„Die Welt des Glücklichen“, hat uns Ludwig Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus gelehrt, „ist eine andere als die des Unglücklichen. Wie auch beim Tod die Welt sich nicht ändert, sondern aufhört.“ Ob Wittgenstein dies Wissen auf Glauben gründet? Ihn können wir nicht mehr fragen, fragen wir also mal uns: Besteht nicht ein unüberbrückbarer Graben zwischen Vernunft, Wissen und Glauben? Gibt sich nicht Vernunft als präzises Denken nach dem Maßstab des Wissenschaftlichen aus – derweil dem Glauben zugestanden wird, solcher Maßstäbe nicht zu bedürfen, dass er ins Vage, das Unkontrollierbare und weniger Feste abdriften dürfe? Allenfalls mag er – im Weiteren eine Homage an den Philosophen – nicht zuletzt des Versuchs wegen, seinen sicheren Boden zu haben, sich an Offenbarungen, heilige Bücher und Dogmen halten, die aber nur aus ihm selbst Verbindlichkeit gewinnen und andere zu nichts verpflichten – fragen wir uns. Und versuchen eine Antwort:
„Das stärkste Argument gegen das Christentum sind die Christen; die Christen, die nicht christlich sind. Das Stärkste Argument für das Christentum sind die Christen; die Christen, die christlich leben“. Das schrieb der katholische Theologe Hans Küng und, eigentlich ist daran kaum etwas erstaunliches. Hat sich nicht aus dem Marxismus der Stalinismus entwickelt, aus dem „Citoyen“ wurde flugs der „Bourgeois“, auf die Bergpredigt folgte die „Konstantinische Schenkung“ (diese Urkunde stammt nicht nur nicht aus dem 4. Nachchristlichen Jahrhundert, sondern ist eine viel spätere Fälschung, an der die Kirche mitwirkte, weil sie damit begünstigt wurde. Nehmen wir also zur Kenntnis: Überall ist der Wurm drin …
Halten wir uns in Glaubensfragen an die Bibel; sind da nicht nicht denkende Menschen aufgeschmissen – es sei denn, sie lassen sich Inhalte von denkenden Bibellesern interpretieren. Dies Buch nämlich überlässt die Lösung von Problemen der persönlichen Entscheidung, sie gängelt nicht, sondern provoziert individuelle Antworten. Die Bibel ist ein mehrgängiges, scharf gewürztes und teilweise schwer verdauliches Menü. Wir dürfen nicht alle Zutaten einfach durch ein Sieb pressen und den Saft dann flaschenweise feilbieten, nein, da muss schon jeder selber dran kauen. Nehmen wir als Beispiel dafür den bis heute nicht beigelegten Theologenstreit um das theologisch-physiologische Mysterium der Jungfrauengeburt – und geben dazu Thomas von Aquin das Wort:
„Wie die Strahlen der Sonne die feste Masse des Glases durchdringen, ohne sie zu brechen oder irgendwie zu verletzen, auf ähnliche und noch erhabenere Weise trat Jesus Christus aus dem mütterlichen Schoß ohne den geringsten Nachteil für die Jungfräulichkeit seiner Mutter hervor.“
Goethes „Erlösungsvorgang“
Gönnen wir uns noch einen kleinen Schlenker zu Johann Wolfgang von – also wenden wir uns hin zu seinem Faust: „Der Erdenkreis ist mir genug bekannt, / Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; / Tor, wer dorthin sein Auge blinzelnd richtet, / sich über Wolken seinesgleichen dichtet.“
Wer im Zwiespalt lebt, verteidigt um so hartnäckiger die Widersprüche seiner Position. Das Heidnische und das christliche sind gleichermaßen hienieden angesiedelt, die abendländische Geschichte bewegt sich in diesem Spannungsfeld. Dividiert man dann noch Protestantismus und Katholizismus, gerät man in die bekannten Zerreißproben. Thomas Mann hat sich dagegen ereifert, er hat sich geärgert über den Erlösungsvorgang am Ende des Faust, wo ja Engel „Faustens Unsterbliches“ (so die Regieanweisung) der Verklärung entgegen tragen. Mit allem Glanz katholischer Versinnbildlichung.
