Ein Gast-Beitrag von Thomas Fischer
Der Fall Wedel hat in der vergangenen Woche wiederum Wellen geschlagen. Manche sagen, er sei zugleich auch ein Fall der Wochenzeitung Die Zeit, was diese weit von sich weist. Unstreitig dürfte sein, dass sie einen öffentlichen Prozess ungewöhnlicher Breite und Intensität gegen den Beschuldigten Wedel führt. Auch die zweite Welle wurde von der Bemerkung begleitet, man habe noch mehr „Geschichten“ über den Beschuldigten auf Lager. Inzwischen hat, wie man hört, ein Fernsehsender eine „Task Force“ gegründet. Kritik wurde bislang vor allem mit Argumenten aus dem (straf-)prozessualen Zusammenhang formuliert (Unschuldsvermutung, Verjährung, Verhältnismäßigkeit). Es erscheinen mir ein paar Bemerkungen zum Zusammenhang angezeigt.
1. Selbstbeschreibung
Die Journalistin Anabel Wahba, Mitautorin der Zeit-Beiträge vom 4. und 25. Januar 2018, hat am 25. Januar dem rbb-Inforadio folgendes Interview gegeben:
Frage: Warum haben Sie diese neuen Geschichten veröffentlicht?
Antwort: Es ist so, dass wir sehr, sehr viele Wochen gezögert haben. Wir haben um die 160 Personen befragt. Wenn wir von solchen Vorwürfen hören, gehen wir so dran, dass wir sagen, wir glauben das jetzt erstmal nicht und fangen erstmal an zu recherchieren. Und sind dann nicht durch Gespräche, sondern jetzt auch im Fall der zweiten Geschichte durch erdrückende Beweise zu dem Schluss gekommen, dass wir diese Frauen für glaubwürdig halten und dass wir deshalb darüber berichten wollen. (…)
Es gibt in dem neuen Stück von Esther G. (…) Atteste, ärztliche Atteste über die Verletzungen, die ihr zugefügt wurden. Es gibt Anwaltsschreiben von ihrem Anwalt, es gibt sogar einen internen Revisionsbericht des Saarländischen Rundfunks, der sich auf diese Vorwürfe bezieht.
Man muss sich vorstellen: Esther G. ist damals als Hauptdarstellerin ausgefallen, weil sie so schwer verletzt war, dass sie nicht mehr weiterdrehen konnte. Daraufhin wurde eine neue Darstellerin engagiert, … und auch diese Hauptdarstellerin sagt, dass sie massiv von Dieter Wedel sexuell bedrängt und so gedemütigt wurde, dass sie einen Nervenzusammenbruch hatte und ihr Kind verloren hat, die war schwanger (…)
Frage: Darf ich Sie kurz unterbrechen? Esther G., sie hat einen Anwalt eingeschaltet, auch ´nen Arzt, aber warum ist es nicht zu ´ner Anzeige gekommen damals?
Antwort: Also man muss sich jetzt mal vorstellen, wir haben jetzt eine 23jährige Frau, die wird gleich nach einem massivsten sexuellen Übergriff mit schweren Kopf-, mit schweren Halsverletzungen in der Lobby gefunden von ihrer Kollegin. Diese Kollegin kümmert sich um sie; sie geht mit ihr zum Arzt, sie geht mit ihr zum Anwalt, der Saarländische Rundfunk weiß davon, die Produktionsfirma weiß davon, und niemand glaubt ihr. Warum, glauben Sie, ist diese Frau nicht zur Polizei gegangen? (lacht) Weil ihr einfach damals niemand geglaubt hat. Sie war vollkommen alleine. Das sind die Strukturen, in denen sie damals gelebt hat, und man kann das auch nachvollziehen, wenn man sieht, wie jetzt auf die Frauen teilweise eingeschlagen wird, die sich bei uns gemeldet haben, (dann) kann man sich gut vorstellen, warum sie nicht an die Öffentlichkeit damals gegangen sind damals, als sie noch zu jung waren.
Frage: (Eine Rechtswissenschaftlerin meint), man solle das Gerichten überlassen und nicht der Zeit-Redaktion, sonst könnte die ja Urteile fällen. Wie sehen Sie das?
Antwort: Also erstensmal fällen wir keine Urteile. Es gibt ganz klare Regeln für die Verdachtsberichterstattung. Und darin ist vorgesehen, dass wir als Journalisten keine Position beziehen und auch kein Urteil fällen. Sondern wir stellen verschiedene Vorwürfe der Frauen den Antworten von Dieter Wedel gegenüber. Es ist ganz klar, Dieter Wedel hat die Vorwürfe bestritten, und wir überlassen es dem Leser, sich ein Urteil zu bilden. Wir können Journalismus und Skandalaufklärung komplett vergessen, wenn wir sagen, wir berichten sowas nicht mehr (…)
2. Text-Analyse
Ein bisschen Text-Analyse muss ein. Denn das Interview der Autorin Wahba ist durchaus bemerkenswert. Ihre Aussagen widersprechen sich, und es fehlt jeder Ansatz zu professionell-kritischer Distanz. Ich sage dies betrübt, und obgleich ich gewiss kein Gegner investigativer Recherche bin. Ein paar Beispiele:
Wahba sagt: „Wir gehen so dran, dass wir sagen, wir glauben das erstmal nicht… Wir haben 160 Personen befragt. (Wir) sind … jetzt im zweiten Fall durch erdrückende Beweise zu dem Schluss gekommen, dass wir diese Frauen für glaubwürdig halten und dass wir deshalb darüber berichten wollen (…) Es gibt ganz klare Regeln für die Verdachtsberichterstattung. Und darin ist vorgesehen, dass wir als Journalisten keine Position beziehen und auch kein Urteil fällen.“
Diese Sätze sind widersprüchlich. „Verdachtsberichterstattung“ ist ein Bericht über einen Verdacht. Die Behauptung, man sei zur Verdachtsberichterstattung (nur) legitimiert, wenn man die verdächtigende Person für „glaubwürdig“ hält, verdreht die angeblich „klare Regel“ in ihr Gegenteil.
Wahba sagt: Es seien „erdrückende Beweise“ gegeben. Dieser Begriff enthält Grenzüberschreitungen. Die Verwendung des Wortes „erdrückend“ simuliert die Terminologie von staatlich-strafrechtlichen Verfahren. Deshalb müsste gesagt werden, wer darüber entschieden hat, dass die Beweise „erdrückend“ seien. Es waren hier ersichtlich dieselben Personen, die die Beweise gesammelt haben. Wer sie sind, welche Qualifikation sie haben, wer wann was tat, fragte, recherchierte, ermittelte, und unter welchen Bedingungen dies geschah, weiß und erfährt man nicht. Vielleicht haben die Vorgesetzten dieser Personen über das Urteil entschieden: Ressortleiter, Chefredakteure. Man weiß nicht, von wem oder welchem Gremium über die Beweislage entschieden wurde. Das ist der Unterschied zwischen einem Gericht und einem selbsternannten Geheim-Tribunal.
Die „klaren Regeln“, so Wahba, verlangen, „dass wir als Journalisten keine Position beziehen und auch kein Urteil fällen.“ Dieser Beteuerung folgt schon im nächsten Satz das exakte Gegenteil: Man habe überhaupt nur berichtet, sagt Wahba, weil „erdrückende Beweise“ gegeben seien. Interview und Berichte gehen von der Richtigkeit der Beschuldigungen offenkundig und erklärtermaßen aus: „…dass wir diese Frauen für glaubwürdig halten und dass wir deshalb (!) darüber berichten wollen“ (Wahba).
Die Zeit-Veröffentlichungen vom 4. und 25. Januar 2018 sind nicht neutral oder unvoreingenommen, sondern beziehen Position und fällen ein Urteil. Dazu nutzen sie Mittel der Suggestion und Verzeichnung, der Zirkelschlüssigkeit und der Denunziation. Das gilt für die Auswahl der referierten Zeugen-Bekundungen, aber zum Beispiel auch für die tendenziöse Verwendung von Konjunktiv und Indikativ: Die belastenden Aussagen werden in mittelbarer Form eingeführt („sie sagt…, dass…“); wenn sich Lücken zeigen oder Nachfragen aufdrängen, wechselt der Bericht aber unvermittelt in den Indikativ („Sie weiß nicht mehr, …“). Die Autoren wechseln immer wieder zwischen der Rolle der Berichterstatter über Behauptungen und der von Berichterstattern über Wahrheiten. Das führt zu einer zirkelschlüssigen, suggestiven Geschlossenheit der Darstellung.
Man findet die Zirkelschlüssigkeit auch im Interview von Wahba: Die Frage, warum sie so detailliert und belastend über (unbewiesene) Verdächtigungen berichte, beantwortet sie erstaunlich zirkulär: Die Beweislage sei „erdrückend“. Die Notwendigkeit einer kritischen Distanz zwischen der Beschuldigung durch Auskunftspersonen und ihrer Tätigkeit als Journalistin ist hier gar nicht mehr präsent; die Distanz bricht zusammen angesichts der Evidenz der „Überzeugung“: „Man muss sich vorstellen, dass sie (die Zeugin G.) so schwer verletzt wurde, dass sie nicht mehr weiterdrehen konnte“, sagt Wahba dem rbb auf die Frage, „warum“ sie über die Beschuldigung in dieser Form berichtet habe. Von „Verdachtsberichterstattung“ kann hier kaum noch gesprochen werden; sie ist durch Übernahme der Beschuldigung ersetzt. Das entspricht einem Reflexionsniveau, das gemeinhin dem klassischen Boulevard-Journalismus unterstellt wird. Was Bild mit Jörg Kachelmann machte, war der Zeit einst Empörung und Verachtung wert. Die Argumente von damals sollen im Fall Wedel aber ohne Bedeutung sein, weil bei diesem die Beweislage „erdrückend“, er also schuldig sei. In Wahrheit arbeitet man auf demselben Argumentationsniveau, denn auch Bild war ja von der Schuld „überzeugt“.
3. Beweiswürdigung
Wenn man meint, die Beweislage darstellen, auswerten und beurteilen zu sollen, als sei man Mitglied eines Gerichts, dann müsste man sich an die Regeln halten, die für solche Untersuchungen gelten. Dass Journalisten dies können, war schon vor der „Wedel-Geschichte“ zweifelhaft.
Es muss zur Erläuterung leider ein wenig in die „erdrückende“ Beweislage der Zeit eingestiegen werden. Dies geschieht nicht in der Absicht, eine eigene Würdigung durchzuführen. Ich will nur probeweise zeigen, was man als Beweiswürdigungs-Profi mit Ergebnissen der „monatelangen Recherchen“ der Zeit – angeblich „nach den Grundsätzen der Ermittler“ durchgeführt –, machen könnte.
1) Die Zeugin G. wird von der Zeit wie folgt zitiert: „Er schlug meinen Kopf immer wieder auf das Bett, einmal gegen die Wand und einmal gegen die Bettkante…“ Hierzu folgende Fragen: Wie – genau – geht das, motivatorisch und technisch? Warum „schlägt“ ein potenzieller Vergewaltiger den Kopf seines Opfers „auf das Bett“, also auf eine weiche Unterlage? Was will er damit erreichen? Wie hat er das ausgeführt?
Was hat sich situativ verändert, als der Beschuldigte sodann den Kopf des Opfers „gegen die Wand“ schlug? Die Zeugin kann dabei nicht mehr auf dem Bett liegen (der Beschuldigte „rittlings“ auf ihm sitzend). Wie ist sie aus der Lage heraus und „an die Wand“ gelangt? Warum schlug der Beschuldigte ihren Kopf gegen die Wand? Wie machte er das? Gegen welche Wand schlug er sie? Welche Folgen hat es, wenn man den Kopf eines Menschen gegen eine Wand schlägt? Sind Hämatome oder Platzwunden entstanden? Warum ging der Beschuldigte von einer ungefährlichen zu einer wegen der möglichen Spurenlage auch für ihn selbst sehr gefährlichen Gewaltvariante über?
Wie ging es vor sich, dass der Kopf erst gegen die Wand und dann wieder „auf die Bettkante“ geschlagen wird? Welche „Bettkante?“ Ist es bewiesen, dass das betreffende Hotelbett „Bettkanten“ hatte, die hierfür in Frage kamen? Der Tagesspiegel berichtete, die Geschädigte sei „auf die Bettkante gestürzt“. Was heißt und woher kommt das?
