Dass der Schulz-Rausch ein Phänomen von geringer Halbwertszeit war, zeichnete sich lange vor der Bundestagswahl 2017 ab. Spätestens mit dem sang- und klanglosen Rücktritt vom Amt des SPD-Parteichefs am Dienstag ist der Hoffnungsträger Martin Schulz Geschichte. Die Story über den steilen Aufstieg und jähen Absturz des Merkel-Herausforderers ist aber auch eine Geschichte der Medien – und ihres Versagens.
Die Asche hat den Phönix wieder. Am Dienstagabend trat Martin Schulz von seinem Amt als SPD-Parteivorsitzender mit sofortiger Wirkung zurück. Es war bereits sein zweiter Rückzieher innerhalb weniger Tage. Vergangenen Freitag hatte er seinen Verzicht auf das angestrebte Amt des Außenministers erklärt, das nach dem Abschluss des GroKo-Vertrags mit der Union zum Greifen nahe schien. Nun hat er nichts von alledem, was ihm nach etlichen Medienberichten zu Beginn des Wahlkampfs vor einem Jahr doch angeblich kaum noch zu nehmen war – damals, als der von den Medien befeuerte „Schulz-Zug“ im Höchsttempo Richtung Wahlsieg zu rasen schien.
Martin Schulz, Ex-Kanzlerkandidat und Hoffnungsträger a. D. dürfte als Politiker Geschichte sein – zumindestens vorerst, wenn nicht gar endgültig. Dem ehemaligen EU-Parlamentpräsidenten, der 2017 überraschend zum Parteivorsitzenden der SPD und zum Merkel-Herausforderer ernannt worden war und damit zur Lichtgestalt einer strauchelnden und verunsicherten Partei wurde, bleibt nur mehr sein Abgeordnetenmandat im Bundestag. Von den Wählern verprellt, von den eigenen Genossen fallen gelassen und ausgestochen. Ohne Parteiamt, ohne Ministerposten, ohne Zukunft auf der großen Politbühne. Schulz ist politisch dort gelandet, wo er angefangen hat. Ganz unten.
Aus der Retroperspektive betrachtet, ist es nur schwer begreifbar, wie Martin Schulz überhaupt so weit kommen konnte. Wer zurückblickt, wird kritische Fragen an die Partei richten, die ihn auf die ganz große Bühne hob, und ebenso an die Medien, deren Hauptstadtkorrespondenten Merkel-müde und offenbar allzu bereit waren, den in der SPD entfachten Hype auf den großen Publikumsverteiler der Leitmedien zu legen. Die Folge war eine beispiellose Verklärung des Politikers Martin Schulz, die zu einer gnadenlosen Überschätzung seiner Zugkraft beim Wähler und seiner politischen Qualitäten führte.
Erst in den vergangenen Tagen zeigte Schulz sein wahres Gesicht, und eine rabiate Fratze der Politik kam zum Vorschein. Aus dem SPD-Mann, der sich zuletzt entgegen aller vorherigen Zusagen auf einen Ministerposten im neuen Kabinett Merkel zu retten versuchte, ist die Antithese „Sankt Martins“ (Spiegel) geworden. Aus dem „Eroberer“ (stern) wurde ein Überläufer, dessen politisches Ende als besiegelt bezeichnet werden darf. Die vom Spiegel vor Jahresfrist beschworene „Merkeldämmerung“ blieb aus. Viel mehr dämmert so langsam, dass da etwas gewaltig schief gelaufen ist in den Medien.
„Wie war es möglich, sich in diesem Mann so zu täuschen?“, fragte jüngst der Tagesspiegel in Richtung der SPD wie auch der „Öffentlichkeit“. Die Frage sollte vielmehr auch in die Richtung der eigenen Zunft gestellt werden. Unstreitig wird die Öffentlichkeit auch von den Medien hergestellt.