Wo bleibt da, fragte Thomas Mann kokett entrüstet, die protestantische Charakterstärke. Worüber entrüstet er sich? Über einen weihrauchduftenden Opernhimmel mit Mater gloriosa, Engelchören, Pater profundus, Pater seraphicus, mit Büßerinnen und seligen Knaben – lassen wir der Bühne ihr Spiel und lassen Faust unseren letzten Schlenker in Sachen letzte Dinge einleiten:
„Zwar weiß ich viel, doch möchte ich alles wissen.“
Heraklit (ca. 540 – 480 v. Chr.) hat bereits hat den symbolischen Charakter der Religion entdeckt: „Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sättigung und Hunger; er wandelt sich aber gerade wie das Feuer, das, wenn es mit Räucherwerk vermischt wird, nach dem Duft eines jeden so oder so benannt wird.“ Im absoluten Geist Gottes lösen sich die Gegensätze auf, der innerste Kern der Natur ist das göttliche Weltgesetz.
Mählich beginnt es selbst den Profiteuren des Fortschritts zu dämmern, dass sich Unheil zusammenbraut über einer Gesellschaft, die bislang glauben durfte, ihre Existenz vornehmlich auf die regulierende Kraft der Märkte gründen zu können, und dies ohne Rückkoppelung an jene Bereiche, die wir, ohne Ansehen der Konfessionen, als Religion bezeichnen.
Keine der Religionen verheimlicht die Gebrechen der diesseitigen Welt und ihrer Menschen. Wer die Bibel liest, erfährt ungeschminkt menschliche Realität, vom Lächerlichen bis zum Erhabenen, vom Sanften und Rührenden bis zum Schrecklichen und Barbarischen, von der innigen Liebe bis zum tödlichen Hass Von Kain und Abel bis zum Kreuzestod Christi durchzieht die Bibel eine einzige Kette von menschlichen Miserabilitäten, gegen die so manches Skandalon unserer Tage eher harmlos anmutet.
Trotz oder wegen dieses Wissens um die schreckliche Unzulänglichkeit des Menschen versucht die Religion in allem, was dieser ausrichtet und anrichtet, jenen Punkt ausfindig zu machen und auf ihn hinzudeuten, an dem Katharsis, Reinigung also, und somit Erlösung von menschlichem Übel möglich wird.
Der Boden unter den Füßen.
Der Himmel über uns.
Glauben?
Die kopernikanische Revolution hat das religiöse Erleben verändert. Da sie die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt entfernte, hat sie die Himmel abgeschafft, die bis dahin die Menschheit schützend umhüllten. Dies führte zu einer Deastronomisation des Himmels im religiösen Sinn des Wortes. Er ist nicht mehr „oben“, er ist „jenseits.“ Daher wird die Raumfahrt das religiöse Erleben wohl kaum irgendwann beeinträchtigen. Existentiell ist sie die Erfahrung, dass die Begriffe „oben“ und „unten“ nur relativ zu Körpern bedeutungsvoll werden, und dass auch die aus ihnen folgenden Begriffe wie „erhaben“ und „infernal“ relative Bedeutungen haben. Die Astronomie steht nicht mehr im Gegensatz zur Religion, und der Streit um Darwin ist wahrscheinlich der letzte dieser Art von Auseinandersetzung. Denn die Begriffe „Glauben“ und „Wissen“ sind einem Bedeutungswandel ausgesetzt, der mit Kopernikus einsetzte. „Glauben“ bedeutet nicht mehr „Fürwahrhalten“, sondern „Vertrauen“. „Wissen“ bedeutet nicht mehr, eine unbezweifelbare, sondern eine anzuzweifelnde, aber vertrauenswürdige Information zu besitzen. Die Glaubensprobleme sind nicht mehr vom Typ „Ist das wahr?“, sondern vom Typ „Kann ich mich darauf verlassen?“ Und die Aussagen der Wissenschaft sind zwar vertrauenswürdig, aber wenn sie nicht zweifelhaft sind, sind sie nicht wissenschaftlich, also nicht „wirkliches Wissen.“ Dies aber bedeutet, dass Glauben und Wissen nicht mehr im Konflikt stehende, sondern komplementäre, also sich gegenseitig ergänzende Stellen in unserem Bewusstsein besetzen. Wir glauben an die Wissenschaft und halten das religiöse Erleben für eine Quelle dieses Wissens. Ein derartig sich gegenseitig Ergänzendes ist aber wenig geeignet, Glauben und Wissen zu stützen. Beide, Religion und Wissenschaft, „verwässern“, wenn sie „verschwimmen“. Ein Beispiel: Das Bett, in dem ich liege, ist ein Schwarm von Atompartikeln, welche im leeren Raum schweben. Ich weiß das und vertraue dennoch der Solidität, der Zuverlässigkeit meines Bettes. Ein solches Vertrauen zur Solidität der objektiven Welt ist keineswegs antiwissenschaftlich, es macht im Gegenteil Wissenschaft überhaupt erst möglich. Und das Wissen von den Atomstrukturen unterhöhlt nicht etwa das Vertrauen, sondern es stützt es. Dennoch entwirft die Wissenschaft das Bild einer hohlen Welt, was nun wiederum das Vertrauen unterhöhlt, das wir zu den Aussagen der Wissenschaft hegen. Der Kreis des sich gegenseitig Ergänzenden von Glauben und Wissen aber unterhöhlt beide.
