New York, 1887: Für ihren Auftrag bei der aufstrebenden Tageszeitung New York World soll Nellie Bly undercover aus der Frauenpsychiatrie auf Blackwell’s Island berichten. Der Weg ins Irrenhaus erweist sich als Kinderspiel.
Doch die Journalistin merkt schnell: Wer einmal drin ist, dessen Chancen stehen schlecht, jemals wieder herauszukommen. In ihrer wirkmächtigen Reportage berichtet Nellie Bly von dem Weg in die Anstalt und von den desaströsen Zuständen und grauenhaften Misshandlungen, deren Zeugin sie dort wurde.
„Zehn Tage im Irrenhaus“ ist ein Meilenstein des investigativen Journalismus und ein wichtiges Dokument der Psychiatriegeschichte. Es erscheint zum ersten Mal in deutscher Übersetzung.
Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Martin Wagner.
Zur Autorin: Nellie Bly wird am 5. Mai 1864 als Elizabeth Jane Cochran in Pennsylvania, geboren. Mit einem Leserbrief gelingt ihr 1885 der Einstieg in den Journalismus. Kurze Zeit später geht sie nach New York. Für Joseph Pulitzers Zeitung New York World lässt sie sich in eine Irrenanstalt einliefern und verfasst daraufhin die investigative Reportage „Ten Days in a Mad-House“. Bald darauf erscheint die ebenfalls sehr erfolgreiche Reisereportage „Around the World in Seventy-Two Days“, für die sie sich in der Tradition von Jules Vernes Romanhelden Phileas Fogg auf eine Weltreise begeben hatte. 1895 heiratet Bly den 70-jährigen Industriellen Robert Seaman, dessen Unternehmen sie nach seinem Tod 1904 leitet. Nach dessen Bankrott kehrt sie zum Journalismus zurück und wird 1914 Kriegskorrespondentin in Österreich. Am 27. Januar 1922 stirbt Nellie Bly an einer Lungenentzündung.
1. Kapitel
Ein heikler Auftrag
Am 22. September wurde ich von der New York World (1) gefragt, ob ich mich in eine der New Yorker Anstalten für Geisteskranke einweisen lassen könnte, um einen schlichten und ungeschminkten Bericht über die Behandlung der dortigen Patientinnen, die Methoden der Verwaltung usw. zu verfassen. Ob ich den Mut hätte, mich derart hart auf die Probe stellen zu lassen, wie es dieser Auftrag verlangte? Könnte ich die Merkmale des Wahnsinns gut genug vortäuschen, um die Ärzte zu überzeugen und um eine Woche unter den Verrückten zu leben, ohne dass die Aufseher dort herausfänden, dass ich bloß ein Störenfried war, der sich Notizen macht? Ich sagte, dass ich es zu können glaubte. Ich hatte einiges Vertrauen in meine Fähigkeiten als Schauspielerin und hielt mich für fähig, den Wahnsinn lange genug vorspielen zu können, um jeden mir anvertrauten Auftrag zu erfüllen. Würde ich eine Woche in der Irrenanstalt auf Blackwell’s Island verbringen können? Ich sagte, dass ich es könnte und dass ich es tun würde. Und ich tat es.
Meine Anweisungen bestanden allein darin, mit meiner Arbeit zu beginnen, sobald ich mich bereit fühlte. Ich sollte meine Erlebnisse treu aufzeichnen und die Abläufe innerhalb der Anstaltsmauern, die von den Schwestern mit den weißen Hauben sowie von den Gittern und Schlössern stets so erfolgreich vor der Kenntnisnahme der Öffentlichkeit verborgen gehalten werden, beobachten und beschreiben.
„Wir verlangen nicht von Ihnen, dorthin zu gehen, um sensationelle Entdeckungen zu machen. Schreiben Sie die Dinge so auf, wie Sie sie vorfinden, seien sie nun gut oder schlecht; loben Sie oder verurteilen Sie, wie es Ihnen am besten scheint, und halten Sie sich immer an die Wahrheit. – Ein wenig besorgt bin ich allerdings wegen Ihres chronischen Lächelns“, sagte der Herausgeber. „Ich werde nicht mehr lächeln“, sagte ich, und damit machte ich mich auf, meinen heiklen und, wie sich herausstellte, schwierigen Auftrag auszuführen.
