Kritiker entscheiden darüber, wie die lange Arbeit eines Ensembles, eines Orchesters oder einzelner Künstler in einer weit größeren Öffentlichkeit als an einzelnen Abenden ankommt. Lob oder Verriß bedeutet hier viel.
Sind Kritiker eitel? Eitelkeit ist bei Kritikern schon fast eine Berufskrankheit. Einige – und da bin ich nicht in schlechter Gesellschaft – haben sich hochmütig zu ihrer Eitelkeit bekannt. Meist rufen diejenigen im Chor, Eitelkeit sei doch eine humane Eigenschaft, die ihren nützlichen Spaß daran haben. Weil es keine verbindliche Regeln gibt außer derjenigen, die ein guter Kritiker von Begegnung zu Begegnung, von Objekt zu Objekt in sich verspürt, darum muß der verantwortlich arbeitende Kritiker seine eigene Reaktion ernst nehmen. Wo aber Eitelkeit branchenüblich ist, muß sie etwas über die Branche verraten. Es fällt ja auf, dass in fast allen intellektuellen und künstlerischen Berufen weder an Eitelkeit noch an selbstverliebter Affigkeit Mangel herrscht. Weil Kritiker nicht unentbehrlich sind, muß die Bedeutung kritischer Subjektivität für sich sprechen. Das fünfte Rad am Wagen fühlt sich überflüssig, andererseits wichtig. Das macht in der Tat eitel.
Wie lebt ein Kritiker mit Kritik an seiner Kritik?
Es ist für den Kritiker nicht leicht, immer im Schatten von Geschmacksurteilen aufzutreten. Und es ist auch lästig, sie zu fällen. Es verdirbt oft Beziehungen und gute Laune. Was Wunder, dass Kritiker und Kritisierte nach Ausflüchten suchen. Dieses Unbehagens wegen mögen viele Kritiker ihrer Urteils-Pflicht nicht nachkommen, schwimmen seicht im sowohl-als-auch. Wer sich den Folgen der unfein-pedantischen Urteilspflicht entziehen will, muß sich feige vom Richterstuhl wegstehlen: in die höheren Sphären der Kunstbetrachtung zum Beispiel; das gilt dann als taktvoll. An so einem Kritiker wird unbegreiflicherweise keine Kritik geübt. Natürlich liegt in einem massiven Urteil über künstlerische Leistungen immer auch etwas Klatsch oder Unverschämtheit. Wenn sich beispielswiese ein verhinderter Dirigent oder Pianist widriger finanzieller Umstände wegen aus dem Elfenbeinturm in die „Niederungen des Musiklehrerdaseins“ hineingestoßen sieht und sich jahrelang als Rumpelstilzchen gebärdet, dann mußte das auch mal geschrieben werden dürfen. Dass dann Kritik an solcher Kritik geübt wird, ist zwangsläufig. Und bestätigt.
Gibt es eine produktive Kritik?
Zunächst einmal: es gibt hohles Geschreibe genug, das als Bestätigung für eigene Größe in Alben gesammelt wird. Hier hätte der Kritiker seinen Beruf verfehlt, wie der Riesling, der nicht getrunken wird. Der Kritik vorschreiben, sie solle „produktiv“ sein, bedeutete allerdings, dass nichts radikal verneint werden dürfe. Nur nichts zerstören, niemandem die Existenzberechtigung absprechen, im übrigen aber ruhig kritisieren. Deshalb aber passiert so wenig. Altmeister Goethe hat dazu mal gesagt: „So ist das Hervorbringen freilich immer das Beste, aber auch das Zerstören ist nicht ohne glückliche Folge“. Um auf die Frage zurückzukommen: Die Kritik trachtet natürlich dem zu kritisierenden Objekt nicht gleich nach dem Leben. Häufig will sie wirklich nur korrigieren, gut und schlecht abwägen, Maßstäbe anlegen, klassifizieren und verbessern. Und da freilich gibt es die meisten Mißverständnisse, den meisten Ärger mit der Kritik. Die Frage nach der „Zuständigkeit“ taucht spätestens hier auf.
Wer ist „zuständig“?
