In der detailreichen Darstellung des Theologen Robert M. Zoske über den vor 75 Jahren am 22 Februar mit 24 Jahren zum Tod verurteilten Medizinstudenten wird deutlich, dass das Bild, das die Deutschen von einem der berühmtesten Gegner der Nationalsozialisten haben, unvollständig ist. Hans Scholl war ungewöhnlich mutig, das wusste man; weniger bekannt war, aus welch unterschiedlichen Quellen sein Mut sich speiste. Scholl, das zeigt Zoskes Biografie, war eigenwillig und unangepasst, er war elitär und kompromisslos. Der Anführer der „Weißen Rose“, eine Art säkularer Heiliger, aus dessen Handeln mehrere Generationen von Nachkriegsdeutschen einen gewissen Trost angesichts der Untaten ihrer Väter und Großväter schöpften, wird, so betrachtet, erst recht zur interessanten Gestalt.

Hans Scholl hatte sich in den anonymen „Flugblättern der Weißen Rose“ gemeinsam mit seiner Schwester Sophie gegen die nationalsozialistische Diktatur gewandt. Die Geschwister wurden gefasst und büßten mit ihrem Leben, am 22. Februar 1943 wurden sie im Gefängnis München-Stadelheim hingerichtet. Die Nachwelt machte die beiden und ihre wenigen, ebenso tapferen Mitstreiter zum „Widerstandskreis Weiße Rose“ – den es unter diesem Namen so gar nicht gab. Denn die Studenten Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf, der Schüler Hans Hirzel, der Münchner Universitätsprofessor Kurt Huber und noch einige andere hatten sich nicht etwa ein zugkräftiges Etikett für ihren kleinen Kreis überlegt, bevor sie todesmutig in den Kampf gegen das Dritte Reich zogen. „So bildhaft schön die Überschrift ‚Flugblätter der Weißen Rose‘ auch war – der widerständige Freundeskreis hat sich niemals unter diesem Namen konstituiert“, schreibt Robert Zoske.

Hans und Sophie Scholl

Bedeutsamer ist, dass Hans Scholl durch Zoskes Buch aus dem Schatten seiner jüngeren, dennoch berühmteren Schwester Sophie heraustritt. Sophie Scholl ist im Laufe der Jahrzehnte vor allem durch Verfilmungen zu Recht als Seele des Widerstands und Vorbild unangepassten weiblichen Mutes dargestellt worden. Ihren Bruder schildert Zoske als die treibende Kraft und den intellektuellen Kopf der jungen Hitlergegner. Und sowohl Hans Scholl als auch seine Schwester waren, wie Zoske zeigt, bis zu ihrem Lebensende überzeugte Protestanten.

Noch in der Schulzeit der Geschwister war nicht zu ahnen gewesen, dass sie wenige Jahre später den „Führer“ und sein Regime unnachsichtig angreifen würden. Bruder und Schwester waren, wie auch die älteste Schwester Inge, die nach dem Krieg den Widerstand ihrer Geschwister bekannt machte, begeisterte Mitglieder der Ulmer Hitlerjugend. Hans Scholl nahm 1935 als 15-Jähriger am Reichsparteitag in Nürnberg als Fahnenträger teil – und das, obwohl die Eltern, der Wirtschaftsprüfer Robert Scholl und seine stark pietistisch beeinflusste Frau Lina, zu liberal, zu pazifistisch und zu individualistisch waren, um dem Nationalsozialismus zu folgen. Ihre ältesten Kinder aber waren eine Zeit lang so, wie das Regime es sich wünschte. Gleichzeitig hing Hans jedoch den Ideen der verbotenen Bündischen Jugend an.

„Wir wollen doch Flamme sein, unsere Kraft muss federnder Stahl sein, unsere Seele trockene Weißglut“ schrieb der Fähnleinführer Scholl an einen der Jungen aus seiner Ulmer Gruppe, in der er verbotenerweise die Weltanschauung der „deutschen autonomen Jungenschaft“ mit jener der Hitlerjugend zu vereinen suchte. Die Wortwahl zeigt, wie sehr Hans Scholl Kind seiner Zeit war – als Anhänger des Dichters Stefan George und romantischer Schwärmer, den es nach heroischer Tat und Weltveränderung drängte.
Dies blieb so, bis Hans Scholl – mittlerweile Soldat – 1937 wegen illegaler bündischer Jugendarbeit und wegen Verstoßes gegen den Homosexuellenparagrafen 175 von den nationalsozialistischen Behörden verfolgt und schließlich angeklagt wurde. Anhand bisher unbekannter Briefe zeigt Zoske, dass Scholl seinen Weg zwischen Nichtanpassung, Heroismus, Kontemplation, Elitedenken, deutschnationalen Gesellschaftsvisionen und Frömmigkeit suchte. Der junge Mann, der sich zu Männern und Frauen gleichermaßen hingezogen fühlte, war ohnehin wohl ein zu vielschichtiger und zu feinsinniger Charakter, als dass er mit der zwar Elite und Charisma propagierenden, aber ansonsten so schlichten wie brutalen Ideologie des Nationalsozialismus noch lange etwas hätte anfangen können.

Die Anklage vor einem „Sondergericht“, das in der innigen Beziehung des 16-jährigen Hans mit einem Freund jedoch nur eine „jugendliche Verirrung“ sah und das Verfahren 1938 einstellte, belastete Hans Scholl und seine Familie monatelang. Und es „verschob die Gewichte“, wie Robert Zoske schreibt. Hans Scholl war erschüttert und öffentlich gedemütigt durch die Untersuchungshaft und Anklage wegen „widernatürlicher Unzucht“. In dieser Zeit der Krise begann er, Gedichte zu schreiben, die sich im Nachlass von Inge Aicher-Scholl fanden und im Buch abgedruckt sind; sie thematisieren intensiv Gott und Glauben, Natur und Schöpfung, die eigenen Sehnsüchte.
Die Schwester erwähnt die Gedichte in ihrer erstmals 1952 erschienenen Geschichte der „Weißen Rose“ nicht, vermutlich, weil sie deren Entstehung dann hätte erklären müssen und damit das Tabu der Homosexualität ihres Bruders.
Es liegt nahe, diese Krise als Wendepunkt zu sehen, wie Zoske es tut. Er zeichnet Scholls Weg vom tief verunsicherten Angeklagten, der sich dem Nationalsozialismus entfremdet, zum aktiven Widerständler nach: ein junger Mann mit nun rasch wechselnden Freundinnen, der mit höchster Energie philosophische und theologische Studien betreibt, dessen im Elternhaus angelegte Frömmigkeit neu entflammt, der aber auch eine gewisse elitäre Unnahbarkeit pflegt. Eine prägende Gestalt für den Medizinstudenten mit philosophischen Neigungen wird der Schriftsteller Thomas Mann, dessen Aufforderung aus dem amerikanischen Exil an die „deutschen Hörer“, sich des Regimes zu entledigen, ihren Niederschlag in den Flugblättern findet.
Robert Zoske hat die geistigen Wurzeln und die Prägung Hans Scholls in seinem anregenden und kenntnisreichen Buch präzise offengelegt. Ohne seine „christlich-politische Zielstrebigkeit“, schreibt Zoske, sind Scholls Widerstand und sein Freiheitsbegriff kaum denkbar.

Buchinformationen und Leseprobe Beck Verlag
Robert M. Zoske: „Flamme sein“

Buchinformation und Leseprobe: S. Fischer Verlag
Inge Scholl: „Die weiße Rose“

Jul 2018 | Allgemein, Buchempfehlungen, Junge Rundschau | Kommentieren