Ich glaubte nicht, dass ich, wenn ich denn in die Anstalt hineinkommen sollte – was ich kaum zu schaffen hoffte -, etwas anderes zu erzählen hätte als eine einfache Geschichte vom Anstaltsleben. Dass eine solche Einrichtung schlecht geführt, dass Misshandlungen unter ihrem Dach stattfinden könnten, hielt ich nicht für möglich. Ich hatte stets den Wunsch gehegt, das Leben in der Irrenanstalt genauer kennenzulernen – den Wunsch, mich zu überzeugen, dass die Hilflosesten unter allen Geschöpfen Gottes, die Geisteskranken, gütig und gründlich umsorgt werden. Die vielen Geschichten, die ich über Misshandlungen in solchen Einrichtungen gelesen hatte, hatte ich stets für weit übertrieben, wenn nicht gar für bloße Märchen gehalten. Dennoch beherrschte mich ein latentes Verlangen, das sicher zu wissen.
Ich schauderte bei der Vorstellung, dass die Geisteskranken vollständig in der Gewalt ihrer Wärter waren, und wie gänzlich vergeblich man um Freilassung bitten und flehen würde, wenn den Wärtern nicht der Sinn danach stand. Voller Erwartung nahm ich den Auftrag an, die inneren Abläufe der Irrenanstalt von Blackwell’s Island kennenzulernen.
„Wie werden Sie mich herausholen“, fragte ich meinen Herausgeber, „wenn ich einmal drin bin?“
„Das weiß ich nicht“, antwortete er, „aber wir werden Sie herauskriegen, und wenn wir sagen müssen, wer Sie sind und aus welchem Grund Sie den Wahnsinn vorgetäuscht haben – schaffen Sie es nur hinein.“
Ich hatte geringes Vertrauen in meine Fähigkeit, die Experten zu täuschen, und ich vermute, mein Herausgeber hatte ein noch geringeres.
Alle Vorbereitungen für meine Feuerprobe blieben meiner eigenen Planung überlassen. Nur eine Sache wurde vereinbart, nämlich, dass ich das Pseudonym Nellie Brown annehmen solle, dessen Initialen mit meinem eigenen Namen und mit meiner Wäsche übereinstimmten, so dass es keine Probleme geben würde, meine Bewegungen zu verfolgen und mich aus allen Schwierigkeiten oder Gefahren, in die ich geraten könnte, zu befreien. Es war möglich, in die Station für Geisteskranke hineinzukommen, nur wusste ich nicht wie. Zwei Wege kamen für mich in Betracht: Entweder konnte ich im Haus von Freunden Wahnsinn vortäuschen und mich aufgrund der Entscheidung zweier zuständiger Ärzte einweisen lassen oder ich konnte mein Ziel über die Polizeigerichte(2) erreichen.
Nach einiger Überlegung erschien es mir klüger, nicht meinen Freunden zur Last zu fallen oder irgendwelche gutmütigen Ärzte dazu zu bewegen, mir bei meinem Vorhaben beizustehen. Außerdem hätten meine Freunde, damit ich nach Blackwell’s Island komme, Armut vortäuschen müssen.(3) Unglücklicherweise aber im Falle meines Vorhabens war meine Bekanntschaft mit den bitter Armen, abgesehen von meiner eigenen Person, nur sehr oberflächlich. Und so entschloss ich mich zu jenem Vorgehen, das mir zu der erfolgreichen Erfüllung meines Auftrags verhelfen sollte. Es gelang mir, in die Abteilung für Geisteskranke auf Blackwell’s Island eingewiesen zu werden, wo ich zehn Tage und Nächte verbrachte und wo ich Erfahrungen machte, die ich nie vergessen werde. Ich nahm es auf mich, die Rolle des armen, unglückseligen, verrückten Mädchens zu spielen, und ich sah es als meine Pflicht an, mich vor keiner der unangenehmen Folgen zu drücken, die das mit sich brachte. Ich wurde für diese Zeit zu einem der städtischen Mündel. Ich erlebte viel und sah und hörte noch mehr über die Behandlung, der dieser hilflose Teil unserer Bevölkerung ausgesetzt ist. Und als ich genug gesehen und gehört hatte, wurde sofort für meine Entlassung gesorgt. Ich verließ die Irrenanstalt mit Freude und mit Bedauern – Freude darüber, dass ich einmal mehr die Luft der Freiheit atmen durfte; und Bedauern darüber, dass ich nicht einige der armen Frauen mit mir nehmen konnte, die mit mir dort gelebt und gelitten hatten, und die, wie ich überzeugt bin, genauso bei Verstand sind, wie ich es damals war und heute bin.
