Jan Böhmermanns Projekt „Reconquista Internet“ bekämpft zwar immer noch den Hass im Netz, aber Monate nach dem Start ist es aber ruhiger geworden um die Netzbewegung. Mit einem neuen „Hassreport“ wollen die „Liebestrolle“ nun wieder in die Öffentlichkeit und will  „Wirklichkeit zurück ins Internet bringen“.  Zwölf große Medienhäuser in Deutschland haben am Wochenende Post von einem Absender bekommen, den die meisten wohl schon längst vergessen haben: “Reconquista Internet”. In dem Päckchen liegt ein 129 Seiten langes Dokument mit dem Aufdruck “Hassreport“. Dazu das Logo der Netzbewegung.

Engagierte Mitglieder der Bewegung haben in den vergangenen Wochen fünfzig Tweets und Chatnachrichten gesammelt, die “stellvertretend für Tausende weitere” menschenverachtende Beiträge im Netz stehen. Sie fordern jeden couragierten Bürger auf, in dieser Woche ein besonderes Augenmerk auf Hassrede zu legen und strafrechtlich relevante Inhalte an die Online-Meldestelle “respect!” weiterzuleiten. “Der Diskurs im Internet verändert sich”, steht in dem angehängten Schreiben. “Hasskommentare, Fake News, Menschenfeindlichkeit und Hetze verdrängen zunehmend die sachlichen und konstruktiven Stimmen im Netz.”
Nach Monaten relativer Stille sucht “Reconquista Internet” wieder einmal die Öffentlichkeit. Auf den Tag genau fünf Monate ist es her, als die Bewegung, die gegen Hassrede im Netz ankämpft, an den Start gegangen ist – mit Aktionen, die große Aufmerksamkeit erzielten, und einem Prominenten Initiator. Der Satiriker Jan Böhmermann hat “Reconquista Internet”, die “Zurückeroberung des Internets”, in seiner Sendung “Neo Magazin Royal” (ZDF) ins Leben gerufen. Dem Aufruf mit Stahlhelm und Sturmmaske folgten rund 60.000 Menschen. Später gestand Böhmermann ein, dass er selbst überrascht war von diesem Erfolg. “Wir haben aus Versehen eine Bürgerrechtsbewegung gegründet.”

 

 

“Reconquista Internet” will “Liebe und Vernunft” zurück ins Netz bringen, wie es in der Ankündigung heißt. Wer dabei sein will, muss sich auf einem Server der Chat-Plattform Discord anmelden. Die Macher betonen: Jeder, der sich an das Grundgesetz hält, darf mitmachen. Auf dem Server gibt es unterschiedliche Kanäle, über die sich die Mitglieder aktiv einbringen können. Der wichtigste ist der Kanal “Flauschangriffe”, auf dem nur Moderatoren und Admins posten dürfen. Dabei handelt es sich koordinierte Aktionen, die sich ein 30-köpfiges Team hinter “Reconquista Internet” ausdenkt. Böhmermann ist einer der Ideengeber.

Ausgangspunkt für die Idee des Projektes ist eine Recherche des jungen Digital-Angebots funk von ARD und ZDF. Ein kleines Team aus Journalisten deckte die rechte Netzgruppierung “Reconquista Germanica” auf, hinter der etwa 6.000 Nutzer stehen. Ihr Ziel: Koordiniert Hass und Hetze in verschiedenen Internetseiten oder gegen einzelne Personen im Netz zu streuen. Die Mitglieder gründen Fake-Accounts in Sozialen Netzwerken, um ihre Parolen zu verbreiten. Laut der funk-Recherche sind auf diese Weise nur fünf Prozent der Accounts verantwortlich für rund die Hälfte der Likes unter einem Hass-Post.

Netz voller Herzen

Die “Liebestrolle” wollen das Netz nicht länger den Rechten überlassen. In der Anfangsphase – das stellten die Gründer sehr schnell fest – hatten sie damit durchaus Erfolg: Die Mitglieder kaperten Hashtags zu Demonstrationen von Rechten, stellten sich offen gegen Rechtsradikale und setzten mit Aktionen selbst Akzente im Internet. Am Tag der Arbeit besetzten die Aktivisten etwa den Hashtag #1mai mit ihren Inhalten. Häufig zu erkennen an den Schlagwörtern #ReconquistaInternet oder #LiebeStattHass.

