holen wir ihn bis heute jeden Abend ab, setzen ihn in den Rollstuhl und gehen mit ihm spazieren.“

„Fabio weinte nie“, sagt der Vater und weint.

Ein Gerät, das Hirnströme in Bildschirmsignale umwandelt

Fabio, als er nicht mehr sprechen konnte, bekam einen Eye-Tracker, ein Gerät, das sich mit den Augen steuern lässt. Damit konnte er auf einem Bildschirm Buchstaben auswählen und sie zu Wörtern zusammensetzen. Irgendwann versagten selbst die Muskeln in den Lidern, seine Augen fielen zu. Fortan kommunizierte er mit seinem einzig verbliebenen Muskel, der seine Wange zucken ließ. Als auch diesen Muskel keine Befehle mehr aus dem Gehirn erreichten und Fabios Bewusstsein hinter seinem statuenhaften Gesicht verschwand, im April 2017, setzte sich seine Schwester an den Computer, suchte nach Hilfe und fand Artikel über einen wunderlichen Professor in Deutschland. Sie schrieb ihm eine E-Mail.

Birbaumer antwortet sofort, kein Problem, wir kommen, wir helfen. Vorher jedoch muss er sich noch um einen anderen Patienten kümmern.

Am Karfreitag klingelt er im Hamburger Stadtteil Wandsbek an einem Mehrfamilienhaus. Neben ihm sein indischer Mitarbeiter Ujwal Chaudhary, er schmunzelt: „Das ist ein lustiger Typ, den wir gleich treffen.“

Die Tür öffnet sich, und in einem schmalen Flur steht ein breiter Mann. Joachim Faehnrich, 74 Jahre alt, grüßt, klopft Chaudhary auf die Schulter, fragt: „Warum heißt das Internet Internet?“ Und antwortet selbst: „Na, die Inder sind ja so gut in Elektrik. Deshalb heißt es Indernet.“

Faehnrich prustet los, die beiden Wissenschaftler verdrehen amüsiert die Augen. Sie mögen Faehnrich, und er mag sie. Nächstes Jahr feiert er in Dänemark Goldene Hochzeit, ein Zimmer für Birbaumer ist schon reserviert.

„Hi, Waltraut, alles klar?“, fragt Birbaumer. Er ist mit Joachim Faehnrich ins Schlafzimmer gegangen, dort liegt Waltraut Faehnrich im Bett. Die Haare trägt sie kurz und modern, die Fingernägel leuchten rot. Ihr Mann lackiert sie alle paar Tage in ihren Lieblingsfarben.

Waltraut Faehnrich ist seit 2009 eingesperrt im eigenen Körper. Drei Jahre stumme Einsamkeit, dann lernte Birbaumer sie kennen. Sie war der erste komplett eingeschlossene Mensch, dessen Gedanken er erfolgreich las. Es dauerte lange, bis ihm der Durchbruch gelang.

Nachdem Birbaumer sich 1995 dem Locked-in-Syndrom zugewandt hatte, machte er sich zunächst die Erkenntnisse seiner Arbeit mit Epileptikern zunutze. Er lehrte eingeschlossene Menschen, die eigene hirnelektrische Aktivität so zu kontrollieren, dass sie damit einen Computer steuern konnten. Birbaumer entwickelte dafür ein Gerät, das Hirnströme in Bildschirmsignale umwandelt. Konzentrierten sich die Probanden stark genug, konnten sie mittels ihrer Gedanken Buchstaben auf einem Bildschirm auswählen. Birbaumers Technik ermöglichte es ihnen, sich schnell und eigenständig mitzuteilen. Ein Patient schrieb sogar einen ganzen Brief. Er lud Niels Birbaumer zu einer Party ein.

1999 publizierte Nature , Fachzeitschrift von höchstem Rang, die Ergebnisse, die Welt der Wissenschaft verneigte sich erneut, und Birbaumer war auf dem Höhepunkt seiner Karriere angelangt.

Dann jedoch kam er einfach nicht weiter. Nur bei Locked-in-Patienten mit noch minimalem Kontakt zur Außenwelt funktionierte seine Methode gut – bei komplett Eingeschlossenen, bei den Fabio Furins und den Waltraut Faehnrichs, waren die Ergebnisse miserabel.

Konnte es sein, dass mit der Lähmung des letzten Muskels, also des letzten Mittels, sich zu äußern, auch das Denken zum Erliegen kommt? Wenn das Gehirn nichts auszurichten vermag, keinen Impuls mehr nach außen tragen kann, hört der Mensch dann auf, Mensch zu sein? Erlischt sein Wille?

Die eigene Hirnaktivität zu kontrollieren ist anstrengend

Birbaumer verbrachte Nächte und Jahre damit, eine Lösung zu finden. Bis er mit Waltraut Faehnrich einen neuen Weg ging. Er vermutete damals, dass die Technik der gelenkten Hirnaktivität für Erkrankte im Completely-locked-in-Zustand schlicht zu schwierig war. Manche dieser Menschen hatten jahrelang nicht mehr zielgerichtet denken müssen, all ihre Wünsche, Bitten, Bedürfnisse waren schon so lange ungehört geblieben. Und wen niemand hört, der hört irgendwann auf zu rufen. Die Fähigkeit zur Konzentration vergeht. Der Wille stirbt ab, langsam, wie zuvor die Muskeln. Aber, das glaubte Birbaumer fest, bei Waltraut Faehnrich war er noch lebendig. Man konnte ihn retten. Es brauchte nur eine andere Methode, ihn zu äußern.

Birbaumers Vorzeigepatientin und ihr Mann haben ein Stück Alltag zurückgewonnen

Die eigene Hirnaktivität zu kontrollieren ist anstrengend. Epileptiker und Locked-in-Patienten müssen es mühsam erlernen. Aber die Durchblutung des eigenen Gehirns zu verändern – das ist sehr leicht. Es geschieht unbewusst, quasi automatisch, je nachdem, was einer denkt. Und diese Veränderung, wusste Birbaumer, kann durch Infrarotlicht sichtbar gemacht werden.

Fünf Jahre ist es nun her, dass Waltraut Faehnrich scheinbar Unmögliches schaffte: Sie konnte sich verständlich machen. Birbaumers Computer stellte ihr Fragen, und sie antwortete: Ja, es gehe ihr gut. Ja, sie liebe es, wenn Kinder und Enkel zu Besuch kommen. Die Forscher bauten die Fragen um, dieselben Inhalte wurden andersherum abgefragt, und Waltraut Faehnrich teilte mit: Nein, es gehe ihr nicht schlecht. Nein, sie hasse den Besuch von Kindern und Enkeln nicht.

Nun war klar, ihre Antworten waren kein Zufall. Die Methode funktionierte.

Birbaumer und Chaudhary haben Joachim Faehnrich inzwischen beigebracht, die Geräte selbst zu bedienen. Sie schauen nur regelmäßig vorbei, justieren den Rechner, helfen bei Problemen. Herr Faehnrich hat, was er zur Kommunikation mit seiner Frau braucht, in einem Zimmer stehen, Kappe, Laptop und den Apparat, der die Hirnsignale in digitale Einheiten umwandelt. „Ich pflege meine Frau seit bald zehn Jahren“, sagt er, „und ich bin immer noch jeden Tag fasziniert von ihr. Dass wir wieder miteinander reden können, ist das größte Geschenk.“

Schatz, würdest du gerne in die Elbphilharmonie gehen? Schatz, soll ich heute Vanille-Eis einkaufen? Oder mal wieder Erdbeer? Waltraut Faehnrich liebt nämlich Eis. Bei ihrem ersten Rendezvous 1964 aßen sie gemeinsam aus einem großen Becher. Deshalb streicht Joachim ihr ab und an ein wenig auf Lippen und Zunge. „Damit sie den Geschmack nicht vergisst.“

Joachim Faehnrich und seine Frau haben ein Stück Alltag zurückgewonnen.

