Moderne heißt chronische Ungewissheit. Gäbe es keine Moderne, brauchte man auch keine politischen Parteien. Deren Hauptaufgabe sollte die permanente politische Modernisierung sein. Mit allen Chancen und Risiken, eingeschlossen der Nebenwirkung der erschwerten Erkennbarkeit. Die Verfassung setzt intelligente Wähler voraus, aber die Parteien beleidigen die Intelligenz dieser Wähler, indem sie so tun, als seien Wandel und Modernität für die Menschen eine zu schwierige Aufgabe. Und so begeben sich alle Parteien immer wieder neu auf die Suche nach ihrem zeitlosen Wesenskern: Was ist heute eigentlich konservativ? Was ist heute eigentlich links?
Die – eigentlich – Linke hat sich von der SPD getrennt und bildet nun mit den populistisch-ostdeutschen Alt-Sozialisten eine neue Partei. Kaum hat sich der öde Diskurs darüber, wie links die Linke sein muss, um noch als links zu gelten, etwas gelegt, rüsten nun die Konservativen rhetorisch auf und die Rechten ließen sich lumpen: Die kürzlich vorgetragene Kritik der „scheinliberalen Mittesoße der großen Koalition“ vermochte zwar niemand aus der Deckung zu locken (Angela Merkel hat ein gefürchtetes Gedächtnis), doch hinter vorgehaltener Hand gaben dieser These viele von letzteren Wählern recht.
Um vielleicht nochmal derzeit unrealistischer Weise über gerade aktuelle Prozente zu kommen, fordern die Konservativen der beiden (von Seehofer zu schweigen) Unionsparteien eine Rückbesinnung auf das Kerngeschäft der christlichen Union: Familie, Tradition, Heimat, Werte und „wertgebende“ Institutionen, die dem Bürger Halt geben sollen in einer rastlosen, unübersichtlich gewordenen Welt. Wenn bald die Unionspolitiker – wie auch immer sie dann noch heißen mögen – ihr konservatives Wertepapier veröffentlichen, ist dies so, als wollte jemand Abitur machen, obgleich er jahrelang die Schule schwänzte.
Nehmen wir das Beispiel Familie. Es ist ja kein Geheimnis, dass die Kinder und Enkel der 68er-Generation sich nach der bürgerlichen Familie sehnen, nach Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Stallwärme. Andererseits lässt sich die Uhr aber nicht mehr zurückdrehen. Wenn heute zwei Menschen eine Familie gründen, dann tun sie dies in der Gewissheit: Falls es nicht klappt mit uns, dann gibt es einen guten Weg raus. Familie, Nachbarschaft, Heimat: All dies mag man gerne für sich haben wollen, aber mit der miefigen Enge dieser Soziotope ist es lange vorbei. Bigotterie, Intoleranz und Chauvinismus prägten noch in den 50er-Jahren nicht nur unsere Dörfer. Bitte wer will das zurückhaben?
Die Leute haben andere Sorgen als die Rückbesinnung auf irgendetwas.
Sie gehen weniger als früher in die Kirche oder – was Wunder – treten ganz aus, sie laufen den Gewerkschaften davon und den klassischen Parteien ebenso, sie gehen auf Distanz zu den eingetragenen Vereinen, aber kein Vakuum ist entstanden. Noch sind die meisten Menschen klug genug, selbst darüber nachzudenken, was richtig ist und was falsch.
Sie akzeptieren Institutionen, solange sich diese nicht anmaßen, „wertgebend“ zu sein. Längst haben sie aus selbstständigem Denken heraus etwas Neues, etwas Eigenes an die Stelle moralischer Führungsinstanzen gesetzt. Sie verpflichten sich in zahllosen Initiativen und Projekten. Wer hier vom „Werteverfall“ redet, hat die Entwicklung der letzten Jahrzehnte verschlafen. Oder ignoriert sie bewusst, um sich dann besser in Szene setzen zu können.