Die kollektive Einflussnahme war erschreckend leicht, die Sozialen Netzwerke voll mit Liebesbotschaften, Dankesbekundungen und bunten Herzen. “Reconquista Internet” erreichte eine derartige Dominanz im Netz, dass sich manch einer verwundert die Augen rieb. Selbst die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt schloss sich der Bewegung erkennbar an. Seither klebt ein Logo der Gruppierung auf ihrem Tablet.

Zum Konzept von Böhmermanns Liebestrollen gehörten auch Offline-Aktionen: Im Juli projizierten die Aktivisten nachts ein Bild von Mesut Özil auf das Brandenburger Tor, den Bundestag und das Axel-Springer-Hochhaus in Berlin und drückten damit ihre Solidarität mit dem Ex-Nationalspieler aus. Zwei Monate zuvor blockierten Mitglieder mit in großen Eisblöcken eingefrorenen Grundgesetzen den Eingang der AfD-Zentrale in Berlin. Das Motto: “Am Grundgesetz geht kein Weg vorbei.”

Arbeitsgemeinschaften im Hintergrund

Seither blieben Guerilla-Aktionen wie die Leuchtprojektionen am Brandenburger Tor aber aus, die Aufmerksamkeit schafften und die Bewegung erst so groß und laut machte.

Über den Sommer hinweg stand insbesondere die interne Neustrukturierung auf dem Plan: Bei Discord entwickeln die Moderatoren verschiedene Arbeitsgruppen, in die sich Mitglieder eintragen können. In der “AG Memes” entstehen etwa Bilder und Fotomontagen mit Parolen, die Nutzer in den Netzwerken teilen. In den Kanälen “AG Facebook”, “AG Twitter” und “AG YouTube” erarbeiten die Nutzer gezielt Aktionen für die Netzwerke. Das können Kommentare unter Posts sein, in denen sich besonders viel Hass verbreitet, bis hin zum gegenseitigen Liken der eigenen Beiträge. Darüber hinaus können die Mitglieder in einer “AG Argumentation” Fähigkeiten “im Umgang mit Argumentationssituationen” erlernen. Auch Challenges gibt es, in denen zum Beispiel hetzende Nutzer dazu gebracht werden sollen, ein Rezept eines Gerichtes ins Netz zu stellen. Wer die Challenge “#KochenstattHetzen” besteht, bekommt eine interne Auszeichnung verliehen.

Neben regelmäßigen Online-Konferenzen trifft sich das dreißigköpfige Führungsteam auch offline. Jan Böhmermann nimmt ebenfalls an diesen Treffen teil. Ideen für Flauschangriffe oder ähnliche koordinierte Aktionen über die Arbeitsgruppen hinaus werden intern unter den Moderatoren abgestimmt, bevor sie an die Mitglieder rausgegeben werden.

 

Umstrittener Aufruf

Böhmermanns Bekanntheit sorgte in den ersten Wochen zwar für den erfolgreichen Start der Gruppierung. Doch es gab auch Ärger. Unter anderem wegen Blocklisten, die Böhmermann im Zuge der Gründung der Bewegung auf seinem Twitter-Account veröffentlichte. In den Listen waren Accounts von Mitgliedern der “Reconquista Germanica” zu sehen und all jene, die sonst zum “rechten Spektrum” gehörten. Böhmermann rief seine Follower dazu auf, die Accounts zu blockieren oder “mit Liebe zu überschütten”.

Das Problem: Nach welchen Kriterien der Satiriker die Listen aufstellte, ist bis heute unklar. Auf ihr standen unter anderem Namen wie Frauke Petry, Erika Steinbach und Roland Tichy. Auch das ZDF stand in Folge der Veröffentlichung in der Kritik. Intendant Thomas Bellut erklärte nach zahlreichen Programmbeschwerden: “Veröffentlichungen auf privaten Twitter-Accounts wie von Herrn Böhmermann liegen nicht in der redaktionellen Verantwortung des Senders.“

Die Nähe der Bewegung zum ZDF und der von Böhmermann moderierten Sendung “Neo Magazin Royal” rief auch die AfD auf den Plan, die darin die Neutralität des Senders untergraben sah. Aus Sicht der AfD stellt Böhmermann unbequeme Internet-Nutzer pauschal an den Pranger und missbraucht dafür das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Die Befürwörter argumentieren, dass Böhmermann den Link zu Discord selbst auf seinem privaten Twitter-Account veröffentlichte und sich die Bewegung zudem nicht gegen etwas, sondern für das Grundgesetz ausspreche.