Aber erlauben Sie mir an dieser Stelle noch eine Bemerkung: Von dem Moment an, da ich die Station für Geisteskranke auf der Insel betrat, machte ich keinen Versuch mehr, meine Rolle der Geisteskranken weiter aufrechtzuerhalten. Ich redete und verhielt mich genau so, wie ich es auch sonst im Alltag tue. Und doch, so merkwürdig es klingt: Je vernünftiger ich redete und handelte, für desto verrückter hielt man mich – mit der einzigen Ausnahme eines Arztes, dessen Freundlichkeit und Sanftmut ich so schnell nicht vergessen werde.
________________________________________________
(1) Die New York World druckte die Reportage in zwei Teilen am 9. und 16. Oktober 1887. Die Buchausgabe erschien zwei Monate später.
(2) Die police courts (Polizeigerichte) stellten die unterste Ebene der Gerichtsbarkeit in den USA, Großbritannien und vielen anderen Ländern dar. Sie sind am ehensten mit dem Strafrichter am deutschen Amtsgericht vergleichbar.
(3) Das städtische Blackwell’s Island Insane Asylum war für solche Patientinnen, deren Familien für die Unterbringung ihrer geisteskranken Angehörigen in den privaten Heimen nicht aufkommen konnten.
2. Kapitel
Vorbereitungen auf die Prüfung
Doch zurück zu meiner Arbeit und zu meinem Auftrag. Ich kehrte also, nachdem ich meine Anweisungen erhalten hatte, nach Hause zurück, und als es Abend wurde, begann ich jene Rolle zu proben, in der ich am nächsten Morgen mein Debüt geben sollte. Ich stellte es mir schwierig vor, fremden Menschen vorzumachen, dass ich geisteskrank sei. Ich war in meinem Leben niemals zuvor in der Nähe von Geisteskranken gewesen und hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, wie sie sich aufführten. Und dann sollte ich von einer Gruppe ausgebildeter Ärzte untersucht werden, die auf Geisteskrankheiten spezialisiert sind und täglich mit Geisteskranken in Berührung kommen! Wie konnte ich mir einbilden, an diesen Ärzten vorbeizukommen und sie davon zu überzeugen, dass ich verrückt war? Ich befürchtete, dass sie sich nicht täuschen lassen würden. Mein Auftrag erschien mir zunehmend hoffnungslos, doch er musste erledigt werden. Und so lief ich zum Spiegel und studierte mein Gesicht. Ich rief mir alles ins Gedächtnis, was ich über das Verhalten der Verrückten gelesen hatte. Zunächst mussten sie einen starren Blick haben. Ich riss also meine Augen weit auf und starrte, ohne zu blinzeln, auf mein eigenes Spiegelbild. Glauben Sie mir, der Anblick war sogar mir selbst nicht ganz geheuer, besonders so spät in der Nacht. Um mich aufzumuntern, schaltete ich das Licht an, was nur bedingt half. Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich in wenigen Nächten nicht mehr hier, sondern mit einer Schar von Verrückten in einer Zelle eingesperrt sein würde.
