Das 20. Jahrhundert kultiviert extreme Lautstärken mit Elektromobilen, Kopfhörern und sonstigen Leisemachern, verlieren lärmungen im Zeichen der Digitalisierung allmählich an Ausdruckskraft? Hat Lärm, der den Rock’n’Roll mitprägte, im Sound der Gegenwart noch eine Bedeutung? Wird die Welt in Zukunft stiller? Wo die industrielle Revolution mit steigenden Dezibelwerten einherging und auch mit quälendem Lärm, marschiert der Fortschritt im Zeichen von Elektrisierung und Digitalisierung nun jedenfalls auf leiseren Sohlen. Die Rechner surren bloss. In der Musik verdrängen Synthesizer die krachenden Gitarren. In städtischen Zentren wird zwar noch gebaut und gebohrt am Tag und gefeiert bis in alle Nacht.
In den gentrifizierten Zonen indes könnten Verkehr und Leben in dem Masse zurückgehen, wie Einkäufe, Arbeit, Kommunikation über digitale Netzwerke dezentralisiert werden.
Womöglich bewegen wir uns auf jene ominöse Stille zu, die die Phantasten der Science-Fiction seit je suggerieren. Denkt man an klassische Serien wie «Raumpatrouille Orion» oder an «Star Trek», wird man die Raumschiffe vor dem inneren Auge gleich wieder durch die Unendlichkeit schweben sehen, vorbei an unbelebten Himmelskörpern . . . Aber was ist dabei eigentlich zu hören? Doch höchstens ein Schwirren oder Zischeln. Dabei birgt diese Lautlosigkeit im interstellaren Verkehr immense Gefahren. Auch feindliche Ufos nämlich lösen ihre Attacken ohne jeden Lärm aus: Plötzlich verdunkeln extraterrestrische Vehikel, von unförmigen Subjekten gesteuert, den irdischen Himmel.
Daran fühlt sich erinnert, wer auf dem Zweirad schuftet und im Rücken plötzlich ein dumpfes Schwirren vernimmt, bevor dann ein Tesla vorbeirauscht oder öfter noch ein E-Bike. Und dann schaut man dem gespenstischen Fahrrad nach und fragt sich: Ist das die Vorhut einer neuen Menschheit, diese schwerfälligen Humanoiden, die dem sportlichen Schein zuliebe ihre Füsse ein bisschen wackeln lassen auf den Pedalen, während sie ganz im Sound versinken, der ihnen über Kopfhörer eingetrichtert wird? Welche Risiken aber birgt dereinst der Verkehr, wenn die Motoren verstummen; wenn Beschleunigung und Tempo keinen besonderen Sound mehr haben? Werden wir den Lärm vermissen, wenn er uns nicht mehr alarmiert?
Dass der Lärm meist eine Signalwirkung hat, weiss man von biblischen Trompeten und Posaunen ebenso gut wie von Madame Natur – die ihn erfand. Donnerschläge kündigen Sturm und Gewitter an, tosende Bäche warnen vor der Gefahr des reissenden Wassers. Und seit die Welt lebendig ist, machen Tiere einen Heidenlärm, wenn sie hungrig sind, wenn sie sich hassen oder sich fürchten.
Auch wir Menschen brauchen unser Stimmorgan anfangs vorab zum animalischen Brüllen und Heulen, weil uns die schiere Existenz überfordert. Erst wenn wir uns an sie gewöhnt haben und sie einigermassen zu durchschauen glauben, beginnen wir zu lachen – und zu grölen.
Solche Beobachtungen machen einen zwar hellhörig für die Kultur des Lärms. Doch wenn es um zivilisatorische Schallemissionen geht, gehört zuerst der Homo Faber ins Rampenlicht. Dank ihm krachen die Kanonen und kichern die Gewehre seit Jahrhunderten schon. So richtig in Form kam er jedoch im Zeichen der Industrialisierung. Fortan liess er Maschinen röhren und stanzen, Sirenen gellen, Motoren furzen, Traktoren husten, Panzer rattern, Flugzeuge brausen, Raketen knallen . . . Ruhe, Ruhe, aufhören, aufhören, möchte man da schreien und am siebten Tage mit den ohrenbetäubten Zivilisationsopfern in die nahen Erholungsgebiete flüchten. Dabei wird der Lärm dann dank Motoren und Transistoren auch in die Natur hinausgetragen.