2) Die Zeugin G. wird weiter zitiert: „(Er schlug) meinen Kopf auf die Bettkante, so dass ich mich vor Schmerzen nicht mehr bewegen konnte.“ Fragen: War die Zeugin am ganzen Körper bewegungsunfähig? Wie lange hielt dieser Zustand an? Was tat der Beschuldigte in dieser Zeit? Wie ist die Schilderung rechtsmedizinisch erklärbar? Welche knöchernen oder neurologischen Verletzungen könnten einer derart schweren Folge zugrunde liegen, und warum sind solche Verletzungen vom Arzt nicht festgestellt worden?
Der Tage später aufgesuchte Orthopäde berichtete an den Rechtsanwalt der Geschädigten, chiropraktische Maßnahmen (hätten) eine Linderung bewirkt. Zur Diagnose schrieb der Arzt: Hals-Schiefstellung, Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen. Die letzteren Symptome sind Anzeichen einer Schädel-Hirn-Verletzung im Sinn einer Gehirnerschütterung. Warum wurde keine Röntgen- oder CT-Diagnostik durchgeführt? Wie wurden „Schwindel“ und „Erbrechen“ verifiziert? Im Interview spricht Wahba von „schweren Kopf- und Halsverletzungen“ mit Bewegungsunfähigkeit. Soweit erkennbar, wurde die Zeugin aber nur ambulant behandelt.
3) Der „Urkundenbeweis“ bleibt unklar. Ein „Arztbrief“, so heißt es am 25. Januar, belege die Verletzung der Zeugin durch Wedel; und Frau Wahba sagte im Interview, es lägen „Ärztliche Atteste über die Verletzungen (vor), die ihr zugefügt wurden“. Von mehreren „Attesten“ ergibt sich aus den zitierten Aussagen allerdings nichts.
In der Zeit vom 25. Januar ist der Abdruck einer Seite eines Schreibens des Orthopäden veröffentlicht; er wird als „Arztbrief“ bezeichnet. Tatsächlich ist es die erste Seite des Antwortschreibens auf eine Anfrage des Rechtsanwalts der Zeugin, in der dieser offenbar gebeten hatte, irgendetwas zu bestätigen. Die Anfrage ist nicht zitiert; sie wäre interessant, denn der Arzt schreibt, die festgestellte Schiefstellung des Halses sei „Folge der Gewalttätigkeit…“ Da eine solche Verletzung durch alle möglichen Geschehnisse entstehen kann, muss der Arzt von der „Gewalttätigkeit“ durch die Zeugin oder ihren Rechtsanwalt erfahren haben. Er kann also nicht die behauptete Tat bestätigen, sondern nur, ob die Verletzung durch das geschilderte Ereignis entstanden sein kann.
4) „Danach verschwimmt ihre Erinnerung“, berichtet die Zeit über den Zeitraum zwischen „Es ist ihm nicht gelungen, in mich einzudringen“ und „wie sie den Weg in die Lobby gefunden hat“. Was bedeutet: „Es ist ihm nicht gelungen“? Wenige Zeilen zuvor heißt es: „Er habe versucht, ihre Hose zu öffnen und herunterzuziehen.“ Was ist aus diesem Versuch geworden? Wurde die Hose heruntergezogen? Wenn nein: Was bedeutet dann die Formulierung, es sei dem Beschuldigten „nicht gelungen einzudringen“? Hat er das überhaupt versucht?
Zum Ablauf: Der Beschuldigte schlug danach den Kopf der Zeugin gegen die Wand und auf eine Bettkante, um Geschlechtsverkehr zu erzwingen, ließ sie dann aber (mutmaßlich) allein gehen. Was dachte er, werde nun passieren?
Zur Beendigung der Situation gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Zeugin konnte fliehen, oder der Beschuldigte ließ sie gehen. Im ersten Fall läge neben der Körperverletzung eine versuchte Vergewaltigung vor, im zweiten Fall wäre Wedel hiervon strafbefreiend zurückgetreten – die Frage ist also fallentscheidend. Dass man sich an eine Situation von Gewalttätigkeit und Todesangst im Detail erinnert, die Erinnerung an den Moment der Befreiung verliert, sich aber an die unmittelbar folgenden Ereignisse wieder erinnert, ist jedenfalls nicht selbstverständlich.
