„Poesía sin fin“- in allen seinen Bewegungen bleibt eine gewisse Grundbefangenheit sichtbar

Zwei Filme, „El Topo“ (1970) und „Montana Sacra – Der heilige Berg“ (1973), haben Alejandro Jodorowsky seinen legendären Ruf als Meister des subversiven Gegenkinos eingebracht. In den darauffolgenden Jahrzehnten machten die zahlreichen Filme, die der Chilene nicht drehte (insbesondere ein spektakulär gescheitertes „Dune“-Projekt) mehr Schlagzeilen, als die recht wenigen, die er realisieren konnte. Inzwischen beginnt sich dies allerdings zu ändern. Mit einem bislang zweiteiligen autobiografischen Filmprojekt gelang dem auch als Dichter und Comiczeichner aktiven Regisseur ein überraschendes und im Großen und Ganzen auch überzeugendes Comeback.

„La danza de la realidad“ (2013), der erste Teil der Filmserie, nahm seinen Ausgangspunkt bei Jodorowskys Kindheit im Chile der 1930er Jahre und litt, einigen eindringlichen poetisch-surrealistischen Passagen zum Trotz, doch noch ein wenig unter dem Double-Bind von Historienfilm und Familiendrama. Dem nun die deutschen Kinos erreichenden „Poesía sin fin“ gelingt es deutlich besser, sich von den im Vorgänger zentralen Daddy-Issues freizuspielen und die Energien seines Frühwerks zu mobilsieren.

Dabei wählt auch der neue Film eine im Vergleich zum delirant-entfesselten Frühwerk entschieden konservative Grundform. Erzählt wird die Geschichte eines jungen Mannes namens Alejandro Jodorowsky, der in Chile in einer kleinbürgerlich-kleingeistigen Umgebung aufwächst, schon früh mit Künstlern in Kontakt kommt und bald mit seiner Familie bricht, einige Jahre lang das auch sexuell befreite Leben eines zwischen den Künsten, Jobs und Liebschaften hin und her driftenden Bohemiens lebt, und schließlich, auch als Reaktion auf den aufkommenden Faschismus, sein Heimatland verlässt. Eine durch und durch klassische Coming-of-Age-Erzählung also, unterfüttert mit Authentizitätsmarkierungen: Gedreht wurde in Santiago, der Stadt, in der Jodorowsky seine Jugend- und jungen Erwachsenenjahre verbrachte; genauer gesagt sogar in denselben Straßen, in denen er einst aufgewachsen war und die für „Poesía sin fin“ mithilfe von Fototapeten und anderen Props in einen hochgradig artifiziellen, hybriden Erinnerungsraum (ein schönes Detail: die der japanischen Kabuki-Tradition entlehnten, komplett schwarz gekleideten Bühnenhelfer, die live vor der Kamera Umbauten vornehmen) verwandelt werden. Der Regisseur selbst, inzwischen 88-jährig und schneeweißhaarig, aber immer noch äußerst agil, geleitet uns zu Anfang in seine Geschichte und verabschiedet sich am Ende auch wieder von uns und von seinem jüngeren Ego.

Genauer gesagt gibt es in „Poesía sin fin“ zwei junge Alejandro-Jodorowsky-Darsteller, beide sind – nun ja – ziemlich großartig. Zunächst spielt der bereits aus „La danza de la realidad“ bekannte Jeremias Herskovits den noch nicht den Fängen seiner Familie entkommenen Alejandro – ein schüchterner, linkischer Lockenkopf, der beim Gedichtedeklamieren noch eher auf den Mitleidsbonus setzen muss und darf. Den erwachsenen, vom Elternhaus emanzipierten Sturm-und-Drang-Alejandro verkörpert dann Adan Jodorowsky, der Sohn des Regisseurs; und auch wenn der sich in seinem Körper wohler zu fühlen scheint als die jüngere Jodorowsky-Inkarnation, bleibt doch in allen seinen Bewegungen eine gewisse Grundbefangenheit sichtbar. Jodorowsky inszeniert sein jugendliches Selbst durchaus als hochgewachsenen, virilen Schönling, aber ein Ideal-Ich ist das trotzdem keineswegs. Eher ist das ein den äußerlichen Exzessen zum Trotz in seinem tiefsten Inneren gehemmter junger Mann, der vielleicht gar nicht so genau weiß, was er damit meint, wenn er seinem homophoben Vater wieder und wieder entgegnet: nein, ich bin keine Schwuchtel. Im Film jedenfalls wimmelt es von Penissen und schönen Männern, weibliche Sexualität spielt auch eine wichtige Rolle, hat aber stets etwas entschieden Monströses.

Und dann wird auch noch Alejandros erste Liebe, die knallrothaarig-vampige, körperbemalte Dichterin Stella Díaz Varín von derselben Schauspielerin (Pamela Flores) gespielt wie seine Mutter. Wobei der freudianische Kurzschluss da (und auch sonst bei Jodorowsky) weniger wichtig ist als das pure Körperspektakel. Eine Parallelmontage zeigt zum einen Alejandros erotoman-mystische erste erotische Begegnung mit dem nackt und voluminös auf dem Bett ausgestreckten Gesamtkunstwerk Stella, und zum anderen den braven ehelichen Geschlechtsverkehr seiner Eltern. Dass Sexualität ja nicht auf Penetration, beziehungsweise „Geschlechtsverkehr“ reduziert werden soll, das bleibt auch im Folgenden eine Grundvoraussetzung des bunten, polymorph-perversen Treibens. Gleichzeitig vagabundiert allerdings, in verschiedenen Inkarnationen, ein Jungfrauenkult durch den Film. Und während drei Freunde des jungen Alejandro sich in einem queeren Melodram verfangen, bleibt der Protagonist selbst emotional seltsam unge-, beziehungsweise unberührt von dem wilden Treiben um ihn herum. Adan Jodorowsky ist über weite Strecken eher Impressario als Akteur, die Ruhe im Zentrum des Orkans.

Eine Welt für sich

Der Film wird umso besser, je mehr er sich im Episodischen verliert. Und auch, umso mehr Jodorowsky seine Kunst nicht als ein Produkt sozialer, beziehungsweise psychologischer Zwänge darstellt, sondern als eine Welt für sich zeigt, als einen Freiraum, als eine Lizenz zum Blödsinnmachen. In ihrer konkreten Ausformung hat diese Kunst aus den fiktionalen Jodorowsky’schen Flegeljahren auch noch nicht allzu viel zu tun mit der blutrünstigen, blasphemischen, abjekten Drastik der Bildwelten von „El Topo“ und „Montana Sacra“. Stattdessen dominieren vulgärer Lowbrow-Humor (furzende Clowns; obszönes Kasperletheater), versponnene Erotomanie, Verkleidungs- und Maskierungsspiele. Entscheidend ist durchweg der kreative Impuls, nicht das Ergebnis. Wichtigster Schauplatz ist das „Cafe Iris“, eine Künsteroase mit großartigem Design, irgendwo zwischen Fin-de-Siecle-Dekadenz, wunderbar überzogenen Existenzialismus-Klischees und Fassbindertristesse. Das „Cafe Iris“ hat mit Sicherheit, wie die meisten Figuren und Ereignisse im Film, ein realweltliches Vorbild. In seiner filmischen Realisation ist es jedoch weder ein sozialer, noch ein historischer Raum, sondern eher ein Emblem der Differenz, die Kunst in die Welt einzutragen vermag.

Anarchistischer Bilderzauberer

All das wird was Wunder so oder so – das lässt sich nach zwei Filmen der autobiografischen Serie mit ziemlicher Sicherheit sagen – hinauslaufen auf die Geburt des Großkünstlers Jodorowsky, der in „Poesía sin fin“ zwar nicht unbedingt mit sich selbst identisch ist, aber letztlich dennoch als Anfang und Ende von allem und ganz besonders seiner eigenen Kunstpraxis gefeiert wird. Das war vielleicht schon immer das Sonderbare an Jodorowsky: Da ist ein anarchistischer Bilderzauberer, der mit seinen hemmungslosen Schöpfungen nicht nur die Bilderfabriken des Mainstreams, sondern auch das bürgerliche Kunstkino in Schutt und Asche legen möchte – und der dabei gleichzeitig und völlig unironisch dem schon in den 1960ern anachronistischen, romantischen Ideal des schöpferisch-genialen Großkünstlers verhaftet bleibt. „Poesía sin fin“ legt nahe, dass es letztlich Jodorowskys purer, unvernünftiger, verantwortungsloser Spieltrieb ist, der diesen Widerspruch aussöhnt und der sein Werk da, wo es funktioniert, zu einem Erlebnis sondergleichen macht.

Poesía sin fin – Chile 2016 – Regie: Alejandro Jodorowsky
Darsteller: Adan Jodorowsky, Brontis Jodorowsky, Pamela Flores,
Alejandro Jodorowsky, Jeremias Herskovits
Laufzeit: 128 Minuten.

Sep. 2018 | Allgemein, Feuilleton, Junge Rundschau, Film | Kommentieren