In Ansätzen selbstkritisch reflektiert hat in dieser Woche der stern-Journalist Hans-Martin Tillack. „Warum wir Journalisten den Schulz-Hype aufarbeiten müssen“, lautet die Überschrift, unter der der erfahrene Reporter einen von Kritik befreiten Rudeljournalismus identifiziert und deutlich gemacht hat, dass nicht nur die Sozialdemokraten an sich arbeiten müssen. „Die Begeisterung war so groß, dass ihm selbst erfahrene Beobachter alle möglichen weiteren Fähigkeiten zuschrieben“, analysiert er im Nachhinein. „In diesen ersten Wochen des Schulz-Hypes traf man (…) Kollegen, die ernsthaft behaupteten, dass der Sozialdemokrat irgend etwas noch nicht ganz erkanntes Besonderes an sich habe.“
„Einen Wahlkampf wird Schulz mit seinen Gaben wunderbar bestreiten“, so die SZ
Schulz‘ Glaubwürdigkeit sei „von FAZ bis SZ“ gefeiert worden, erinnert sich Tillack weiter und zitiert ein Beispiel von SZ-Kommentator Heribert Prantl. „Schulz hat das, was Angela Merkel fehlt: Er hat den Überschwang, das Feuer, die Begeisterung“, schrieb er im Januar 2017. „Einen Wahlkampf wird Schulz mit seinen Gaben wunderbar bestreiten können.“ Es lassen sich zahlreiche weitere finden. So attestierte der Tagesspiegel Schulz damals „Bernie-Sanders-Effekt“ in Deutschland. „Es gibt nicht den einen Grund, der den Schulz-‚Hype‘ verständlich macht. Der 61-jährige Sozialdemokrat agiert als leidenschaftlicher Politiker, ist rhetorisch beschlagen und kann seine Zuhörer mit Pathos in den Bann schlagen.“
Doch waren es nicht nur Kommentatoren, die sich begeistert zeigten, und so ein Bild schufen, das schon damals mit der Realität so richtig gar nichts zu tun hatte, wie sich später herausstellen sollte. Es war auch die Berichterstattung im Allgemeinen. Abgesehen etablierter Meinungsumfragen führte so ziemlich jedes Medium eigene Untersuchungen durch. Zeitweise wirkte es wie ein Wettkampf um die höchsten Umfrageergebnisse für Kandidat Schulz. Zeitgleich fluteten Szenen begeisterter alter wie junger SPD-Mitglieder, die „Martin, Martin“ in die Kameras johlten, die Fernsehnachrichten. „Mit Schulz ist auch eine Form der Politikinszenierung gescheitert, die glaubt, auf Inhalte verzichten zu können, und die das Publikum für dümmer verkaufte, als es ist“, hieß es diese Tage in einem treffenden Kommentar. Für dumm verkaufen ließen sich aber die Medien.
Auch wenn Tillack seinen Arbeitgeber nicht blind dem Rudel hinterhergelaufen sehen will, muss sich auch der stern sich kritisch mit seiner Rolle befassen. Schon die Bekanntgabe der Schulz-Kandidatur war ein Medien-Spektakel. Wochenlang bereiteten der damals noch Vorsitzende Sigmar Gabriel und Schulz den Wechsel an der Spitze der Partei vor. Via Zeit und stern gab Gabriel schließlich seinen Rücktritt und Verzicht auf den Posten des Kanzlerinnenherausforderers bekannt, vorab geleakt von MEEDIA. Die Nachricht schlug ein und überraschte viele Genossen, Beobachter und Journalisten. Die SPD versuchte, das meiste aus dem Überraschungseffekt herauszuholen, verwandelte ihn zunächst in Begeisterung. Kaum einer wusste, wie der Partei und Martin Schulz geschah – am wenigsten wohl er selbst. Es war fröhliche Beginn eines Kapitels, das dunkel enden sollte. Nicht nur für Schulz, sondern auch für den Medienbetrieb.
Ja, auch der stern hat zwischenzeitlich immer mal wieder kritisch über Martin Schulz berichtet und darauf hingewiesen, dass Schulz noch immer von denselben Charakterzügen durchzogen sei, die Tillack bereits 2014 während seiner Korrespondentenzeit in Brüssel ausgemacht haben will: beispielsweise eine „überdurchschnittlich fröhliche Bereitschaft zur Unaufrichtigkeit“. Und auch der Spiegel will hier und da eine „freundlich-neugierige, kritische Berichterstattung, wie Chefredakteur Klaus Brinkbäumer es mal beschrieben hatte, betrieben haben. In der Gesamtwahrnehmung sind es jedoch Ausnahmen von der Regel, die sich immer mal wieder finden lassen. Direkt nach Bekanntgabe der Kandidatur attestierte die FAZ dem Kandidaten Schulz schlechte Chancen, nahm später seinen Wahlkampf auseinander. Der Focus bezeichnete Schulz als „Scheinheiligen“ und hob die Geschichte auf den Titel. Doch sind es wohl eher Titelseiten wie eben der „Eroberer“ und (wenn auch ironisch gemeint) „Sankt Martin“, die im Gedächtnis geblieben sind.