Gerhard Schröder hat 1998 die Wahl gewonnen, weil er das Steigerlied nicht mehr mitsingen wollte, einen Brioni-Anzug trug und einen Seiteneinsteiger ohne Stallgeruch zum Wirtschaftsminister machen wollte (was er dann aber nicht tat). Schröder hat für die SPD eine Gruppe von Menschen erobert, die seitdem als „Neue Mitte“ in der Begriffswelt des 21. Jahrhunderts verankert ist.
Der Begriff verleitet dazu, ein homogenes Milieu zu vermuten,
wo in Wahrheit Vielfalt herrscht
Neue Mitte – der Begriff hat nur Sinn, wenn er nicht auf ein Milieu abzielt, sondern auf einen Konsens: Sich einerseits an Regeln zu halten und Verantwortung für sich und andere zu tragen, aber andererseits alles Mögliche auszuprobieren und dabei seine eigenen Wege zu gehen:
Pensionierte Harley-Davidson-Fahrer, weltreisende Witwen. Arbeitslose, die ihre eigene Firma gründen. Finanzbeamte, die nebenbei Krimis schreiben, Fernmeldetechniker, die Opernsänger werden. Was wir sehen, sind Menschen, die bei allen Schwierigkeiten ihr Leben so leben wollen, wie sie es für richtig halten. Sie brauchen keine wertgebenden Institutionen, aber sie brauchen einen funktionierenden Staat und eine prosperierende Wirtschaft. Beides ist für sie kein Widerspruch.
Die Neue Mitte will vor allem eins: intelligente, parteiübergreifende Politik. In der letzten Wahl noch setzte sie deshalb auf eine große Koalition. Es schien damals die einzige Möglichkeit, die überlebte Semantik von rechts und links endlich aufzubrechen. Dessen ungeachtet lesen wir in einigen unter die Leute gebrachten Statements, es gebe in Deutschland immer mal wieder ein Potential für Rot-Rot-Grün. Begründung: Die Mehrheit der Befragten war für mehr Krippenplätze und soziale Gerechtigkeit, für die Einführung des Mindestlohns und gegen die Rente mit 67. Die Mehrheit der Befragten stufte sich vorzeiten noch jedenfalls darüber hinaus selbst als „eher links“ ein. Ist die Neue Mitte demnach ein Auslaufmodell?
Wollen jetzt alle beim traulichen Schein einer Energiesparlampe ihre 1600 Euro Erziehungsgeld im Monat einstreichen und oder was? Oder wie sonst ist die Rede von der „strukturellen linken Mehrheit“ zu verstehen?
Frühkindliche Erziehung durch Vater Staat: Gewiss, das klingt nach Linkspartei. Mehr Krippenplätze bedeuten jedoch keine Verstaatlichung der Erziehung, denn noch darf ja ein jeder tun, was er möchte. Und weil alle Eltern in dem Punkt eine Entscheidung treffen müssen, ist die Frage der Krippenplätze für sie ein Thema – quer durch die politische Landschaft. Krippenplätze werden entweder begrüßt oder aber mit Skepsis betrachtet. Es gibt SPD-Mütter, die gerne bei ihren kleinen Kindern zu Hause bleiben. Es gibt CDU-Mütter, die genau das nicht tun.
Profilneurotiker von links und rechts erlauben keinen Spielraum:
Die CDU-Mutter bleibt zu Hause, die SPD-Mutter übergibt ihr Kind einer Institution. Tut sie das nicht, droht Parteiräson, wie man an einigen Beispielen verfolgen konnte.
Rente mit 67: Idee einer großen Koalition, zu verantworten von einem SPD-Minister. Wer sie schlecht findet, ist links? Das ist reichlich um die Ecke gedacht. Spart man sich den Umweg, so wird deutlich: Man braucht kein Parteibuch, um die Rente mit 67 als verkappte Rentenkürzung zu entlarven. Warum? Weil im Deutschland von heute praktisch niemand bis 67 durcharbeiten kann, sondern bei knapper Kasse eben nur länger auf seine Verrentung warten muss. Man findet hier ja schon ab 45 nur noch unter Schwierigkeiten einen neuen Job. Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer, Gehalt nach Berufsjahren – all das verhindert, dass man mit steigendem Alter seinen Beruf ausüben kann, wenn man seine bisherige Stelle verloren hat. Wenn das anders wäre (wie etwa in der Schweiz), dann kämen die Befragten zu anderen Antworten.