Obwohl es nicht kalt war, rannen mir eiskalte Schauer über den Rücken, wenn ich daran dachte, was auf mich zukam – dem Schweiß zum Spott, der langsam aber sicher die Locken in meinem Pony glättete. Wenn ich nicht gerade vor dem Spiegel übte oder mir meine Zukunft als Wahnsinnige ausmalte, las ich Ausschnitte unwahrscheinlicher und unmöglicher Geistergeschichten. Und als die Morgendämmerung schließlich die Nacht verdrängte, fühlte ich mich in der passenden Stimmung für meinen Auftrag – wenn auch immer noch hungrig genug, um nach meinem Frühstück zu verlangen. Träge und trübselig nahm ich mein morgendliches Bad und verabschiedete mich dabei im Stillen von einigen der kostbarsten Gegenstände der modernen Zivilisation. Zärtlich legte ich meine Zahnbürste weg, und während ich ein letztes Mal über die Seife rieb, flüsterte ich: „Vielleicht ist es für ein paar Tage, vielleicht für länger.“ Dann zog ich die alten Kleider an, die ich für diese Gelegenheit ausgewählt hatte. Ich war in der Stimmung, alles sehr ernsthaft zu betrachten. Es konnte nicht schaden, einen letzten wehmütigen Blick auf die Dinge werfen, dachte ich mir. Denn wer könnte sagen, ob die Anstrengung, mich verrückt zu stellen und mit einer Horde von Irren eingesperrt zu sein, mich nicht selbst verrückt machen würde, so dass ich niemals zurückkommen würde? Aber nicht ein einziges Mal stellte ich meinen Auftrag in Frage. Zumindest äußerlich ruhig machte ich mich auf zu meinem verrückten Geschäft.
Zunächst erschien es mir am besten, zu einer Pension zu gehen und, sobald ich eine Unterkunft gefunden hätte, der Vermieterin oder dem Vermieter – wer auch immer es gerade sein würde – im Vertrauen zu sagen, dass ich Arbeit suchte, um dann nach einigen Tagen dem Anschein nach den Verstand zu verlieren. Aber als ich den Plan noch einmal überdachte, fürchtete ich, dass seine Umsetzung zu lange dauern könnte. Da fiel mir ein, dass es viel einfacher wäre, es in einem Heim für Arbeiterinnen zu versuchen. Ich wusste, dass, wenn ich erst einmal ein Haus voller Frauen von meinem Wahnsinn überzeugt hätte, diese nicht ruhen würden, bis ich außerhalb ihrer Reichweite und sicher weggesperrt wäre.
Ich suchte mir aus einem Adressbuch das Behelfsheim für Frauen, No. 84 Second Avenue, heraus. Während ich die Second Avenue hinunterlief, beschloss ich mein Bestes zu geben, um die Reise nach Blackwell’s Island und in die Irrenanstalt recht schnell anzutreten.
12. Kapitel
Ein Spaziergang mit den Irren
Ich werde niemals meinen ersten Spaziergang vergessen. Als alle Patientinnen die weißen Strohhüte aufgesetzt hatten – solche, wie sie Badegäste auf Coney Island tragen – konnte ich nicht anders, als über ihre komische Erscheinung zu lachen. Ich vermochte die Frauen nicht auseinanderzuhalten.
Ich verlor Miss Neville aus den Augen und musste meinen Hut abnehmen, um sie zu suchen. Als wir uns wiederfanden, setzten wir die Hüte wieder auf und lachten über unseren Anblick. Immer zu zweit nebeneinander bildeten wir eine Reihe und gingen, bewacht von den Aufseherinnen, durch einen Hinterausgang zu den Spazierwegen.
Wir waren noch nicht weit gegangen, als ich auf den anderen Wegen ebenfalls lange, von Krankenschwestern bewachte Reihen von Frauen entlangschreiten sah. Wie viele es waren! Überall wanderten sie in ihren merkwürdigen Kleidern, mit komischen Strohhüten und Schals langsam umher. Ich starrte gebannt auf die vorbeiziehenden Reihen, und ein schrecklicher Schauder erfasste mich beim Anblick dieser Frauen. Sie hatten leere Blicke und ausdruckslose Gesichter, und aus ihren Mündern kam sinnloses Geplapper. Eine Gruppe von ihnen kam an uns vorbei, und ich konnte sehen und riechen, dass sie fürchterlich schmutzig waren.
„Wer sind die?“, fragte ich eine Patientin in meiner Nähe.
„Sie sind angeblich die Gewalttätigsten auf der Insel“, antwortete sie. „Sie kommen aus der Lodge, dem ersten Gebäude mit den hohen Stufen.“
Einige von ihnen brüllten, andere fluchten, wieder andere sangen, beteten oder predigten, wie es ihnen gerade einfiel, und sie bildeten zusammen die erbarmungswürdigste Ansammlung von Menschen, die ich je gesehen hatte. Als ihr Lärm verebbte, eröffnete sich mir ein weiterer Anblick, den ich niemals vergessen werde:
Zweiundfünfzig Frauen waren mit breiten, um ihre Taillen befestigten Ledergürteln an ein langes Stahlseil gefesselt. Am Ende des Seils fuhren zwei Frauen in einem schweren Eisenwagen. Die eine laborierte an einem wunden Fuß, die andere schrie einer Schwester zu: „Du hast mich geschlagen, und das werde ich nicht vergessen. Du willst mich töten“, und dann weinte und jammerte sie. Die Frauen ›am Seil‹, wie sie von den Patientinnen genannt wurden, waren mit ihren eigenen Einbildungen beschäftigt. Einige schrien die ganze Zeit über. Eine Frau mit blauen Augen drehte sich, als sie sah, dass ich sie beobachtete, soweit wie möglich von mir weg und redete und grinste dabei mit diesem schrecklichen, furchterregenden Ausdruck vollständigen Irrsinns im Gesicht. Die Ärzte dürften in ihrem Fall sicher urteilen. Der Anblick war für mich, die ich nie zuvor in der Nähe eines geisteskranken Menschen gewesen war, unerträglich.
„Gott stehe ihnen bei!“, stöhnte Miss Neville. „Es ist so fürchterlich, dass ich nicht hinschauen kann.“
So zogen sie vorbei, doch es kamen immer weitere nach. Können Sie sich diesen Anblick vorstellen? Laut einem der Ärzte sind 1600 geisteskranke Frauen auf Blackwell’s Island.
Wahnsinn! Was kann auch nur halb so schlimm sein? Mein Herz schmerzte vor Mitleid, als ich alte, grauhaarige Frauen wahllos ins Leere sprechen sah. Eine Frau hatte eine Zwangsjacke an, und zwei andere Frauen mussten sie hinter sich herschleppen. Verkrüppelt, blind, alt, jung, hässlich und hübsch, bildeten sie eine besinnungslose Masse Mensch. Kein Schicksal könnte schlimmer sein.
Ich betrachtete die schönen Rasenflächen, von denen ich einmal gedacht hatte, dass sie ein Trost für die armen, auf die Insel verwiesenen Geschöpfe sein müssten, und lachte über diese Vorstellung. Was haben sie von diesem Rasen? Sie dürfen ihn nicht betreten, nur anschauen. Ich sah, wie einige Patientinnen eifrig und zärtlich eine Nuss oder ein verfärbtes Blatt aufhoben, das auf den Weg gefallen war. Aber sie durften sie nicht behalten. Die Krankenschwestern zwangen sie stets, diesen kleinen Trost Gottes wegzuwerfen.
Als ich an einem flachen Pavillon vorbeikam, in dem eine Horde hilfloser Irrer eingesperrt war, las ich eine Losung an der Mauer: „Solange ich lebe, hoffe ich.“(1)
Die Absurdität dieses Spruches wurde mir schmerzhaft bewusst. Ich hätte gerne über die Anstaltstore setzen lassen: „Wer hier eintritt, lässt alle Hoffnung fahren.“(2)
Während des Spaziergangs wurde ich fast ohne Unterlass von Krankenschwestern geplagt, die von meiner romantischen Geschichte gehört hatten und die von unseren Aufseherinnen wissen wollten, welche der Frauen ich war. Ich wurde wiederholt vorgezeigt.
Bald wurde es Zeit zum Mittagessen, und ich hatte einen solchen Hunger, dass ich glaubte, alles essen zu können. Zuerst aber mussten wir wieder eine halbe oder Dreiviertelstunde im Gang warten, bis wir zu unserem Mittagessen kamen. Die Schalen, in denen wir morgens unseren Tee bekommen hatten, waren nun mit Suppe gefüllt, und auf einem Teller befand sich eine kalte gekochte Kartoffel und ein Stück Rindfleisch, das sich bei näherem Hinsehen als etwas verdorben erwies. Es gab keine Messer oder Gabeln, und die Patientinnen sahen einigermaßen wild aus, als sie das zähe Rindfleisch in die Finger nahmen und es mit ihren Zähnen zu reißen versuchten. Diejenigen, die keine oder nur schwache Zähne hatten, konnten es nicht essen. Für die Suppe gab es einen Esslöffel, und ein Stück Brot bildete den letzten Gang. Butter wurde zum Mittagessen ebenso wenig gereicht wie Kaffee oder Tee. Miss Mayard konnte nichts essen, und ich sah viele der Kranken sich mit Ekel abwenden. Ich war durch den Mangel an Essen bereits sehr schwach und versuchte, ein Stück Brot zu mir zu nehmen. Nach den ersten paar Bissen setzte sich der Hunger durch, und es gelang mir, das ganze Stück bis auf die Kruste zu verzehren.
Der Anstaltsdirektor Dr. Dent kam durch den Aufenthaltsraum, grüßte hier und da einige der Patientinnen oder fragte oberflächlich nach ihrem Befinden. Seine Stimme war so kalt wie die Luft im Raum, und die Patientinnen machten keinerlei Anstalten, ihm von ihren Leiden zu erzählen. Ich ermutigte sie, ihm zu sagen, wie sie unter der Kälte und der unzureichenden Kleidung litten, aber sie antworteten mir, dass die Schwester sie prügeln würde, wenn sie davon sprächen.
Ich bin niemals so müde gewesen wie beim Sitzen auf diesen Bänken. Manche der Patientinnen klemmten einen Fuß unter oder saßen seitwärts auf der Bank, um ein wenig Abwechslung zu haben, aber sie wurden stets gerügt und ermahnt, sich gerade hinzusetzen. Wenn sie sprachen, wurden sie ausgeschimpft und bekamen gesagt, dass sie den Mund halten sollten. Wenn sie auf und ab gehen wollten, um die Steifheit loszuwerden, hieß es, dass sie sich hinsetzen und ruhig sein sollten. Was, außer Folter, würde Geisteskrankheit schneller hervorbringen als diese Behandlung? Diese Frauen waren hier, um geheilt zu werden!
Jene medizinischen Spezialisten, die mich heute für mein Handeln verurteilen, weil sie sich in ihrer Berufsehre gekränkt fühlen, sollten einmal eine gesunde und in vollem Besitz ihrer Geisteskräfte stehende Frau einsperren und sie zwingen, von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends gerade auf einer Bank zu sitzen. Sie dürfte sich in dieser Zeit nicht bewegen oder unterhalten, nichts zum Lesen haben und nicht wissen, was draußen in der Welt vor sich geht. Sie sollte schlechtes Essen bekommen und eine raue Behandlung, und dann sollte man schauen, wie lange es dauert, bis sie wahnsinnig wird. Innerhalb von zwei Monaten wäre sie ein geistiges und körperliches Wrack.
Ich habe meinen ersten Tag in der Anstalt beschrieben, und da der Tagesablauf an den weiteren neun Tagen exakt der gleiche war, wäre es ermüdend, von jedem einzeln zu erzählen. Jetzt, wo ich diese Geschichte präsentiere, erwarte ich, dass viele der entlarvten Beteiligten mir widersprechen werden. Ich aber erzähle lediglich von dem Leben, das ich zehn Tage lang in einem Irrenhaus geführt habe – in einfachen Worten und ohne jede Übertreibung.
Das Essen war mit das Schrecklichste. Bis auf die ersten zwei Tage nach meiner Einlieferung gab es kein Salz zum Essen. Die hungrigen oder sogar verhungernden Frauen versuchten, das fürchterliche Essen zu verzehren. Senf und Essig wurden auf das Fleisch und in die Suppe gegeben, um ihnen Geschmack zu verleihen, aber das machte es nur noch schlimmer. Außerdem war auch das nach zwei Tagen verbraucht, und die Patientinnen mussten nun frischen Fisch hinunterwürgen, der einfach nur in Wasser gekocht worden war, ohne Salz, Pfeffer oder Butter; oder Lamm, Rind und Kartoffeln ohne einen Hauch von Gewürzen. Die am schwersten Geisteskranken weigerten sich, das Essen hinunterzuschlucken, und wurden mit Strafen bedroht. Auf unseren kurzen Spaziergängen kamen wir an der Küche vorbei, in der das Essen für die Schwestern und Ärzte zubereitet wurde. Wir erhaschten dort Blicke auf Melonen und Weintrauben und die verschiedensten Sorten Obst, auf schönes Weißbrot und gutes Fleisch, und der Hunger wurde noch schlimmer. Ich sprach mit einigen Ärzten, doch das hatte keinerlei Auswirkung, und als ich aus der Anstalt weggebracht wurde, war das Essen noch immer ungesalzen. Es tat mir im Herzen weh zu sehen, wie die Patientinnen von dem Essen noch kränker wurden. Ich sah, wie Miss Tillie Mayard bei einem Bissen plötzlich Übelkeit überkam, so dass sie aus dem Speisesaal hinauseilen musste, und wie sie dann für ihr Verhalten ausgeschimpft wurde. Wenn die Patientinnen sich über das Essen beschwerten, hieß es, dass sie den Mund halten sollten, dass sie es zu Hause nicht so gut hätten und dass das Essen für Patientinnen der Wohlfahrt immer noch viel zu gut sei.
Ein deutsches Mädchen, Louise – ich habe ihren Nachnamen vergessen -, aß mehrere Tage lang nichts, und eines Morgens schließlich fehlte sie. Den Gesprächen der Schwestern entnahm ich, dass sie an hohem Fieber litt. Das arme Ding! Sie erzählte mir, dass sie ununterbrochen für ihren Tod bete. Ich beobachtete, wie die Schwestern einer Patientin auftrugen, das Essen, das die gesunden Patientinnen zurückwiesen, zu Louises Zimmer zu tragen. Stellen Sie sich dieses Essen für eine Fieberpatientin vor! Natürlich aß sie es nicht. Ich sah daraufhin, wie eine der Schwestern – es war Miss McCarten – zu ihr ging, um Fieber zu messen, und dann berichtete, dass es bei etwa 150 Grad Fahrenheit(3) liege. Als Miss Grupe mich darüber schmunzeln sah, fragte sie mich nach dem höchsten Fieber, das ich je gehabt habe. Ich antwortete nicht. Daraufhin entschied sich Miss Grady, ihr Können zu erproben. Sie kam mit dem Bericht zurück, dass es 99 Grad seien.(4)
Miss Tillie Mayard litt von uns allen am meisten unter der Kälte. Dennoch versuchte sie, meinem Rat zu folgen, guter Dinge zu sein und für eine Weile stark zu bleiben.
