Wer hätte das heute morgen noch gedacht?
Nach 367 Tagen endete am Nachmittag für Deniz Yücel (Bild,Screenshot: mit seiner Frau  Dilek  v o r  dem Knast) ein Albtraum: ohne Anklage in einem türkischen Gefängnis zu sitzen.
Die Freilassung (16. Februar) aus der „Geiselhaft“, wie viele Beobachter die Inhaftierung werteten, wird in den deutschen Medien gefeiert. Springer-Chef Mathias Döpfner lobt Außenminister Sigmar Gabriel für sein Engagement.
Hintergrund der Freilassung ist offenbar, dass die Staatsanwaltschaft nun eine Anklageschrift gegen Yücel erhoben hat.
In der Anklage fordert die Behörde – so die Nachrichtenagentur Anadolu – 18 Jahre Haft. Das Gericht – so die Nachrichtenagentur weiter – habe die Anklageschrift angenommen und Yücel dann aus der Untersuchungshaft entlassen.
Zur Tagesordnung darf nun freilich nicht übergegangen werden!
Pressestimmen:

Focus Online: „Maßgeblich verantwortlich für diesen Erfolg ist offenbar Außenminister Sigmar Gabriel – ausgerechnet der Mann, den die SPD-Führung – allen voran Martin Schulz – nicht mehr im Auswärtigen Amt behalten will. (…) Eine wichtige Runde im politischen Überlebenskampf hat Gabriel nun gewonnen, seinen Kritikern durch eine geschickte Inszenierung eins ausgewischt. Schließlich kommt die Nachricht über Yücels Freilassung zu einem besonders günstigen Zeitpunkt: Nämlich inmitten der Personaldebatten der SPD – und unmittelbar vor dem Start der Münchner Sicherheitskonferenz, auf der Gabriel seinen Erfolg auf internationaler Bühne vor namhaften Außenpolitikern feiern kann.“

Özlem Topçu, Zeit Online: „Was sich da in dieser Zeit entspann, war nichts anderes als die „Groko für Deniz“, wie es Jan Böhmermann einmal zutreffend bezeichnete: Da kamen Menschen für Deniz zusammen, natürlich, aber auch für nichts Geringeres als für die Freiheit des Wortes, der Kunst und der Wissenschaft. (…) Freuen wir uns heute daher über die schönste Hashtagveränderung seit Langem: Aus #FreeDeniz wird nun endlich #DenizFree.“

Bild-Zeitung: „Möglicherweise könne nun mit Deniz Yücel verfahren werden wie mit dem Menschenrechtler Peter Steudtner: Der wurde im Oktober aus der U-Haft entlassen, durfte das Land verlassen, das Verfahren gegen ihn in der Türkei läuft jedoch weiter.“

Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender Axel Springer:
„Wir sind unendlich erleichtert (…). Ich möchte allen danken, die mit unermüdlicher Energie für ihn da waren und sich für seine Freilassung stark gemacht haben – seinen Kollegen, seinen Freunden, der Bundesregierung und dort vor allem Sigmar Gabriel. Die große partei- und ideologieübergreifende Solidarität mit Deniz Yücel unterstreicht die Bedeutung von Pressefreiheit und unabhängigem Journalismus für unsere Gesellschaft. Sein Fall zeigt aber auch, dass wir immer wieder bereit sein müssen, beides zu verteidigen.“

Außenminister Sigmar Gabriel (SPD): „Ich freue mich sehr über diese Entscheidung der türkischen Justiz. Und noch mehr freue ich mich für Deniz Yücel und seine Familie. Das ist ein guter Tag für uns alle. Ich danke ausdrücklich der türkischen Regierung für ihre Unterstützung bei der Verfahrensbeschleunigung. 

Maximilian Popp, Spiegel Online: „Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan behauptet, die Justiz seines Landes sei unabhängig. Der Fall Yücel belegt einmal mehr, dass das nicht stimmt. Ein Jahr lang hat die Staatsanwaltschaft noch nicht einmal eine Anklageschrift gegen Yücel vorgelegt. Erdogan hat den Journalisten als eine Art Geisel gehalten. Er hat seine Freilassung an Bedingungen geknüpft, etwa an die Auslieferung mutmaßlicher türkischer Putschisten oder an Waffengeschäfte. (…) Die Bundesregierung sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass mit der Freilassung Yücels Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei wiederhergestellt wären. Erdogan mag gegenüber Berlin gerade auf Deeskalation setzen. Im Inland führt er seinen autoritären Kurs ungebremst fort. Am selben Tag, an dem Yücel aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, sind sechs türkische Journalisten zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt worden. (…) Die Bundesregierung darf im Verhältnis zu Ankara trotzdem nicht zur Tagesordnung übergehen.“

Stuttgarter Nachrichten: „Zu welchen Bedingungen Deniz Yücel letztendlich entlassen wird, ist nicht klar. Aus dem Gefängnis heraus hat der Reporter aber deutlich gemacht, dass er nicht Teil eines ’schmutzigen Deals‘ mit der Türkei sein möchte. Im Klartext: die Gefängnistore sollen sich nicht öffnen, weil Deutschland dann wieder Waffen in die Türkei schickt. Diese Verbindung hatte Noch-Außenminister Sigmar Gabriel vor wenigen Wochen ins Spiel gebracht und damit – zu Recht – viel Kritik auf sich gezogen.“

Jens Thurau, Deutsche Welle: „Die Freilassung von Deniz Yücel ist ein Sieg beharrlicher Diplomatie. Und sie zeigt: So allmächtig wie gedacht ist der Autokrat vom Bosporus doch nicht. Auch Erdogan kann sich nicht alles erlauben.“

tno, Rundschau: Kann er nicht? Was er nämlich mit seinem Verhalten in dieser Angelegenheit mehr als unverfroren offen und überdeutlich bewiesen hat, das ist: Kann er doch!
Hat nicht Erdogan immer mal wieder verlautbart, er könne (und wolle das eben deshalb nicht tun) auch in der Causa nicht in die rechtsstaatlichen Belange des Gerichts eingreifen, und nun, überraschend für Alle, ist er frei!
Erdogans derzeitiger Bedarf ist eine willfährige Bundesregierung – er mag sich wohl erhoffen, dass er dies nun einmal mehr würde mit seiner „Großzügigkeit“ erreichen können.
Deniz Yücel mag in den letzten Tagen geahnt haben, dass  da ein schmutziger Deal im Raum stand, den er freilich vehement nicht wollte und deutlich abgelehnt hat.
Aber, wie auch immer:
Wir freuen uns für ihn! Und mit ihm!

nota bene – sollte das auch mal unter die Leute gebracht werden:

Die „Süddeutsche Zeitung“, der NDR und der WDR haben monatelang recherchiert, wie deutsche Geheimdiplomatie funktioniert – am Fall Deniz Yücel. Georg Mascolo und Christiane Schlötzer beschreiben in der „SZ am Wochenende“ ausführlich, wie Sigmar Gabriel mithilfe von Gerhard Schröder im Geheimen die Fäden gesponnen hat, um Yücel freizubekommen.

Schröder sei „der einzige Deutsche, dem er noch vertraue“, soll Erdogan einmal gesagt haben, deshalb wurde der Altkanzler ins Boot geholt. Die Journalisten haben eingewilligt, erst nach der Freilassung zu berichten, um sie nicht zu gefährden. Gabriel und Schröder haben sich jeweils mehrere Male mit Erdogan getroffen, unter anderem in Rom und in Istanbul, um die Bedingungen der Freilassung auszuhandeln.

Feb. 2018 | Allgemein, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren