Menschen, das haben wir also gerade erlebt, sind sensationell schlecht darin, exponentielle Entwicklungen kognitiv zu erfassen. Wir können das einfach nicht. Wir haben uns Werkzeuge gebaut – zuallererst natürlich die Mathematik -, um damit umzugehen, dass es Exponentialfunktionen wirklich gibt.
Es wurden graphische Darstellungen entwickelt, die das verrückte, explosive dieser Art von Funktion in ordentliche, scheinbar übersichtliche Diagramme pressen: Die Kurve wird nach rechts immer steiler, irgendwann sieht sie fast senkrecht aus. Aber was das wirklich bedeutet, geht nicht in unsere Köpfe.
Es gibt eine berühmte Geschichte, um das zu illustrieren: die vom oberschlauen Erfinder des Schachspiels, der von einem indischen König zur Belohnung angeblich bescheiden erbat, für jedes weitere Feld auf dem Brett jeweils doppelt so viele Reiskörner zu bekommen. Die Zahl, die dabei auf Feld Nummer 64 herauskommt, hat 21 Stellen. Angeblich verlor der impertinente Spielerfinder seinen Kopf, als der König das endlich begriffen hatte.
Software, die sich selbst verbessert
Wir alle sind doch ein wenig wie der König in der Geschichte. Wir stecken mitten in einer exponentiellen Entwicklung, schon seit Jahrzehnten, aber wir sind nach wie vor unfähig, das wirklich zu begreifen. Vermutlich sind wir gerade irgendwo im Knie der Exponentialkurve. Wir sind das größte Experiment der Menschheitsgeschichte, allerdings eines ohne Kontrollgruppe: Können siebeneinhalb Milliarden Menschen, die die Exponentialfunktionen nicht wirklich begreifen, mit einer sich exponentiell verändernden Welt umgehen oder nicht?
Die ständige Verdopplerei der Gegenwart ist nicht die erste in der Geschichte – auch die Verbreitung des Automobils oder die Ölförderung zum Beispiel folgten zeitweilig Exponentialkurven. Aber die Digitalisierung, sprich: Moores Gesetz – auch wenn es sich im Moment seinem Ende zu nähern scheint -, verändert die Welt schneller und nachhaltiger als jede vorangegangene.
Vergleichen wir mal die Zeitspanne zwischen der Erfindung des Autos und seiner Allgegenwart mit der zwischen der Einführung des iPhones und der Allgegenwart des Smartphones. Und jetzt kommt zu Moore’s Law der nächste Exponentialturbo hinzu.
Allein in den vergangenen zehn Tagen hat es drei anschauliche Beispiele für die zahllosen, kaum vorhersagbaren Auswirkungen dieser Entwicklung gegeben: der Unfall mit dem selbstfahrenden Auto, bei dem in den USA eine Frau ums Leben kam, den Skandal um Cambridge Analytica und Facebook – und ein wenig beachtetes Forschungspapier über neuronale Netze – dazu gleich mehr.
Der wissenschaftliche Fortschritt und sein dunkler Bruder
Die ersten zwei sind Beispiele für den Aspekt der exponentiellen Entwicklung, den Digitalisierung und Kapitalismus gemeinsam hervorbringen. Man könnte sagen, der technisch-wissenschaftliche Fortschritt und der globalisierte Kapitalismus sind ungleiche Brüder, die einander nützen, aber nicht dieselben Ziele verfolgen. Beide haben Großes geschaffen und furchtbare Gräuel auf dem Gewissen. Der eine allerdings weit mehr Gräuel als der andere. Gemeinsam aber sind sie unglaublich mächtig.
Der wissenschaftliche Fortschritt sorgt fürs Exponentielle. Und der Markt sorgt für Geld und Strukturen, die nötig sind, um diese Veränderungsmacht in atemberaubendem Tempo in den Alltag hineinwirken zu lassen. Oft schneller, als die Regulierung nachkommt. „Skalieren“ heißt das jetzt.
