[1]In der politischen Öffentlichkeit findet zunehmend ein wichtiger, aber lange selbst in Fachkreisen selten thematisierter Umstand Beachtung: Bei der Vergabe von Krediten verleihen Banken nicht von anderen Gespartes – sie schöpfen Guthaben aus dem Nichts. Das durch einen Kreditantrag bewilligte Geld wird niemandem weggenommen, sondern von der Bank zu diesem Zweck auf Knopfdruck erzeugt. Geldschöpfung ist ein Buchungsvorgang, mehr nicht. Die Zentralbanken können darauf kaum mehr Einfluss nehmen. Die Geldmenge kann im Prinzip per Geschäftstätigkeit gewinnwirtschaftlich operierender Banken bestimmt werden; sie entscheiden, wie viel Geld es gibt.
In den Dekaden vor der Finanzkrise von 2008 wurde dieses Privileg bereitwillig und intensiv genutzt – 1970 war im Raum der OECD-Länder nur etwa ein Prozent des heute verfügbaren Geldes vorhanden. Dieses Geld wurde zu großen Teilen speziell für den Kauf von Vermögenswerten geschaffen, sodass deren Preise stetig stiegen. Durch diese Art der „Vermögensinflation“ waren die Finanzmarktrenditen denen der Realwirtschaft ständig überlegen. Auch realwirtschaftliche Firmen versuchten daher, mehr Einnahmen durch Finanzspekulationen zu erzielen. Immer weniger Geld war für Löhne da. Gleichzeitig erhöhte die Politik vieler Länder die Abhängigkeit der Arbeiter von diesem System, indem solidarische Rentensysteme zu Kapitalfonds umgewandelt wurden und private Verschuldung gefördert wurde. Ein Arrangement zum Vorteil der wenigen und zulasten der vielen. Die wohlklingenden Reformen nach der Krise änderten daran kaum etwas. Sie blieben oberflächlich. Zusätzlich druckten viele Zentralbanken zuletzt sogar Unmengen Geld, um Vermögenden Wertpapiere abzukaufen und so das System zu stabilisieren – teilweise für mehr als 60 Milliarden Euro monatlich.
Derweil sind die Privathaushalte vieler europäischer Länder hoch verschuldet. Wenn die Unternehmen investieren, dann vor allem in den Bestand. Entsprechend ist die Arbeitslosigkeit hoch, die Löhne der Mehrheit stagnieren oder sinken. Die Nachfrage bleibt hinter allen Erwartungen zurück. Zugleich verfällt die Infrastruktur, es fehlt an staatlichen Investitionen in digitale Kommunikation, Wohnraum, Verkehr, Energie, Bildung oder Gesundheit. Nur das reichste eine Prozent feierte 2017 mit etwa 140 Billionen Dollar Vermögen Rekorde.
Schwarze Null: Null-Idee
Für ein gesellschaftlich verträglicheres Finanzsystem müsste die Politik entweder die private Kapitalerzeugung dirigieren – also privat geschöpftes Geld dorthin lenken, wo es gebraucht wird, etwa in höhere Löhne. Oder die Politik müsste sich willens zeigen, ihre eigenen staatlichen Kapazitäten zur Geldschöpfung zu nutzen. In der Eurozone ist das noch formal verboten, aber andere Länder tun dies ständig. Dort finanziert die Zentralbank die Staatsausgaben bei Bedarf durch eigene Geldschöpfung. Vorschläge aus Frankreich weisen nun für die Eurozone in diese Richtung.
Das wäre kein Allheilmittel. Aber wenn Schülern die Bruchstücke maroder Unterrichtsräume auf den Kopf fallen, Pfleger Dutzende Patienten gleichzeitig versorgen müssen, Familien keine Wohnungen mehr finden und Tafeln an Überfüllung verzweifeln, wird der Druck steigen. Daher ist Olaf Scholz’ Bekenntnis zur „schwarzen Null“ so fragwürdig wie die Berufung von Goldman-Sachs-Banker Jörg Kukies zum Finanz-Staatssekretär. Beides signalisiert keinen Kurswechsel, sondern bestätigt die Eigenregie des Finanzsystems. Diese staatliche Zurückhaltung ist angesichts bröckelnder gesellschaftlicher Fundamente politisch wie wirtschaftlich hochriskant.
Aaron Sahr [2]
Keystroke-Kapitalismus
Ungleichheit auf Knopfdruck
176 Seiten
ISBN 978-3-86854-315-5
Erschienen September 2017
Das Buch
Ein Buch über ungerechtfertigtes Vermögen und eine Erzählung von ungeheuer wirksamen Mechanismen der Verschuldung, die den Takt der Weltwirtschaft vorgeben und den Wohlstand einer Minderheit mehren
Das Weltvermögen beträgt derzeit ca. 256 Billionen US-Dollar und ist damit gut 800 Mal so groß wie der Staatshaushalt der Bundesrepublik Deutschland. Dagegen steht der Rekordbestand von gut 152 Billionen Dollar Privatschulden. Beide, Schulden wie Vermögen, sind zunehmend ungleich verteilt.
Aaron Sahr beleuchtet das Dreieck von Privatvermögen, Schulden und ökonomischer Ungleichheit und stößt dabei im »Maschinenraum des Kapitalismus« auf eine paraökonomische Quelle der Vermögensbildung: das Geldschöpfungsprivileg privater Banken. Private Banken produzieren heute Geld aus dem Nichts durch einfachen Tastendruck.
Von diesem außergewöhnlichen Privileg, so die These Sahrs, profitiert vor allem eine Minderheit, ist sie doch in der Lage, sich die Renditen des Tastendruck-Systems anzueignen. Es gilt zu verstehen, durch welche Kanäle diese Aneignung gelingt, was sie für unser Verständnis des Kapitalismus bedeutet und wie mit ihr umzugehen ist.
Aaron Sahr rekonstruiert die Entkoppelung des Bankensystems vom Bedarf an Kapitaleigentum, er entlarvt die Denkfehler, die den Transfercharakter des Finanzsystems verdecken und beschreibt damit zugleich paraökonomische Mechanismen, die ökonomische Ungleichheit verschärfen.
Das Buch richtet sich an eine kritische Öffentlichkeit der politischen Ökonomie unserer Zeit, deren Debatte sich nicht nur auf ausbleibende Vermögenssteuern, exorbitante Managergehälter oder fehlende Grenzen für Spekulanten beschränken sollte. Stattdessen, so Sahrs Appell, sollte über den »Maschinenraum des Kapitalismus« gesprochen werden, und das bedeutet: über eine Reform der Geldschöpfung.
Letztendlich wird die Entwicklung uns nötigen zu entscheiden, ob demokratische Gesellschaften die Hoheitsrechte über die Produktion des Geldes wieder für sich beanspruchen sollten. Will man der wachsenden Ungleichheit entgegensteuern, gibt es dazu kaum eine Alternative.