Anstaltsdirektor Dent brachte einen Mann zu uns herein, der mich sehen wollte. Er fühlte meinen Puls und untersuchte meine Zunge und meinen Kopf. Ich sagte ihnen, wie kalt es sei und versicherte, dass ich keiner medizinischen Hilfe bedürfe, Miss Mayard jedoch wohl, und dass sie ihre Aufmerksamkeit ihr widmen sollten. Sie antworteten mir nicht, und ich war froh, als Miss Mayard ihren Platz verließ und auf uns zukam. Sie sprach mit den Ärzten und sagte ihnen, dass sie krank sei, aber diese beachteten sie nicht. Die Schwestern kamen und zerrten sie zurück auf die Bank, und nachdem die Ärzte gegangen waren, sagten sie: „Bald werden Sie merken, dass die Ärzte Sie nicht beachten, und dann werden Sie aufhören, Sie zu bestürmen.“ Bevor die Ärzte mich verließen, hörte ich einen von ihnen sagen – ich kann es nicht wörtlich wiedergeben -, dass mein Puls und meine Augen nicht die einer Geisteskranken seien, aber Direktor Dent versicherte ihm, dass in Fällen wie meinem die Tests nicht griffen. Nachdem er mich eine Weile beobachtet hatte, sagte er, dass ich das aufgeweckteste Gesicht habe, das er je bei einer Geisteskranken gesehen habe.
Die Schwestern trugen schwere Unterkleider und Mäntel, aber sie weigerten sich, uns Schals zu geben. Fast die ganze Nacht über hörte ich eine Frau über die Kälte jammern und Gott darum bitten, dass er sie sterben lassen möge. Eine andere schrie in gewissen Abständen „Mord!“ und „Polizei!“, was mich schaudern machte.
Am zweiten Morgen, als wir unsere endlose „Sitzung“ für diesen Tag begonnen hatten, brachten zwei Schwestern mit Unterstützung einiger Patientinnen die Frau herein, die in der letzten Nacht Gott darum gebeten hatte, sie zu sich zu nehmen. Mich überraschte ihr Gebet nicht. Sie war wohl siebzig Jahre oder älter, und sie war blind. Obwohl die Räume eiskalt waren, trug sie die gleiche Kleidung wie wir und die ich bereits beschrieben habe. Als sie in den Aufenthaltsraum gebracht und auf die harte Bank gesetzt wurde, klagte sie: „Ach, was machen Sie mit mir? Mir ist so kalt, so kalt. Warum kann ich nicht im Bett bleiben oder einen Schal bekommen?“ Und während sie dies sagte, stand sie immer wieder auf und versuchte, sich aus dem Raum herauszutasten. Manchmal stießen die Aufseherinnen sie zurück auf die Bank, dann ließen sie sie wieder laufen und lachten, wenn sie gegen den Tisch stieß oder gegen die Ecken der Bänke. Einmal sagte die Frau, dass die schweren Schuhe, die sie von der Wohlfahrt bekommen hatte, ihren Füßen wehtaten und zog sie aus. Die Schwestern ließen ihr die Schuhe von zwei Patientinnen wieder anziehen. Als sie sie dann wieder und wieder auszog und sich wehrte, sie erneut angezogen zu bekommen, versuchten sieben Leute auf einmal, ihr die Schuhe anzuziehen. Die alte Frau versuchte dann, sich auf der Bank hinzulegen, aber die Schwestern zogen sie wieder hoch. Es war erbarmungswürdig, wie sie heulte: „Gebt mir doch ein Kissen und deckt mich zu, mir ist so kalt.“
Dann sah ich, wie Miss Grupe sich auf die Frau setzte und ihr mit ihren kalten Händen über das Gesicht, in das Kleid hinein und über den Nacken strich. Über die Schreie der alten Frau lachte sie unbändig. Auch die anderen Schwestern lachten und wiederholten die brutale Behandlung. An diesem Tag wurde die alte Frau in eine andere Abteilung gebracht. (Copyright AvivA Verlag)
________________________________________________
(1) Zitat aus Ciceros Briefen an Atticus: ‚Dum spiro, spero‘ (wörtlich: „Solange ich atme, hoffe ich“)
(2) Zitat aus Dantes Die Göttliche Kommödie (Inferno, 3.Gesang). Die Worte finden sich in einer Inschrift der Höllenpforte.
(3) ca. 65,5 Grad Celsius
(4) ca. 37.2 Grad Celsius