Faehnrich dämpft die Stimme. Niels Birbaumer, der mit Chaudhary gerade die Software inspiziert, muss das ja jetzt nicht hören. Er sagt: „Der Niels und seine Leute, das sind wirklich Gute.“

Birbaumer half Faehnrich auch bei einem Rechtsstreit mit dessen Krankenkasse. Ein Sozialgericht entschied, die Kasse müsse für die Kosten des Gedankenlesegeräts aufkommen, rund 50.000 Euro. Es könnte ein Präzedenzfall in Deutschland werden.

Chaudhary sagt, die Software habe einen Defekt.

„Joachim! Was hast du denn wieder an dem Rechner rumgespielt?“, fragt Birbaumer.

„Hab ich nicht!“, ruft Faehnrich mit gespielter Empörung.

„Ach, erzähl mir keinen Blödsinn.“

„Wenn ich’s dir doch sage, Niels.“

Faehnrich geht in die Küche, kommt mit einem Rum zurück. „Auf uns!“

Waltraut Faehnrich ist Birbaumers Vorzeigepatientin. So wie er ihren Mann anleitete, die Geräte eigenständig zu bedienen, so soll auch die Familie Furin einmal in der Lage sein, ohne seine Hilfe mit Fabio zu kommunizieren.

Das Haus in Norditalien hat sich gefüllt, Fabios zweite Schwester Valentina ist da, eine Ingenieurin. Birbaumer glaubt, sie werde bestimmt mit den Geräten zurechtkommen. Nach dem Mittagessen und weiteren Trainingsrunden bereden sich die Forscher, wie es weitergeht. Birbaumers Mitarbeiter plädieren dafür aufzuhören. Die ständige Konzentration sei anstrengend, Fabio müde. Birbaumer aber will fortfahren. Er steht auf und läuft zu den Eltern: „Fabio ist gut drauf. Das sollten wir nutzen.“ Er wolle ihm schon jetzt Fragen stellen, deren Antworten sie nicht kennen.

In den Raum kehrt Ruhe zurück. Die Familie hat die Fragen für den Fall der Fälle im Vorfeld zusammengestellt, es kann gleich losgehen. Der Vater setzt sich zum Sohn, drückt ihm die Hand. Valentina streicht über die Decken. Carlotta flüstert dem Bruder Worte zu. Die Mutter steht an der Wand vor einer Fotocollage: Fabio mit Freunden beim Campen, im Wald, am Meer. Fabio mit einem riesigen Karpfen auf dem Arm. Fabio, der Kuckucksuhr-Liebhaber, immer freundlich, neugierig, ausgelassen. Gesund.

Aus den Lautsprechern dringt die erste Frage: „Möchtest du vor Ende des Jahres nach Međugorje fahren?“

Seit seiner Krankheit reisen Familie und Freunde jeden November mit ihm an diesen Pilgerort in Bosnien und Herzegowina. Die Wallfahrt schenke ihnen Freude und Kraft, sagen die Eltern. Fabio auch?

Auf dem Laptop fängt die grüne Fläche an, ihre Farbe zu wechseln. Rot breitet sich aus: Ja. Fabio will fahren.

Luigi Furin stemmt die Arme in die Luft. Mutter und Tochter werfen sich erleichterte Blicke zu. Der Computer hat die Antwort problemlos erkannt. Fabio denkt klar.

Die zweite Frage: „Ist es dir recht, jeden Abend Tee zu trinken?“

Caterina Furin schaut gespannt. Abends lässt sie, anstatt Wasser, Tee durch den Schlauch der Magensonde laufen, manchmal auch Bier, ihr Fabietto trank früher nichts lieber als ein kühles Helles.

Das System hat alle Antworten erkannt

Wieder signalisiert der Computer ein Ja.

Es folgen Fragen, die nur die Familie etwas angehen, die meisten beantwortet Fabio mit Ja, einige wenige mit Nein. Am Ende noch eine letzte Frage: „Erscheint dir das System mit der Kappe, das du gerade ausprobierst, nützlich?“ Sekunden vergehen, auf dem Bildschirm bleibt die Fläche grün. Beginnt sich zu ändern. Orange mischt sich bei. Rot.

„Glück gehabt“, sagt Birbaumer.

