Nur der Mensch schuf das höchst eigenartige Universum des Klanges: Was eigentlich ist Musik? Und wozu dient das scheinbar sinnlose Aneinanderreihen von Noten? Der US-Autor Robert Jourdain sucht die Antworten in den Labors der Hirnforscher.
Vier Milliarden Jahre lang war es still auf Erden. Lautlos prasselte der Regen auf den kargen Fels, stumm blies der Sturm durch die Schluchten, die Meere wogten, doch sie rauschten nicht.
Denn die Millionen von Quallen, Würmern, Seelilien, Schnecken und Algen, die das kambrische Meer bevölkerten, waren taub. Noch gab es kein Ohr, das die allgegenwärtigen Schwingungen der Luft und des Wassers in Geräusche hätte verwandeln können. Das Gehör ist ein Spätentwickler der Evolution. Längst erforschten Augen, Geruchs- und Tastorgane die Welt, als der Kosmos des Klanges noch unentdeckt war. Erst vor einigen hundert Millionen Jahren drangen die ersten Kundschafter vor ins Reich der Laute: die Fische. Wasserwellen durchliefen ihre Leiber und reizten die Bewegungssensoren, mit denen ihre Flanken bestückt sind. Diese funkten eigenartige Signale ans Hirn, das Geflecht der Neuronen entlockte ihnen nützliche Botschaften – ein Zufallsprodukt der Evolution begann ein Eigenleben zu führen.
Bald hatte sich das Innenohr zum raffiniert ausgestatteten Konzertsaal des Gehirns entwickelt. Tausende winziger Haarzellen übernahmen die Rolle des Publikums: Sie speisten das Grollen des Donners und das Heulen des Sturms, das Zischen der Gischt und das Sirren des Eises ein in das komplexe Geplauder der Nervenzellen im Gehirn.
In der Vielfalt der Arten finden sich wahre Experten und Spezialisten des Hörens: Das extrem dünne Trommelfell der Fledermäuse ist empfindlich für die Frequenzen seines Ultraschallradars, die gewaltigen Keulen im Ohr der Känguruhratte dagegen reagieren auf den extrem tiefen Baß, den Raubvogelschwingen erzeugen.
Das Neue Universum: Die Musik
Auch im Hervorbringen von Schall wurden die Tiere zu Virtuosen. Vielfältiges Zirpen, Unken, Flöten, Rasseln und Brüllen mischt sich in die Sinfonie der Natur. Der Tropenwald hallt wider vom Kreischen der Affen und Papageien, der Gesang der Wale dringt kilometerweit durch die Ozeane. Dennoch sollte es weitere 500 Millionen Jahre dauern, bis das Gehirn einer Gattung namens Homo ein neues Universum des Klangs entdeckte, das allen Tieren verschlossen scheint: die Musik.
Spätestens vor 50 000 Jahren lauschten Menschen den Melodien der ersten Flöten, so belegen es die ältesten Funde regelmäßig angebohrter Hohlknochen an den Siedlungsstätten der Urmenschen.
Inzwischen hat Musik den Alltag des Menschen durchdrungen: Wann immer Stämme in Neu-Guinea, Gabun oder Venezuela zusammenkommen, stets heizen Trommeln und Rasseln die Stimmung an. Menschen lauschen Wagner-Festspiel-Klängen, in den Diskos erschauern Tänzer im Hämmern der Bässe.
Der amerikanische Wissenschaftsautor Robert Jourdain lädt ein zum Streifzug durch das Reich der Schlager, Sinfonien und Jam Sessions. Drei Kardinalfragen stellt sein neues Buch: Was eigentlich ist Musik? Wozu dient sie? Und worin ist ihre von Jourdain diagnostizierte tiefe Krise begründet?
Eine andere Welt …
In der Tat scheint es befremdlich, warum so naturfremde und scheinbar überflüssige Kunstprodukte wie diejenigen der Tonsetzer solche Bedeutung für den Menschen erlangen konnten. Welchen Vorteil hat der Homo sapiens davon, Töne aneinanderzureihen, um daraus Melodien, Harmonien und Rhythmen zu formen? Worte oder Gemälde spiegeln die Wirklichkeit wider; sie sind Abbilder der äußeren Welt. Ein b-Moll-Akkord oder die Melodie eines Liedes hingegen scheinen einer anderen Welt zu entstammen.
Sie gleichen Spiegeln des Innern – Musik bedeutet nichts, und doch vermag kaum ein Liebesgedicht, kaum ein Porträtgemälde das Gemüt so unmittelbar zu rühren wie das Schmeicheln oder Klagen eines Nocturne. „Nachdem ich Chopin gespielt habe“, schrieb Oskar Wilde, „fühle ich mich, als hätte ich Sünden bereut, die ich nie begangen habe, und Tragödien durchlitten, die nicht die meinen sind.“ Offenbaren sich im Gesang, in Trommelwirbeln oder Kantaten tiefe Wahrheiten, fragt Jourdain weiter, oder sind sie nichts als Ausfluß kultureller Konvention? Werden Bewohner außerirdischer Zivilisationen in den Klängen Bachscher Fugen, wie sie der Raumsonde Voyager auf ihre Reise in die Tiefe des Alls mitgegeben wurden, eine universelle Sprache wiedererkennen, oder ist Musik nur Menschenohren zugänglich?
… Schwester der Mathematik
Nicht umsonst galt in der abendländischen Geistesgeschichte die Musik lange als Schwester der Mathematik. Rhythmen und Harmonien sind nichts anderes als nach numerischen Regeln geordnete Zeitabläufe und Frequenzverhältnisse. Beim Hören von Oktaven und Quinten, Triolen und Synkopen analysiert und verrechnet das Gehirn sie blitzschnell – der Mensch erfährt, sinnlich und weitaus unmittelbarer als mit dem Verstand, Mathematik.
Und doch erweist sich beim Vergleich afrikanischer, asiatischer und europäischer Tonleitern und Rhythmen, wie unterschiedlich der klangliche Rohstoff sein kann, aus dem der Mensch Musik zusammensetzt. Viele der metrischen und harmonischen Regeln, die den Europäern wie geradezu notwendige Folgen mathematischer Gesetze erscheinen, sind in anderen Kulturen außer Kraft gesetzt – also doch keine universelle Wahrheit, sondern nur willkürliche Tradition?
Antworten hofft Jourdain dort zu finden, wo aus den Schwingungen von Luftmolekülen Töne und Akkorde werden: im Gehirn:
Aus dem Buch „Das wohltemperierte Gehirn“
„Für kurze Momente läßt uns Musik über unsere wirkliche Größe hinauswachsen und die Welt geordneter erscheinen, als sie in Wahrheit ist.
Wir reagieren nicht nur auf die Schönheit der anhaltenden tiefen Zusammenhänge, die sich uns eröffnen, sondern auch auf die Tatsache, dass wir sie wahrnehmen.
In dem Maße, wie unsere Gehirne hochschalten, fühlen wir, wie sich unser Dasein erweitert, und wir erkennen, dass wir mehr zu sein vermögen, als wir normalerweise sind, und dass die Welt mehr ist, als sie zu sein scheint.
Das ist Grund genug für Ekstase.“
Kenntnisreich breitet Jourdain die Ergebnisse der Hirnforschung aus, um seine These zu belegen, dass das Nervenbündel im Schädel gerade beim so sinnlos erscheinenden Erzeugen und Lauschen von Musik seine Bestimmung erfüllt: Das Hören eines Konzerts oder das Spielen einer Klaviersonate bedeutet Vollbeschäftigung für das Oberstübchen.
Griffen Glenn Gould oder Vladimir Horowitz in die Tasten, so war dies Abbild eines beispiellosen elektrischen Feuerwerks unter ihrer Schädeldecke. Die für die visuelle Wahrnehmung zuständigen Nervenzellen im Hinterkopf erfassen die Noten, sogenannte Assoziationskortizes gliedern sie, erkennen Melodiebögen und rhythmische Muster.
In der motorischen Hirnrinde verwandeln sich diese in Bewegungsimpulse, die als Befehle an die Muskulatur der Finger gesandt werden. Als Assistent dient das Kleinhirn, das in jahrelangem Training ausgearbeitete „ballistische“ Module aktiviert. Sie steuern das Werfen und Schleudern der Finger, die perlende Triller oder Oktavenläufe produzieren.
Die Nerven der sensiblen Hirnrinde melden jede dieser Bewegungen an die motorische Rinde; die Schwingungen der Saiten gelangen über die Rezeptoren des Innenohrs ins Hirn zurück, wo sie von den in den Schläfenbereichen angesiedelten akustischen Nervenzentren registriert und analysiert werden.
Klärt Hirnforschung das Rätsel Musik ?
Doch damit nicht genug: Unentwegt speist der Hippocampus, das neuronale Tor zur Erinnerung, früher abgespeicherte Melodien ins Bewußtsein; zugleich durchtränkt das limbische System alle musikalische Empfindung mit Emotionen. Dennoch bleibt fraglich, wie weit die Mittel der Hirnforschung geeignet sind, das Mysterium der Musik zu enträtseln. Gerade den oft wundersamen Geschichten aus dem Reich der Klänge, die Jourdain erzählt, werden seine neuronalen Deutungen nicht immer gerecht.
So ruft er den bizarren Fall des jungen Tom in Erinnerung, der als Baby im Jahre 1850 auf einer Sklavenauktion in Georgia an einen Colonel namens Bethune verkauft wurde. Es schien ein schlechter Kauf: Der kleine Tom war blind, blieb jahrelang stumm und lernte nie richtig laufen. Und doch sollte gerade dieser Junge das beste Geschäft im Leben des Colonel werden. Eines Abends hörte er die Klänge einer Mozart-Sonate im Salon und ging neugierig hinunter. In der Dunkelheit saß dort der vierjährige Tom über das Piano gebeugt. Fast fehlerfrei spielte er, was er während der Klavierstunden der Töchter seines Herrn gehört hatte. Es war der Beginn einer ungewöhnlichen Karriere. Als Tom sieben Jahre alt war, startete der Colonel mit dem Wunderkind die erste Konzerttournee und nahm die damals ungeheure Summe von 100 000 Dollar ein. Bald beherrschte Tom ein Repertoire von rund 5000 Stücken, 40 Jahre lang füllte er Säle in Europa und Amerika.
Beim Versuch, das Phänomen musikalischer Inselbegabungen zu erklären, spekulieren die Hirnforscher über eine einseitige Entwicklung der rechten, für die Verarbeitung von Musik zuständigen Hirnhälfte. Doch ihre Erklärungsmodelle wirken so unbefriedigend wie die Theorien der Kognitionswissenschaftler über das Genie in der Musik.
Training kann bis zu 1000 000n Chunks verdrahten
Die Lern- und Wahrnehmungsforscher behaupten, die Lehrzeit eines Komponisten bestehe, ähnlich wie beim Erwerb einer Fremdsprache oder beim Schachspiel, in der Verdrahtung sogenannter Chunks im Gehirn, komplexer Wissenseinheiten, die als ganze gespeichert und jederzeit abgerufen werden können. Nur etwa sieben dieser Chunks könne das Bewußtsein gleichzeitig fassen. Je komplexer jedoch jede einzelne dieser Einheiten, desto vielfältiger könnten sie im Bewußtsein zu neuen, kreativen Kombinationen zusammengefügt werden.
Mindestens zehn Jahre intensiven Trainings bedürfe es, bis rund 100 000 dieser Chunks im Hirn verdrahtet sind. Dann erst sei ein Komponist fähig zu Werken hohen künstlerischen Rangs. Zweifel an dieser Theorie liefert Jourdain gleich mit: Unbegreiflich sei, wie sich in wenigen Chunks der Inhalt ganzer Konzerte erfassen ließe, so wie Bach, Beethoven oder Brahms sie im Kopf hatten. Vor allem aber bleibe offen, worin der entscheidende Unterschied liegt zwischen Mozart und vielen seiner musikalisch nicht weniger gebildeten Zeitgenossen. Warum steigerte er ein Leben lang die Ausdruckskraft seiner Opern und Sinfonien, während etwa Felix Mendelssohn nach den wenigen Meisterwerken seiner Jugend auf das Niveau eines Romantikers der zweiten Liga absank? Und was hinderte das Wunderkind Camille Saint-Saëns – an musikalischem Gedächtnis, Virtuosität und Geisteskraft selbst Mozart überlegen -, ähnlich epochale Werke zu schreiben?
„Genie und Wahnsinn“ …
Ebenso ratlos sind die Hirnforscher angesichts der unheimlichen Nähe der Genies zum Wahnsinn. Berlioz, Bruckner, Händel, Mahler, Mussorgsky, Rachmaninoff, Rossini, Tschaikowsky: geradezu gespenstisch liest sich die Reihe der Komponisten, denen Psychologen manisch-depressive Symptome bescheinigen. Die Werke Robert Schumanns haben Musikwissenschaftler gar als minutiöse Chronik einer Schizophrenie gedeutet.
Derartige Krankengeschichten lassen die tiefen emotionalen Abgründe musikalischer Erfahrung erahnen, in denen Jourdain die evolutionäre Funktion der Musik begründet sieht: Sie sei gleichsam der soziale Kitt menschlicher Gesellschaften. Tänze und Gesänge, so erklären Anthropologen, dienten seit jeher dem Ausdruck von Gefühlen, der Kanalisierung von Konflikten und dem Zusammenhalt urzeitlicher Menschenhorden. Dass die moderne Orchester- und Konzertmusik ebendiese soziale und emotionale Bedeutung geopfert hat, ist nach Jourdains Überzeugung Ursprung einer tiefen Krise. Als am Ende des Mittelalters die musikalische Weiche zum europäischen Sonderweg gestellt wurde, begann die Ära der Grenzüberschreitungen: Seit Chöre begannen, mehrere Melodielinien gleichzeitig zu singen, wurden immer neue Möglichkeiten des Zusammenklangs erkundet.
… bis hin zum radikalen Bruch mit der Harmonie
Während die Kreativität fast aller anderen Kulturen der Erprobung neuer Rhythmen und Metren galt, brachen die europäischen Tonsetzer zu immer waghalsigeren Exkursionen in die Welt der Dominanten, Septimen und Nonen auf. Am Anfang dieses Jahrhunderts schließlich schienen die Möglichkeiten erschöpft. Konsequent forderte Arnold Schönberg den radikalen Bruch mit aller Harmonie. Doch damit opferten die musikalischen Revolutionäre die unmittelbare emotionale Zugänglichkeit ihrer Werke. Während die Kunst dieses Jahrhunderts neue Wege fand, das Massenpublikum zu erreichen, verloren die Nachfahren Schönbergs zunehmend ihr Publikum. Nur der Intellekt konnte ihren harmonischen Experimenten noch folgen, die Gefühle vermochten sie kaum mehr zu rühren.
Spätestens hier wird deutlich, wie sehr Jourdain den Wert neuronaler Erklärungsmodelle überschätzt. Denn auch dieses Dilemma, glaubt er, könnte die Hirnforschung dereinst lösen: Nicht einen neuen Beethoven brauche die moderne Kunstmusik. Ein neuer Newton des Geistes werde den Ausweg aus der Sackgasse weisen.
Das wohltemperierte Gehirn: „Für kurze Momente läßt uns Musik über unsere wirkliche Größe hinauswachsen und die Welt geordneter erscheinen, als sie in Wahrheit ist. Wir reagieren nicht nur auf die Schönheit der anhaltenden tiefen Zusammenhänge, die sich uns eröffnen, sondern auch auf die Tatsache, daß wir sie wahrnehmen. In dem Maße, wie unsere Gehirne hochschalten, fühlen wir, wie sich unser Dasein erweitert, und wir erkennen, daß wir mehr zu sein vermögen, als wir normalerweise sind, und dass die Welt mehr ist, als sie zu sein scheint. Das ist Grund genug für Ekstase.“
Helmut Mauró würdigt anlässlich einer 6 DVDs umfassenden Kollektion mit Videoaufnahmen und Dokumentationen den Pianist Vladimir Horowitz, der das „genialische Künstler-Kindsein unerbittlich und gegen alle Widerstände“ verkörperte und lebte – hier spielt er Schumann in Wien