Tatsächlich wird die Frage nach der Zuständigkeit zum eigentlichen Fetisch aller Diskussionen über Kunst und Kritik. Die Antwort lautet: zwar dürfen alle ihre Meinung sagen, aber zuständig und kompetent ist keiner. Bei dieser schönen Aporie (Ausweglosigkeit) bleiben bis in alle Ewigkeit die meisten Streitgespräche über die Beurteilung von Kunstwerken stecken. Doch so sieht’s aus: Es wird erwartet, dass der Kritiker dem atemlos lauschenden Publikum mitteilt, was es sich bei einem Theater-, Opern- oder Ballettabend hätte denken sollen, wenn es nur so klug gewesen wäre, wie die kritikasterisierenden Orakel. Womit wir bei unserer Ausgangssituation angelangt wären. Wir gingen ja gerade von der Frage aus, woher denn nun diese Orakel die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gepachtet haben, oder gar wissen. So könnte man das ohnehin stets polemische Gerede über die Unzulänglichkeit und Kompetenz eines Kritikers mit dem Hinweis ersticken, der kritische Text spreche doch für oder gegen sich selbst. Jede Kritik enthalte schließlich nicht nur ein Urteil über ihren Gegenstand, sondern auch über den, der sie schreibt.
Reine Unbestechlichkeit?
Und Vorlieben?
So reizvoll es auch sein mag, das „hic Rhodos, hic salta“ für’s A und Ω zu nehmen, sich auf Stilmerkmale, intellektuelles Niveau, Urteilssicherheit und so weiter zu verlassen, so wenig genügen diese Kriterien zur Beurteilung eines kritischen Anspruchs, zur Beantwortung der Frage, ob denn der betreffende Kritik-Autor in der Tat zuständig sei. Es gilt aber auch zu beachten, ob die Kritik für ein Weltblatt, eine Lokalzeitung, ob sie für eine Fachzeitschrift oder für ein erstes, zweites oder drittes Rundfunkprogramm geschrieben wurde. Ferner, ob sie von jemandem geschrieben wurde, der sich im Einverständnis mit dem Geschmack seiner Leser oder Hörer befindet, oder ob er allen Konformismus verachtet. Wer Kritik als Beruf versteht und ausübt, dem muß es allen Unsicherheiten zum Trotz gelingen, den Eindruck durchgehaltenen Niveaus zu vermitteln, eines verantwortungsvoll abgewogenen Anspruchs und reiner Unbestechlichkeit, was freilich Vorlieben nicht unbedingt ausschließt. So ergibt sich – meine ich – Zuständigkeit. Nun mag sich Kompetenz und Zuständigkeit auch aus dem Engagement von Schreibern guten Glaubens ergeben, die geäußerte Meinung in genau dem Maße zur Bekundung weltanschaulicher Loyalität gemacht zu haben, dass diese Meinung paradoxerweise parteiisch ist. Hier stoßen wir auf eine Schaukel, die den kritischen Standpunkt ersetzt: Der Kritiker muß so viel wie möglich wissen über Ästhetik, Dramaturgie, Musik, Literatur, Zusammenhänge, Hintergründe, über „Richtig“ und „Falsch“. Dies Wissen darf jedoch nicht wie eine Rüstung zwischen ihm und dem Gegenstand der Kritik stehen. Wenn es anfängt so zu sein, dass des Kritikers Wünsche sein Gesetz werden und seine Reaktionen vorhersehbar, dann sollte er versuchen, irgendwo als Dramaturg oder Lektor ehrenhaft auf die Seite der Überzeugungstäter hinüberzuwechseln.
Die wichtigste Sache der Welt?
Über Kritiken nachzudenken und sich kritischen Fragen zu stellen, macht einem Kritiker natürlich Spaß. Ich durfte mich für diese Weile ungeheuer ernst nehmen, mich über meinen Denkapparat beugen und erzählen, wie dies Wunderwerk arbeitet. Das mag nun aussehen, als sei das Entstehen einer Kritik so ungefähr die wichtigste Sache der Welt.
Also, zu guter Letzt noch einmal: Eitel?
Wenn das mal wirklich wieder alles so ist, wie Jürgen Gottschling meint ist es beinahe ein Zeichen
von geistesgeschichtlichem Instinkt, dass Kritiker zur Eitelkeit neigen.
Denn dadurch verraten diejenigen, deren Beruf es ist, kritische Antworten zu geben, dass sie alle Sicherheiten, die man von ihnen erhofft, weil es gut wäre, geborgen zu sein, vorspielen müssen.
Nach wie vor ist der Zuschauer allein gelassen mit der Aufführung, dem Text, der kritischen Antwort und seinem eigenen Kunstverstand.