Seis drum, es lässt sich einwenden, das gewählte Beispiel habe zwar mit Glauben im allgemeinen, nichts aber mit religiösem Glauben zu tun. Der religiöse Glaube sei gerade nicht Vertrauen zur objektiven Welt, sondern zu einem jene Welt transzendierenden, also einem die Grenzen der Erfahrung und der sinnlich erkennbaren Welt überschreitenden „Urgrund.“ Es sei gerade der religiöse Glaube ein Durchbruch durch die Welt der Objekte. Ein solcher Einwand ist falsch! Zwar gibt es religiöse Erfahrungen, welche die objektive Welt als einen die Wirklichkeit verhüllenden Schein erleben, jedoch sind sie für die Religiosität nicht charakteristisch. Im Gegenteil erlebt Religiosität die objektive Welt als wirklich, nämlich als „geschaffene Werke“.
Hinter den Dingen …
Jene unsere Erfahrungen überschreitende Welt, die Religiosität „hinter den Dingen“, erlebt heute die westliche Wissenschaft, das heißt, sie öffnet den Raum, von dem aus die Dinge objektiv erkannt und behandelt werden können. Es ist eben dieser „Urgrund“ in welchem Theorien und aus welchem Techniken angewendet werden. So wäre, so ist der Glaube an die Zuverlässigkeit der objektiven Welt ein Aspekt des westlichen religiösen Glaubens. Mithin kann von einer „Krise des Glaubens“ keine Rede sein. In diesem Sinne nämlich sind wir alle religiös geblieben: Wir glauben an die Solidität, wir glauben an die Zuverlässigkeit der Dinge. Würden wir diesen Glauben verlieren, wir würden wahnsinnig werden, unfähig, in der Welt, wie wir sie erleben, zu leben.
Ich glaube! Also bin ich?
Wissenschaft ist zu einer unserer traditionellen Religionen geworden. Und sie ist in der Krise. An der Oberfläche ist die religiöse Situation außerordentlich komplex. Die einen wollen den Glauben an Gott gewaltsam (zurück) erobern. Andere, weniger radikal, wollen zumindest das Vertrauen zur Wissenschaft aufrechterhalten. Und die ihres dumpfen Glaubensverfalls bewusste Masse lässt sich treiben. Hingegen ist die Lage außerordentlich einfach: Das Vertrauen zum Menschen – und daher zu Gott und zur objektiven Transzendenz – ist vernünftigerweise unmöglich geworden. Bei alledem ist es ja aber nicht so, dass wir an der Vertrauenswürdigkeit des Menschen zweifelten, hingegen sind wir überzeugt, dass der Mensch kein Vertrauen verdient – weder als Handelnder, noch als Wissender. Wir zweifeln nicht am Menschen, wir verzweifeln an ihm. Wir verzweifeln an uns …
Der Glaube kann mit dem Zweifel leben, dies zumal, wenn wir meinen, er könne ohne Zweifel nicht sein. Die Verzweiflung aber tötet den Glauben. Die Wissenschaft ist nicht zuletzt eine Methode des Zweifelns. Infolge aber einer Verzweiflung am Wissen, bei totaler Skepsis, ist die Wissenschaft am Ende. Unsere Verzweiflung am Menschen – tötet sie Gott? Es ist gleichgültig, ob wir verzweifelte Ausbruchsversuche als Befreiungsversuche oder als letzte Verfremdung ansehen. Sag ich es zu guter Letzt „anders“: Das gegenwärtige religiöse Er-leben ist wieder allgemein („katholisch“) und abgründig geworden. In allem Erleben äußert es sich als Fehlen eines Grundes.
dass wir wieder religiös empfinden (ohne dies freilich immer beim Namen zu nennen), das unterscheidet uns von unsren Vorfahren. Ob aber diese Tiefe des religiösen Erlebens uns Trost in der Verzweiflung spendet, das ist eine andere Frage. Diese vielleicht:
Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?