„Skalieren“ im Business-Kontext ist: Dinge bauen, die exponentielles Potential haben, dann mit Geld bewerfen und sehen, ob die Kurve wirklich immer steiler wird. Ein nicht unwesentlicher Anteil der internationalen Finanzbranche wettet permanent Geld auf Exponentialfunktionen. Und das hat Konsequenzen.
„Ganz gut, aber nicht gut genug“?
Vor Jahren war in einer wissenschaftlichen Zeitschrift ein grandioser Beitrag über die „Standardsituationen der Technologiekritik“ zu lesen, in der diese Art Blick auf technische Entwicklungen als immer wiederkehrendes Stadium entlarvt wird. Beim Uber-Unfall haben wir es mit Situation Nummer sechs zu tun: „Im Prinzip ganz gut, aber nicht gut genug“.
Die Phase „nicht gut genug“ ist aber in einem real existierenden exponentiellem Entwicklungsprozess ein menschheitsgeschichtlicher Wimpernschlag. Es gilt längst als sicher, dass selbstfahrende Autos eines nicht fernen Tages so gut sein werden, dass man Menschen lieber nicht mehr ans Steuer lässt. Exponentiell besser werden aber auch maschinelle Übersetzungen, Spracherkennung und vieles andere.
Die Ausreden der Exponentialfürsten
Jemand – sagen wir mal aus dem Jahr 1988 – würde, zu uns gebeamt, die Welt von 2018 als Science-Fiction-Welt erleben. Aber selbst das wirklich zu begreifen, fällt uns heute schwer. Fühlt sich doch an, als gäbe es Smartphones schon ewig. Und was passiert in den nächsten 30 Jahren?
Das Dumme ist, dass diese exponentiellen Entwicklungen neben viel Geld schwer vorhersagbare Nebenwirkungen produzieren. Möglichkeiten, Demokratien zu manipulieren zum Beispiel. Von den derzeitigen Exponentialfürsten hört man im Moment deshalb auffällig häufig die Ausrede: „Die Maschine war’s!“
Wer hätte ahnen können, dass Suchmaschinen oder Videoplattformen versehentlich Biotope für Nazis und Islamisten schaffen würden? Wer hätte gedacht, dass man mit allgegenwärtigen Kommunikations- und Überwachungsplattformen das gesellschaftliche Klima würde beeinflussen können? Wer hätte gedacht, dass Algorithmen Menschen diskriminieren würden?
Und jetzt das – für die Gänsehaut – dritte Beispiel
Das oben versprochene dritte Beispiel ist Folgendes: Am 15. März erschien ein unscheinbares Arbeitspapier, in dem zwei Informatiker neuronale Netze beschreiben, die sich selbst replizieren können. Software-Systeme also, die sich nicht nur selbst optimieren, sondern auch vermehren. Das Tolle daran sei, schreiben Oscar Chang und Hod Lipson von der Columbia University, dass damit jetzt „die Möglichkeit ständiger Verbesserung durch natürliche Selektion“ bestehe. Für Software.
Erinnern wir uns vielleicht, dass sich kürzlich ein Software-System selbst in drei Tagen beigebracht hat, besser Go zu spielen als alle Go-Spieler der Geschichte und sein eigener Vorgänger. Ähnliche Systeme werden sehr bald Forschungsaufgaben übernehmen. Versuchen Sie mal, das im Kopf mit einem System zu kombinieren, das stetig neue, bessere Versionen seiner selbst schaffen kann. Ist in etwa so schwer wie das mit den 30 exponentiellen Schritten.
Auch wenn Moore’s Law sich möglicherweise seinem vorläufigen Ende zuneigt: Die Exponentialfunktion hat uns weiter fest im Griff. Wir, die wir in dieser menschheitsgeschichtlich einmaligen Versuchsanordnung leben, täten gut daran, uns endlich eine Strategie für den Umgang damit zu überlegen. Aber: „HAL“ abschalten, das ging schon damals im Film nicht mehr …