Was ihn noch mehr erfreut: Das System hat alle Antworten erkannt. „Wenn es zu den für die Patienten interessanten Fragen kommt – wohin sie reisen wollen, was sie trinken wollen –, dann denken sie viel aktiver als bei den Testfragen“, sagt Birbaumer. Er ist sich sicher, Fabios Wille hat wenig gelitten.

Die Forscher beenden die Sitzung, Erleichterung fällt über Eltern und Schwestern. Sie lachen, herzen sich, umarmen Sohn und Bruder. Fabietto. Gefangen, aber noch bei ihnen.

Birbaumer steht etwas abseits, lächelt leicht und schweigt. Er weiß, es ist ein beschwerlicher Weg, sie werden Geduld brauchen, Kraft. Und so revolutionär seine Methode auch sein mag – ihn quält die Tatsache, dass Fabio niemals aus freien Stücken einen Wunsch wird äußern, niemals einen Satz aus seinem Innern in die Welt wird tragen können.

„Eines will ich noch erreichen“, sagt Birbaumer: „Ich will erleben, dass einer meiner Patienten von sich aus ein Wort spricht. Danach kann ich mich friedlich ins Grab legen.“

Dies eine Ziel noch. Vielleicht wird ihm Birbaumer gut tausend Kilometer von Fabio entfernt näher kommen. An einem nasskalten Septembertag besucht er in Gütersloh einen Jungen, der Fabios Schicksal teilt – den es nur viel früher traf. Hinter einer bürgerlichen Backsteinfassade führt Sabina Slotta den Gast ins Zimmer ihres Sohnes. Zwei Pfleger betten den Jungen gerade um. Kevin Slotta, 23, hat noch die zarten Züge eines Kindes, das Gesicht samtig, der Körper dünn. Als die Ärzte vor vier Jahren die Diagnose stellten, galt er als jüngster ALS-Patient Deutschlands, 19 Jahre, im Kopf Partys, Kumpels, Mädchen.

Seit vergangenem Jahr ist er komplett eingeschlossen, auch ihn hat das Forscherteam inzwischen mittels Gedankenlesen erreicht. Für Birbaumer sind Kevins junges Alter und sein verhältnismäßig guter Gesundheitszustand Anlass, möglicherweise eine neue Richtung einzuschlagen.

Die Technik, um Schwerkranken zu helfen, wird jetzt auch für Gesunde interessant

Sabina Slotta, 45, bittet Birbaumer in den Nebenraum. Sie ahnt nicht, was der Professor will. Am Telefon hat er ihr nur gesagt, er würde gerne eine Sache besprechen. „Kevin“, beginnt Birbaumer, „hat nach unseren Messungen ein perfekt arbeitendes Immunsystem. Wenn Sie ihn weiterhin so super pflegen, kann er uralt werden.“ Augenblick, das müsse sie kurz den Pflegern verkünden!, jubelt Sabina Slotta.

Sie kommt zurück, Birbaumer fährt fort: „Weil er so jung ist, würde das aber auch bedeuten, dass Kevin mit unserer jetzigen Technik noch sehr lange ausschließlich Ja und Nein zu sagen vermag. Darum wollte ich Ihnen eine Möglichkeit erläutern.“

Nutzer könnten allein kraft des Geistes ihr Facebook-Profil bearbeiten

Es gebe, sagt er, mittlerweile Elektroden, fingerkuppenklein, die unter die Kopfhaut implantiert werden können. Das System funktioniere ähnlich wie ein Eye-Tracker. Eine Elektrode säße ganz nah an Kevins Hirnzellen, dort, wo das Denken stattfindet. Über eine Computerstimme würde Kevin Buchstaben hören, über die Elektrode könnte er mit seinen Gedanken einen auswählen. Ein Algorithmus würde die Buchstaben dann zu Wörtern zusammensetzen. Oft genutzte Wörter könnte das Programm sich merken, so ähnlich wie bei herkömmlichen Handys. Würde Kevin die Buchstabenfolge S-C-H-A auswählen, schlüge der Computer etwa das Wort „Schalke 04“ vor, Kevins Lieblingsverein.