Solche Fragen rühren an „letzten Dinge“, die nach – jedenfalls traditionellem Verständnis – Sache der Theologie und des Glaubens zu sein haben würden. Was allerdings auch nicht sagen will, da werde am Ende ein irrationaler „Sprung“ gefordert. Auch die Theologie nämlich muss insofern „vernünftig“ bleiben, als sie im Sinne der von ihr ja beanspruchten Wissenschaftlichkeit ihre Aussagen nicht an einer besonderen Art von Wahrheit („Glaubenswahrheit“ contra Vernunftwahrheit“) festmachen kann. Wollte sie das tun, entzöge sie sich jedem rationalen Diskurs. Auch wenn Theologie ihre Sache so betreibt, dass sie, was sie sagt nicht mehr auf sich selbst, sondern auf Offenbarung, auf das Wort Gottes oder was auch immer zurückführt, so bleibt ihr nicht erspart, eben diese Rückführung vor der Vernunft zu rechtfertigen.
Der Pluralität vieler „Vernünfte“ wegen, kann es nicht ausbleiben, dass die Theologie – und im weiteren Sinne der Glaube – das, was dort „Vernunft“ heißen soll, erst einmal angeben und ausweisen muss, und zwar im Hinblick auf die Möglichkeit, das Gespräch mit Nichttheologen und mit jenen, die dem Glauben fernstehen, weiterzuführen. Konkret fordert das ein Ernstnehmen solcher Rationalitätsformen, wie sie vom heute herrschenden wissenschaftlichen, insbesondere dem naturwissenschaftlichen Denken, praktiziert werden. Das meint keine modische Anpassung. Aber der Theologe wird am überzeugendsten bei seiner Sache bleiben können, wenn er die Sache auch der Physiker, der Biologen und der Techniker in sein Denken aufnimmt. Erst dann nämlich wird es ihm möglich sein, in Gemeinsamkeit mit anderen solche Fragestellungen zu entwickeln, die jeweils von jedem Punkt des Interesses aus auf das Grundsätzliche zielen. Denn nicht in fertigen Aussagen liegt das Verbindende unterschiedlicher Rationalitätsformen, sondern in der Offenheit für die Gewinnung neuer Horizonte des Fragens, in der Möglichkeit auch des In-Frage-Stellens.
Was allem Dasein, ja dem Sein im Ganzen, Ursprung und Grund gibt, kann keine Vernunft sagen, weil sie ja selbst in dieses Dasein verwoben ist. Aber, sie kann ihre Stärke darin erweisen, dass sie dem Glauben, da sei ein Grund, nicht feindselig widerspricht, sondern ihm den Weg offen hält. Ja. Aber:
Jetzt gehen wir mal ans Eingemachte
In Zeiten vorgeblicher Toleranz wird eine Ideologie nicht gerne an früheres, intolerantes Verhalten erinnert. Es gibt einige Techniken ur Bewältigung der Vergangenheit, die immer wieder benutzt werden. Die simpelste ist das Verschweigen, etwas raffinierter ist die historisch verstehende Verharmlosung – um nur mal eben zwei Möglichkeiten genannt zu haben. Der Aufklärer („sapere aude“, das Motto der Aufklärung und der Neuen Rundschau „wage zu wissen“) kann hier als Störenfried auftreten. Statt die alten Verbrechen ruhen zu lassen, macht er sie, machen wir sie immer wieder bewusst. Voltaire war darin ein Meister, das schlechte Gewissen seiner Gesellschaft nicht einschlafen zu lassen und die Schrecken der Vergangenheit (einer gar nicht so weit entfernten) nicht vergessen zu lassen. So berichtet er in seinem Philosophischen Wörterbuch über Justizirrtümer und Justizmorde, erinnert an den religiös-fanatisierenden Königsmörder Ravaillac und an die Inquisition, wobei er beeindruckende Stellen aus den Büchern von Großninquisitoren zitiert. Und wenn Voltaire zitiert, dann zitiert er korrekt, das ist Teil des Geheimnisses seiner Wirksamkeit (Voltaire, Dict. Philos., „Arrèts notables“, „Autorité“, „Inquisition“, „Ravaillac“).