Der Vorhang fiel erst, als der Spiegel nach der Bundestagswahl eine Geschichte veröffentlichte, die so viel mehr war als ein politischer Offenbarungseid. Schulz‘ Geschichte ist auch eine Geschichte der Demütigung, die der Spiegel-Journalist Markus Feldenkirchen eindrucksvoll geschildert hatte. 150 Tage lang durfte er den Kanzlerkandidaten begleiten. Das „denkwürdige Kapitel Politgeschichte“ führte aber auch vor Augen, wie sehr die Medien mit ihrer Begeisterung für den Kandidaten an der Realität vorbeischrammten. Während Feldenkirchen das Bild eines Politikers zwischen Machthunger und Frust-Currywurst gewann, feierten andere noch den selbstbewussten, den authentischen Kandidaten.
Martin Schulz und die SPD, das war Opium fürs Journalistenvolk. Nach acht Jahren Angela Merkel tauchte plötzlich jemand auf, dem man Chancen für einen Paradigmenwechsel einräumte, der so viel sympathischer war als der Vorsitzende Sigmar Gabriel. Schulz war in Deutschland weitgehend unbelastet und unangetastet. In Zeiten des Vertrauensverlusts in die Politik (wie auch Medien), in denen – auch aufgrund der träge gewordenen Unionsparteien – nur noch der Fokus auf die neuen Kräfte von rechts außen blieb, gab es endlich wieder eine positive Geschichte zu erzählen. Schulz der Hoffnungsträger. Die Umfragewerte kletterten atemberaubend, die Kanzlerin schien angeschlagen. 100 Prozent Zustimmung beim SPD-Parteitag, das hatte es noch nie gegeben. Es war Wahnsinn.
„Zunehmend ersetzt der Blick auf Twitter die nüchterne Analyse“, bilanziert Cicero
Während sich Partei wie auch Medien die volle Schulz-Dröhnung gaben und sich zeitweise im Rausch verloren, war es eine andere Klientel, die nüchtern blieb. Den Wählern war nicht nicht entgangen, dass es zwar Schulz gab, aber kein Programm. Über drei Landtagswahlen hinweg holten sie den Rest der Republik schmerzhaft von ihrem Trip runter. Bis dahin rauschte der „Schulz-Zug“ im Eiltempo durch die Medienlandschaft. In der Rückschau ist kaum noch auszumachen, ob die Nachrichten- und Meinungsjournalisten Anheizer oder Trittbrettfahrer waren.
Dass es so kam, mag in einer Vielzahl von Faktoren begründet liegen, die Beobachter bereits im vergangenen Jahr versucht haben, ausfindig zu machen. So machte der Cicero die sozialen Medien als möglichen Verursacher aus, von dem sich zahlreiche etablierte Medien hätten blenden lassen.“Zunehmend ersetzt der Blick auf Twitter die nüchterne Analyse und die Wahrnehmung der Wirklichkeit“, schrieb das Polit-Magazin damals. Stimmen, Kampagnen und Trends aus dem Netz als „reale Stimmung“ zu deuten, beschrieben ein „Armutszeugnis“. Anfangs klafft bereits eine Lücke zwischen dem medial überzeichneten Bild des Kandidaten Schulz und der Realität aber möglicherweise war es auch Schulz‘ bewegte Vita, die begeisterte. Er war eine Geschichte an sich, wie sie sonst nur im Film erzählt wird. Er durchlebte, was Experten und Hollywood eine „Heldenreise“ nennen und auf Menschen eine besondere Anziehungskraft hat: Vom Mann ohne höheren Bildungsabschluss, zunächst dem Alkohol verfallen und perspektivlos als klassischer Antiheld dastehend, folgte er eines Tages einem inneren Ruf nach etwas Großem. Die Ära Merkel zu beenden und Deutschland als Bundeskanzler zu dienen, hätte diese Reise perfekt gemacht. Die Faszination, die Verlockung war groß.