„Wenn es klappt, könnte er der erste komplett eingeschlossene Mensch der Welt werden, der einen eigenständig gewählten Satz von sich gibt. Allerdings“, sagt Birbaumer, „wurde diese Technik bislang bei keinem Eingeschlossenen ausprobiert.“

Eine Infektion während der Operation, eine Abstoßungsreaktion auf den fremden Gegenstand – Birbaumer sagt: „Es ist zwar minimal, aber ein Restrisiko besteht.“

„Wann würden Sie das machen wollen?“, fragt Sabina Slotta.

„Die medizinische Ethikkommission müsste einem solchen Eingriff zustimmen, ein geeigneter Chirurg gefunden werden. Das dauert. Vielleicht Ende nächsten Jahres.“

Sabina Slotta nickt, schluckt. Sie wolle mit ihrer Familie in den nächsten Wochen darüber nachdenken.

„Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt“, sagt Birbaumer.

Das Gedankenlesen – es ist längst mehr als eine Möglichkeit, mit eingeschlossenen Menschen Kontakt aufzunehmen. Diese Technik, entwickelt, um Schwerkranken zu helfen: Sie wird jetzt auch für Gesunde interessant.

Birbaumer ärgert sich seit Jahren darüber, dass die Medizinindustrie ihn alleinlässt mit seinen Locked-in-Patienten. Es gebe einfach zu wenige davon, sie seien finanziell nicht attraktiv. „Bei dieser Krankheit wäre noch so viel ungereimter Scheißdreck zu lösen. Es kümmert sich nur niemand drum.“ Aber nun, da die Technik so weit ist, erkennen große Firmen plötzlich die Chance, einen uralten Menschheitstraum Wirklichkeit werden zu lassen und damit Milliarden zu verdienen. Sie erkennen: einen Markt.

Beim Internet-Unternehmen Facebook arbeiten Dutzende Mitarbeiter an einer Technologie, die es Menschen ermöglichen soll, ihre Gedanken direkt in den Computer zu schreiben, ohne Tastatur. In wenigen Jahren, kündigte die Leiterin des Innovationslabors an, könne der Nutzer allein kraft seines Geistes sein Facebook-Profil bearbeiten.

Der amerikanische Investor Elon Musk, der erst in den Weltraum wollte und jetzt ins Gehirn will, hat sich millionenschwer an der Firma Neuralink beteiligt, deren Vision es ist, eine Elektrode im Kopf zu implantieren, um normale Menschen in Cyborgs zu verwandeln.

„Was für ein Idiot“, sagt Niels Birbaumer über Elon Musk. „Der will, dass Sie per Gedanken Ihrem Auto befehlen können, Sie zu Ihrer Freundin zu fahren. So ein Blödsinn. Da wird doch niemandem geholfen.“

Bei Erscheinen dieses Dossiers hatte sich Sabina Slotta noch nicht entschieden.

Sollte sie zustimmen und sollte Kevin später einmal tatsächlich über die Elektrode ganze Sätze mitteilen können, wäre der Eingriff vielleicht eines Tages auch eine Option für Fabio.

Im Hier und Jetzt aber: das unendliche Glück von Ja und Nein.

Es ist Abend in Norditalien, Birbaumer hat seine Mitarbeiter zum Essen eingeladen. Sie reden über Fabio, seine schnellen Fortschritte, die Finanzierung des Gerätes. Die Krankenkasse wird dafür nicht aufkommen, Birbaumer will das Geld aus eigenen Mitteln aufbringen. „Die brauchen das Ding. Dringend.“

Gegen zehn Uhr rollt Caterina Furin ihren Sohn im Rollstuhl ins Restaurant. Ihr Mann geht neben ihr, zwei Freunde von Fabio begleiten sie. Hände werden geschüttelt, Küsschen verteilt. Birbaumer bestellt Prosecco.

„A Fabio!“

Die große Runde stößt gemeinsam an. Dann reden alle durcheinander. Ein Stimmengewirr. Ein Sprachengewirr. Fabio sitzt dazwischen, still und reglos.

Was er jetzt wohl denkt?

Nov. 2018 | €uropa | Kommentieren

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