Aktivität hat nachgelassen

Diese Kritik ist an den Gründern der Bewegung nicht vorbeigegangen. Sie betonen immer wieder, dass “Reconquista Internet” nichts mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu tun habe. Über mögliche finanzielle Hilfen verraten die Macher aber nichts. Nur so viel: “Wir haben bislang wenig Aktionen gehabt, wo wir externe Mittel gebraucht haben. Wir investieren unsere Freizeit. Auch der Server auf Discord ist gratis.” Die groß angelegten Bild-Projektionen von Özil ans Brandenburger Tor und ähnliche Projekte dieser Art seien durch eine Zusammenarbeit mit dem Aktivistennetzwerk Pixelhelper entstanden, die kostenfrei war.

“Reconquista Internet hat sich in den vergangenen Monaten entwickelt und wir werden uns entwickeln”, ist sich der Admin sicher. “Wir haben uns zum Ziel gesetzt, den Diskurs nicht zu ersticken und die Wirklichkeit zurück ins Internet zu bringen.” Nach wie vor sei das wichtig.

Zwar habe die Aktivität bei “Reconquista Internet” nach der aufmerksamkeitsstarken Startphase nachgelassen, gesteht unser Gesprächspartner ein. Doch nun erkenne er wieder einen kleinen Aufschwung. Wie viele Mitglieder sich aktiv an den Aktionen beteiligen, könne er nicht genau sagen. Auf der Discord-Seite der Gruppe sind je nach Uhrzeit zwischen 2.000 und 5.000 der 61.000 Mitglieder zumindest online.

Symptombehandlung im Netz

“Reconquista Internet” ist nicht die einzige, aber eine der größten Anti-Troll-Bewegung im Netz. Die Facebook-Gruppe “#ichbinhier” setzt sich seit 2017 gegen Hassrede in dem Sozialen Netzwerk ein. Bei “Aktionen” werden #ichbinhier-Mitglieder durch einen Link in Facebook-Kommentarspalten geleitet, die Hassrede enthalten. Die Mitglieder liken anschließend gegenseitig ihre Beiträge.

“#ichbinhier”, das fast 45.000 Mitglieder hat, ist von der Organisation her nah an “Reconquista Internet” dran. Anfangs stand sogar eine Zusammenarbeit im Raum, erklären die Initiatoren der Aktion gegenüber MEEDIA. Daraus ist aber zunächst nichts geworden. “Wir haben den Eindruck, dass es aktuell um Reconquista Internet ruhig geworden ist, was wir sehr bedauern”, schreiben die Leiter des Projekts. Dabei habe sich an dem schlechten Klima in den Kommentarspalten der Netzwerke nichts geändert.

“Wir machen mit unseren Aktionen Symptombehandlung unter bestimmten Beiträgen in den Kommentarspalten und nur dort bewirken wir ganz konkret etwas”, heißt es weiter. “Da braucht es einen langen Atem.”

Das ständige Gegenhalten ist anstrengend, es erfordert viel Engagement. Dass einige der Aktivisten dieses Engagement haben, ist unbestritten. Und auch fünf Monate nach der Gründung von “Reconquista Internet” ist die Zahl der aktiven Nutzer, die sich gegen Populisten und Meinungsmache im Netz stellen, noch immer beeindruckend hoch.

Ihren Ansporn ziehen sie aus dem Wissen, dass die Gegenseite ebenso organisiert ist wie sie. Das Netz wollen sie nicht kampflos den Rechten überlassen. Der heute veröffentlichte Hassreport formuliert es treffend: “Die Wirklichkeit muss von den Vernünftigen und Anständigen gestaltet werden – und nicht von den Enthemmten, die am lautesten schreien.”

Okt. 2018 | Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren