„Der“ Ball. Und „der“ Fall …

Der Mensch ist und bleibt ein lebenslänglicher Tollpatsch. Er rühmt sich des aufrechten Ganges – und fällt doch immer wieder auf die Nase. Glücklich kann er trotzdem werden. Kaum hatten wir gelernt, auf zwei Beinen zu stehen, fielen wir auch schon hin – und hörten damit für eine ganze Weile nicht wieder auf. Wir standen,  fielen und waren gefallen. Dies gehörte zu den ersten Lektionen, die das Leben uns lehrte – und keine haben wir gründlicher verinnerlicht: Ich falle, also bin ich.

Lebenslänglich liegen wir im Wettstreit mit der Schwerkraft, merken aber schon früh, dass wir auf verlorenem Posten kämpfen. Nicht aber nur in dieser Hinsicht. Wir lernten zu schreiben, und kaum gelangen uns die ersten Sätze, richteten die Lehrer mit ihren Rotstiften darin Blutbäder an. Das Scheitern begleitet uns seither. Von der ersten Stunde an gehen wir darum in eine Schule der Demütigung. Manchmal winkt uns das Glück, meist aber flieht es uns, noch ehe wir es zu packen in der Lage waren. Aufgeben aber würden wir deshalb nicht.

Nicht nur das Tor gegen Juventus Turin  war völlig verdient, sondern auch, dass es (nun auch in das unsere) Feuilleton einzieht: „Historischer Fallrückzieher, darum ein Moment der Kristallisation und weil hier, für einmal, ein Glücken auch im Fallen stattfand:

Hinauf zieht es den Menschen – aber noch viel zuverlässiger hinunter und zu Boden. Häufiger fällt er, als er steht. Darum trägt noch fast jeder die Spuren der Stürze wie ein Kainsmal auf seiner Stirn: Von Kindsbeinen an sind wir Gezeichnete des Ungeschicks, weil wir zu oft über die eigenen Beine gestolpert sind. Später im Leben verbessert sich vielleicht die Standfestigkeit (wenn auch nicht immer und im gleichen Mass die Standhaftigkeit), die Narben aber bleiben als Erinnerung und Mahnung. Wir mögen denn auch weniger oft im wörtlichen Sinn auf die Nase fallen, dafür ereilt uns das Missgeschick umso hartnäckiger auf anderen Wegen.

Glücksgefühle beim Fallrückzieher

Wenigen gibt es der „Herr unser Gott“, die Schwerkraft zu überlisten. Und sei es auch nur für einen Wimpernschlag. Das Kunststück verheisst pure Glückseligkeit dem, der es zustande bringt, nicht weniger freilich jenen, die offenen Mundes und mit stockendem Atem zuschauen. In dieser Woche gelangen dem Fussballer Cristiano Ronaldo gegen die bedauernswerten Spieler von Juventus Turin zwei meisterhafte Treffer. Zweimal schlich sich der schlaue Fuchs hinter den Rücken von Mit- und Gegenspielern heran, erwischte vor allen anderen ein langes Zuspiel von der Seite und schlenzte den Ball  kraftvoll wie zielsicher ins Tor.

Lässig, ja, fast schnoddrig schickte er beim ersten Torschuss den Ball mit dem Aussenrist auf eine passgenau um den Torhüter herumgezirkelte Flugbahn. Eine Stunde später wiederum warf er sich mit ganzem Körper dem hohen Zuspiel entgegen: Für den Bruchteil einer Sekunde schwebte er waagrecht in der Luft und trat dann mit energischer Scherenbewegung der Beine, während er schon fast wieder erdwärts zu stürzen begann, wuchtig gegen den Ball, und noch ehe er rücklings im Rasen landete, lag der Ball im Netz.

Unsereiner erlebt im Fallen und mit entsprechend schmerzhaftem Aufprall lediglich das banale Scheitern. Die schwerelose Eleganz des Fallrückziehers hingegen bringt gerade im Stürzen das Spiel zur Vollendung. Die Erfüllung gelingt im Fallen, und der Sieger geht zu Boden.

Ein solches Paradox von zwar Anmassung aber auch gleichzeitiger Demut vermag kein Künstler, weder Musiker noch Dichter oder Maler, ins Werk zu setzen. Ja, es gibt den musikalischen oder poetischen Fallrückzieher (noch) nicht. Näher als mit dem abgebrochenen, nach landläufigen Kriterien gescheiterten Werk kommt ihm aber keiner. Zwar wirkt das Fragment blass und flach neben Ronaldos akrobatisch schöner Fallsucht,  aber dennoch kennt es in seltenen Momenten eine ähnlich vollendete Anmutung.

Fröhliche Tollpatschigkeit

Hat man (nehmen wir mal solche Momente) sich etwa umgekehrt schon mal gewundert, warum noch fast jeder Komiker oder jeder Clown in seinen Sketches die alltäglichen Niederlagen der Menschen in zahllosen Variationen vorführt? Freilich ist es ganz und gar nicht verwunderlich. Mögen sich auch das Stolpern und Hinfallen und alle die vielfältigen Malheurs in ihrem Kern ähnlich sein, so üben sie dennoch einen unbezwingbaren Reiz auf uns aus. Herzhafter lachen wir selten, als wenn jemand ganz unheroisch über einen Besenstiel und in den Swimmingpool fällt oder mit melodramatischen Folgen an einer Tomatendose scheitert.

Missgeschicke sind schmerzlich und peinlich für den Betroffenen, vergnüglich findet sie indes der unbeteiligte Zuschauer. Nicht aus Boshaftigkeit und Schadenfreude, aber aus einem emphatischen Mitgefühl, weil der Mensch erst da ganz zu sich kommt, wo er scheitert. Im Scheitern wird er sich nicht etwa fremd, er wird sich selbst ähnlich. Es offenbart sich darin auch nicht nur die melancholische Daseinskomik, die sich jeder Clown zunutze macht. Geradezu wohnt jedem Scheitern die Heiterkeit von Ungarettis Seebär inne – neben allem Ungemach, das wir dabei obendrein natürlich auch in Kauf zu nehmen haben. Das Scheitern ist das Unglück, das seine Rettung bereits in sich trägt.

Der Mensch bildet sich ja einiges ein auf seinen aufrechten Gang. Er zeichne ihn aus vor allen anderen Lebewesen, so denkt er. Und hält ihn darum für seine Erkennungsmarke, auch in moralischen Dingen. Dabei ist er keineswegs seine Stärke. Er hat sich noch nicht einmal in sein genetisches Programm eingeschrieben. Jedes Kind muss das Gehen erst lernen und täte es kaum, hielte man es nicht dazu an. Auch daher rührt die Tollpatschigkeit des Menschen. Diese liegt seinem Wesen näher als der aufrechte Gang. Er steht und fällt. Darum muss er dauernd gegen seine eigene Natur angehen – und findet darin seine zweite Natur, die er Kultur nennt.

Da er also die Schwerkraft nicht besiegen kann, macht er sich der Schwerkraft Kraft zu seiner Komplizin. Wenn er schon fallen muss, dann will er daraus einen Mehrwert schlagen. Wenigen indessen nur bleibt es vorbehalten, daraus als Kunstform das wahre Gelingen hervorzubringen: für die Dauer eines Wimpernschlags waagrecht in der Luft zu schweben: Stürzen und siegen in einem.
Den meisten bleibt davon nur der Sturz. Das ist nicht viel, aber auch nicht gerade nur nichts. tno/nz

Apr 2018 | Allgemein, Feuilleton, Junge Rundschau | Kommentieren