Ästhetisch überhöht und instrumentalisiert aber wurde der Lärm erst im Morgenrot des 20. Jahrhunderts. Seine Präsenz und Macht konnte den modernen Künstler-Avantgarden nicht entgehen, als sie nach zeitgemässen und zukunftsträchtigen Ausdrucksformen suchten. Die italienischen Futuristen, die von einem neuen, stählernen Menschen träumten, wollten diesen im Rhythmus industrieller Automatik tanzen lassen.
Gewiss hatten Beethoven und Bruckner schon mit Fortissimo laboriert in ihren Sinfonien, gewiss hörte man technische Fortschritte und Revolutionen auch aus zeitgenössischen Werken heraus, etwa aus «Pacific 231» von Arthur Honegger. Die traditionelle Instrumentalmusik tönte diesen Soldaten des Fortschritts jedoch zu sentimental. Der Künstler-Ingenieur Luigi Russolo entwarf also ein neues Instrument, ein «intonarumori» – einen Lärmerzeuger. Es vereinte eine Reihe mit Schalltrichter ausgerüsteter Resonanzkörper, bei denen auf Membranen unterschiedliche Geräusche erzeugt werden konnten. Auf dass sich Lärm in moderne Musik verwandle. Oder umgekehrt.
Lärmen aus Trotz
Vieles davon gilt später auch für die Rockkultur. Mehr noch: Hier wird der extremen Lautstärke als essenzieller Qualität gehuldigt. Wobei sich Lärm stets mit Trotz oder pubertärer Larmoyanz paart. Mit Lärm markiert die Rocker-Generation Präsenz, mit Lärm erfordert sie Aufmerksamkeit: «Here we are now, entertain us.» In musikalischen Spielarten wie Punk oder Industrial wird das laute Pathos des Rock allerdings oft von hinterlistiger Ironie und Sarkasmus abgelöst. «We say noise is for heroes, leave the music for zeroes», grölten die Londoner Punks von The Damned in «Noise, Noise, Noise»:
Im Unterschied zu Bruckner und zum Free Jazz ist der Lärm in der Rockkultur kaum noch an physische Leistungen gebunden. Analog zu jenen chemischen Substanzen, die in der psychischen Innenwelt für künstliche und vorab übertriebene Realitäten sorgen, sorgt die elektrische Amplification akustisch für eine übersteigerte oder übersteuerte Emotionalität. Das Rauschen der Verstärker kündigt den Rausch schon an. Man braucht dann nur das Volume aufzudrehen, um durchzuknallen.
Dabei werden Hallen und Stadien, ja sogar Strassenfluchten und ganze Täler akustisch beherrscht. In «Makin’ Some Noise» singt Tom Petty davon, wie man mit lauter Musik Einigkeit schafft: «From across the canyon a guitar plays / Through an amplifier on long delay / It was an old melody, I recognized the song / I had an amplifier, too, so I played along.»
Diese akustische und kulturelle Landnahme verdankt die Rockkultur aber nicht nur der Amplification. Denn natürlich wurden die Verstärkeranlagen stets auch durch Radio und Hi-Fi-Geräte unterstützt. Und letztlich sind es wohl gerade die Vielfalt und die Allgegenwart von Lautsprechern, die die Pop-Musik in jenes Dauerrauschen führten, in dem sich der signalartig-provokative Lärmeffekt dann auch wieder verlor. In seinen Schwundstufen missriet der Lärm des Rock’n’Roll bald zu blosser Berieselung. Als schliesslich der Kopfhörer seinen Siegeszug antrat, war seine Macht endgültig gebrochen. In der Gegenwart tragbarer Audiogeräte scheint der Lärm förmlich zu evaporieren in Myriaden kleinster, leiser Lautsprecher. Und die fanatische Jugendbewegung von einst verliert sich in zivilisierten atomisierten Musikkonsumenten.
Wird denn also in Zukunft Stille herrschen? In der Kultur der Gegenwart dominiert sie schon heute. Der Lärm hat kaum mehr ästhetische Bedeutung, er ist allenfalls noch eine Funktion von Lautstärkereglern. Gewiss gibt es noch Konzerte, Partys, Festivals, an denen Musik in Lärm ausschlägt. Doch zeigt die lustfeindliche Vernunft dann sofort den Drohfinger der Gesundheit. Im Sinne des Gehörschutzes setzt der Gesetzgeber Grenzen tolerierbarer Dezibelwerte. In der Schweiz planten die staatlichen Behörden jüngst eine «Lärmreduktion», die den Party- und Konzertbetrieb landesweit erstickt hätte. Die Interessenvertreter der Musikszene aber haben sich erfolgreich dagegen wehren können – dank medialem Support und lautstarkem, lärmigem Protest.