Eine andere Art, mit unangenehmer Vergangenheit umzugehen, ist das Prinzip, dass man die Dinge „historisch sehen muss“. Wer da als Aufklärer Augenmaß bewahren will, fällt leicht auf diesen Trick herein. Das benutzte methodische Prinzip ist simpel: Handlungen, die seinerzeit häufig vorkamen, dürfen nicht den handelnden Personen zugerchnet werden, sondern den Zeitumständen. Insbesondere sei dann eine moralische Entrüstung oder Verurteilung nicht mehr erlaubt. Gelegentlich hat dies Prinzip sogar eine gewissen Plausibilität. Will man nämlich ein Ereignis verstehen, will man begreifen, wie es „dazu kommen konnte“, muss in der Tat berücksichtigt werden, unter welchen historischen Bedingungen es stattfand,, in welcher Epoche, Kultur, welche speziellen Randbedingungen gegeben waren. Gelingt eine solche Betrachtung, dann lassen sich vielleicht auch Dinge erklären, vor denen man zunächst geradezu fassungslos steht. Jedoch wehren wir uns entschieden dagegen, solcherlei Versuche, zu verstehen, hernach umzudeuten als Entschuldigung oder Billigung von Greueln, wobei Täter allenfalls nur noch als Opfer eines Zeitgeistes reingewaschen werden. Was haben hier Aufklärer eigentlich noch zu tun? Wir haben Geschichte lebendig zu erhalten, auf die gebetsmühlenartige vorgetragene Vertuschungsrituale immer wieder den Finger legen, das ist Gegenern dann unangenehm oder „langweilig“ – aber es hält wach. Welchen Sinn hat das Beschwören vergangener Greuel? Damit Geschichte etwas lehren kann, muss Geschichte bekannt sein.. Wie konnte es dazu kommen, dass die Leute heute fröhlich lachen, wenn von Hexen die Rede ist, dass es ein Gaudium ist, zur Fastnacht eine Strohhexe zu verbrennen? Wer weiß noch (neben einigen Herren wie Pius Brüder, Josef Ratzinger und anderen Reaktionären) über Hexenjagd und Inquisition Bescheid? Es muss an die Schrecken von früher erinnert werden, sonst versteht bereits die nächste Generation nicht mehr, weshalb wir gegen so harmlose Institutionen wie Kirchen oder die Einheitspartei kämpfen mussten.
Wem nützt es, alte Bitternis wieder lebendig zu machen?“, fragen in erster Linie jene, denen man die Bitternis zu verdanken hat! Die Antwort ist einfach: Es dient der Verhütung (sic) neuer Unmenschlichkeit, wenn wir die alte Unmenschlichkeit immer wieder in die Erinnerung zurückrufen und ihren Zusammenhang mit gewissen Ideologien deutlich machen, Ideologien die keinewegs verschwunden sind. Bringen wir unter die Leute, wozu politischer oder religiöser Fanatismus fährig sind.
„Die großen Fehler der Vergangenheit können in vieler Hinsicht zweckdienlich sein; man kann das Verbrechen und das Unglück nie zu oft wieder vor Augen führen. Man kann beiden zuvor kommen, was auch immer darüber gesagt werden mag (…)
Es ist notwendig, sich die Usurpationen der Päpste öfter wieder vor Augen zu führen, die skandalösen Streitereien ihre Schismen, die Dummheit der Kontoversen, die Verfolgungen, die Kriege, die aus dieser Dummheit entsprangen, und die Schrecken, die jene hervorriefen“.
Voltaire, von dem diese Stätze stammen, war unermüdlich darin, seinen Zeitgenossen die Verbrechen der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen.
Die Forderung nach religiöser Toleranz war nie unumstritten.Die Orthoxie einer jeden Ideologie fürchtet zu Recht, dass die Idee der Toleranz letztlich mehr beinhaltet, als lediglich die Duldung „falscher“ Ansichten. Daher besagt das – von Ratzinger hören wir das spätestens seit seiner Zeit als Kurienkardinal, womit er ja schließlich die Nachfolge der Inquisitionsbehörde angetreten hat – Standardargument gegen die Toleranz, dass sie zum Relativismus, zur Gleichgültigkeit und zur Aufgabe der Wahrheit führe. Die (klassische) Toleranzpredigt wirkt immer etwas gezwungen, die Forderung nach Duldung anderer Ansichten geht dann über in jene nach Gleichberechtigung aller Ansichten. Bedenklich, es sei denn, man habe das Interesse an allen streitenden Ansichten ohnehin verloren. (tno)