Und was die Selbsteinschätzung betrifft: Der Begriff „rechts“ hat nicht erst mit NPD und in ihrem Fahrwasser die AfD seit einiger Zeit schon mehr und mehr zu stinken begonnen. Ein CSU-Wähler hätte früher nichts dagegen gehabt, zu den Rechten gezählt zu werden, heute aber denkt man an Glatzen, an andere Arbeitsgemeinschaften für Deppen, an Ausländerhetze und die NSDAP.
In Umfragen spiegelt sich die Distanzierung der Befragten von Baseballschlägern, Springerstiefeln, hirnlosem Gegröle und Gewalt.
Ein Linksrutsch lässt sich aus alledem jedoch nicht ablesen.
Das Gleiche gilt für die Bejahung des Mindestlohns, der auch in den Arbeitnehmerflügeln der konservativen Parteien viele Anhänger hat, und für den Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Spätestens seit der Reform der Arbeitslosenhilfe fühlen sich Menschen, die ihre Arbeit verlieren, in ihrer Lebensleistung herabgewürdigt und wie Almosenempfänger behandelt, obwohl viele von ihnen lebenslang hart gearbeitet haben. Gerecht ist das nicht, aber das sehen die christlich-sozial orientierten Wähler genauso wie die Wähler der Linkspartei.
Wie stellt man richtige Fragen? Wie interpretiert man die Antworten?
Welche Konsequenzen zieht man aus Wahlergebnissen?
Dass die Union bei der letzten Wahl entgegen einigen Prognosen ein so mieses Ergebnis eingefahren hat, lag nicht daran, dass der angeblich linke Mainstream im Wahlkampf zu sehr gegen den Strich gebürstet worden sei. Es lag an der Antiquiertheit der politischen Kategorien. Diese Antiquiertheit setzt sich seit Antritt der Regierung Merkel in der Politik der großen Koalition fort und wird sowohl im linken wie auch im konservativen Wertediskurs immer mehr betont.
Bei den politischen Zielen herrscht Einigkeit:
Deutschland soll auch künftig ein weiterhin wohlhabendes und freies Land sein und bleiben. Mehr interessante und gut bezahlte Arbeitplätze. Nicht mit 50 zum alten Eisen gehören. Besser durchdachte Energiekonzepte. Mehr Geld und Freizeit für berufstätige Eltern. Kleinere Schulklassen. Ein Bildungssystem, das allen Kindern gerecht wird, den lernschwachen wie den begabten. Gepflegte Dörfer, Städte und Landschaften. Keine Verwahrlosung des öffentlichen Raums. Preiswerte Gesundheitsversorgung für alle. Soziale Sicherheit.
Aber wie kommt man zu diesen Zielen?
Die Mittel tun – vielen – weh, wie einige Beispiele zeigen: Flexibilisierung des Arbeitsmarkts. Öffnung der Grenzen für qualifizierte Immigranten. Entschlackung des gigantischen Basars von Transferzahlungen und Subventionen zugunsten von Bildung, Gesundheit und öffentlichem Raum. Vertrauen in die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu helfen. Bejahen ihrer Verschiedenartigkeit. Aufbrechen der politischen Korrektheitszwänge in den Diskursen über Energiepolitik, Hochschulförderung, öffentliche Sicherheit. Bei jedem dieser Stichworte hört man förmlich die Rechts-links-Falle zuschnappen. Sobald es wehtut, flüchten sich die Akteure wie Schlafwandler in dieses längst von der Moderne überrollte politische Schema. Wann werden sie aufwachen? Wann brechen sie auf zu neuen Ufern? Linksliberalkonservativ sei angesagt – meint:
gotno