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Guten Morgen, Abendland – Der Westen am Beginn einer neuen Epoche.

[1]Kann man all den weltpolitischen Krisen, den Veränderungen und Unsicherheiten etwas Positives abgewinnen? Man kann. Wenn man mit klugem Blick analysiert und in die Zukunft sieht. Das belegt dieses gerade bei KieWi erschienene Buch „Guten Morgen, Abendland“ von Bernd Ulrich.

Die Annexion der Krim, der Brexit, Donald Trump im Weißen Haus und die Flüchtlinge, die zu Hunderttausenden nach Europa kommen – viele in Europa haben das Gefühl, die Welt sei aus den Fugen geraten. Und sie reagieren darauf mit großer Unsicherheit und Sorgen. Bernd Ulrich aber, der Politikchef der Wochenzeitung „Die Zeit“, erkennt in diesen Veränderungen und Erschütterungen auch eine Chance: „Ich denke, dass die Flüchtlinge eine kopernikanische Wende im Verhältnis zwischen dem Westen oder Europa und Afrika und dem mittleren Osten darstellen, und zwar deswegen, weil der Westen, genauer gesagt Europa, zum ersten Mal in der Geschichte ein massives, dringendes, materielles Interesse daran hat, dass es den Menschen da unten zumindest so gut geht, dass zumindest nicht allzu viele kommen.“

Drittweltländer als Nachbarn erkennen

Afrika, Asien und Südamerika – Europäer haben noch nie auf Augenhöhe mit den Gesellschaften dort kommuniziert, so der Autor. Stattdessen habe der Westen den Rest der Welt benutzt: als Kolonie, als Rohstofflieferanten, als militärischen Stützpunkt. Um die Menschen und deren elementare Bedürfnisse kümmerten sich Hilfsorganisationen und Entwicklungshilfe. Jetzt sei dieses hierarchische Herrschaftsverhältnis so nicht mehr haltbar. Bernd Ulrich sieht ein neues Nachbarschaftsverhältnis, das nicht mehr rückgängig zu machen sei:

„Die Stabilität von Staaten und Religionen beruht, das zeigt sich jetzt in aller Einfachheit und Klarheit, nicht in erster Linie auf Institutionen, nicht mal auf Macht und Gewalt, sondern auf etwas ganz anderem: auf der Demut der Gedemütigten. Und damit geht es nun zu Ende, diese Ressource ist fast völlig aufgebraucht“.  Deshalb stehe der Westen nun unter dem Druck, sich und sein Verhalten erklären und begründen zu müssen.

USA am Ende ihrer Weltmacht-Stellung

Jahrelang konnten wir diese Notwendigkeit von uns fernhalten, das ist jetzt vorbei. Auch weil sich die Rolle der USA so deutlich verändert hat. „Amerika schafft es nicht mehr, diese Weltmachtstellung aufrechtzuerhalten. Sie haben die Kraft nicht mehr dafür, die ökonomische Kraft, die militärische Kraft und die moralische Kraft nicht, und deswegen erleben wir gerade einen der größten Umbrüche, in der Nachkriegszeit“, sagt Ulrich.

Ein Prozess, der nicht erst unter Donald Trump begonnen hat. Europa habe deshalb jetzt die Aufgabe und Chance, sich stärker in die Welt einzubringen als bisher. Nicht als neue Weltpolizei, sondern auf Augenhöhe mit denjenigen, die weltpolitisch lange wenig zu sagen hatten.

Demokratischer Umgang in Deutschland als Vorbild

Und Europa sei dazu in der Lage, so Ulrich. Auch Deutschland. Denn das Land sei weitaus  stabiler und demokratisch gefestigter als mancher angesichts von Pegida und AfD befürchtet. Deutschland sei eine „Stuhlkreisnation”, so Ulrich, soll heißen: Alles werde demokratisch ausgehandelt: „Man braucht im Grunde ein viel gleichberechtigteres, kommunikativeres, freundlicheres, aber doch natürlich nicht weiches System. Und in dem wiederum kann Europa eine große Rolle spielen, weil es in sich ja schon eine sehr Augenhöhe-orientierte Veranstaltung ist, und in diesem Europa wiederum Deutschland.“

Die Welt steht mitten in einem Umbruch. Der sei nicht nur politisch und moralisch überfällig, sondern auch eine Chance für alle – davon ist der Politik-Journalist überzeugt.

Kluges Buch mit Sog-Wirkung bis zuletzt

Mit „Guten Morgen, Abendland“ hat Bernd Ulrich ein außerordentliches Buch geschrieben. Mit einer großartigen Sprache, die so gar nichts mit dem üblichen Politiksprech zu tun hat, inhaltlich klug und differenziert. Vom widersprüchlichen Verhältnis zu Russland, über die Rolle der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise, und nicht zuletzt bis hin zur politischen Bequemlichkeit der liberalen Ökobürger, die nun wiederum lernen müssten, für ihre Positionen zu streiten.

Ein Buch, das einen Sog entfaltet, der erst mit der letzten Seite endet. Und das dazu beiträgt zu verstehen, was zurzeit passiert und gleichzeitig Mut macht, diese heikle Phase zu einem besseren Miteinander zu wenden.

Leseprobe

Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 20117
ISBN 9783462050493
Gebunden, 304 Seiten, 20,00 EUR