5) „Nach drei Wochen habe sie (die Zeugin) sich überzeugen lassen (Frage: von wem?), an den Drehort zurückzukehren. Zurück am Set, habe keiner aus dem Team mehr mit ihr sprechen dürfen“ (Zeit, 25.1.). Unklar: Wer sprach ein solch absurdes Verbot aus? Wurde es tatsächlich eingehalten? Was berichtete die Zeugin selbst den Kollegen?
6) Warum erfolgte keine Strafanzeige?, fragte der Moderator im Interview. Zeit-Autorin Wahba: Weil niemand ihr (der Zeugin) glaubte und sie vollkommen allein gewesen sei. Im unmittelbaren Zusammenhang damit: Kollegen hätten die Zeugin „gefunden“, sie zum Arzt und Anwalt gebracht. Der Arzt habe ihre Verletzungen bestätigt, es lägen Atteste und Anwaltsbriefe vor; es gebe einen „Revisionsbericht“ des Senders; usw. Im Zeit-Text heißt es: Alle wussten es. Frage: Worauf stützt sich die unerklärliche Behauptung, die Zeugin sei „vollkommen allein“ gewesen, und niemand habe ihr geglaubt?
Es gibt also, beispielhaft, eine Vielzahl von Fragen, die man stellen und klären müsste, bevor man zu dem Ergebnis gelangt, dass die „Beweise erdrückend“ seien. Ich selbst habe zur Wahrheit dieses und der anderen Fälle keinen Zugang und weiß nichts besser als alle anderen Zeitungsleser. Die Zeit kann es – soweit erkennbar – allerdings auch nicht wissen, da sie wichtige Fragen offen lässt und Beweisergebnisse mit Gerüchten aufwertet („Es habe Gerüchte gegeben…; Im Team sei allen klar gewesen…“). Eine Journalistengruppe hat auch gar nicht die Möglichkeiten und Fähigkeiten, eine adäquate Beweiserhebung durchzuführen.
Der vielfach wiederholte Hinweis auf „eidesstattliche Erklärungen“ offenbart einen Versuch, die Leser zu täuschen. „Eidesstattliche Versicherung“ (EV) ist ein rechtstechnischer Begriff. Er gewinnt seine Bedeutung aus Paragraf 156 Strafgesetzbuch, der die Abgabe einer inhaltlich falschen EV unter Strafe stellt. Das gilt aber nur, wenn die Erklärung gegenüber einer Behörde abgegeben wird, die durch Gesetz zur Abnahme ermächtigt ist. Die Zeit-Redaktion ist eine solche Behörde ebenso wenig wie Rechtsanwälte. Die „eidesstattlichen Erklärungen“, über die bedeutsam berichtet wird, sind daher nicht mehr wert als das legendäre „Ehrenwort“.
4. Schuld und Unschuld
Für die Presse hat das nur mittelbar Bedeutung. Presseberichte können eine Person sozial schädigen, gar vernichten, sie in unverhältnismäßiger Weise für immer ausgrenzen und stigmatisieren. Deshalb ist die Presse verpflichtet, bei der Veröffentlichung von ehrverletzenden Beschuldigungen deutlich zu machen, dass es sich nicht um feststehende Tatsachen handelt. Man darf nicht öffentlich eine rechtlich definierte Schuld behaupten, die nicht auf legitime Weise bewiesen ist. Die Grenzen sind fließend; die Möglichkeiten der tendenziösen sozialen Vernichtung unter gleichzeitig treuherzigem Bekenntnis zur „Unschuldsvermutung“ unendlich.
Die mediale Abrechnung mit Wedel geht deutlich über das hinaus, was in einem Strafprozess von Belang wäre und der Beschuldigte sich dort gefallen lassen müsste. Seit Wochen beschäftigt man sich mit spekulativen Erörterungen über seinen Charakter, hält ihm vor, dass er eine künstliche Gesichtsbräune, eine ebensolche Dauerwelle, ein „Bärtchen“ sowie eine Neigung zu unangemessen jugendlich-virilem Auftreten habe, erwähnt im Zeit Magazin, es habe „Plagiats-Vorwürfe“ gegen ihn gegeben, und er habe einst eine (einverständliche) „Ménage a trois“ geführt. Aus allen Ecken springen Kronzeugen hervor, denen Geschichten über Wedels Persönlichkeitsstörungen, Fehler, Peinlichkeiten und Unverschämtheiten einfallen. Aus einem Fundus von 160 – bislang überwiegend unbekannten – Leumundszeugen bedient die Zeit sich und das Publikum mit „Geschichten“ über den Beschuldigten. Dieser, so wird mit dem Unterton der Entrüstung berichtet, habe, statt sich der öffentlichen Vernehmung zu stellen, „sich in ein Krankenhaus begeben“. Da tropft der Jagdeifer auf der Fährte des Verurteilten, der sich frecherweise der Vollstreckung entzieht. Nicht jeder, auch nicht jeder Verdächtige hält es aus, wenn das ganze Leben auf einen Schlag vernichtet wird.
Die Gefahr dieser maßlosen Form liegt in der Natur der (medialen) Sache und müsste deshalb intern besonders sorgfältig kontrolliert werden. Denn wenn ein ordentliches justizielles Verfahren nicht (mehr) möglich ist, bleiben nur diese Mittel übrig, wenn man zur Verurteilung gelangen will. Und mit jedem Schritt, den eine Redaktion in diese Richtung macht, wird die Umkehr schwieriger: Was für ein Desaster, wenn eine der Beschuldigungen widerlegt würde! Das ist das Problem, das entsteht, wenn man Polizist, Staatsanwalt, Richter, Systemerklärer und Rechtspolitiker sein will: Alles zugleich und in einer Redaktion.
5. Das Sternchen-System
Ob die Autoren der Berichte überzeugt sind, hat keine Bedeutung in dem Teil der Wirklichkeit, in dem es auf erdrückende oder nicht erdrückende Beweise tatsächlich ankommt, also der rechtsstaatlichen Überprüfung nach gesetzlichen Kriterien und Maßstäben. Über diese entscheidende Hürde kommt ein Journalist nicht hinweg, selbst wenn er noch so oft versichert, er sei sich sicher. Die einzige Legitimation, auf welche sich die Beschuldigung, ein Dritter sei ein Verbrecher, stützen und von der Kakophonie der „Alternative Facts“ absetzen kann, ist die Einhaltung von gesetzlich vorgesehenen Formen und Verfahren der Feststellung. An dieser Anforderung scheitert die öffentliche Beweisaufnahme im Tribunal gegen Wedel. Dass dieses (notwendige) Scheitern der Ambition von Protagonisten wie Frau Wahba dann wiederum als Indiz dafür vorgebracht wird, dass man das illegitime Ziel gar nicht habe verfolgen wollen, ist nur eine zusätzliche Pirouette.
Damit zum Kern der Dinge, nämlich zum „System“: Ein „System des Schweigens“ wird es allenthalben in der Presse genannt. Zunächst einmal müsste geklärt werden, über was systematisch geschwiegen wurde, wird oder werden soll. Dies ist, so darf man den zahllosen Berichten entnehmen, ein „System“ der Ausbeutung, des Missbrauchs von Macht und der Abhängigkeit. Das Wort „System“ kommt bedeutend daher; man wüsste gern was damit konkret gemeint ist; „Geschichten“ und „Überzeugungen ersetzen das nicht.
Im Jahr 1961 wurde in Deutschland ein Film mit dem Titel aufgeführt: „Deutschland Deine Sternchen“ (Regie: Edwin Sbonek). Es handelte sich um die „Verfilmung“ einer gleichnamigen Artikelserie von Will Tremper im stern (Untertitel: „Erfahrungen in einer verrotteten Industrie“; siehe auch Tremper in Zeit, 30. September 1966). Zur Film-Handlung konnte man damals in einer Kritik des Spiegel lesen: „Einige hinreichend bekannte Pikanterien aus Star- und Starlet-Schicksalen wurden zu einer larmoyanten Chronik über die schlimmen Usancen mancher Kinobosse verwoben“ (Spiegel Nr. 13/1962). Interessant! Aufklärung (wie auch immer) über die „Usancen“ und das „System“ der Macht und ihres Missbrauchs in der Film-Industrie – 56 Jahre, bevor „das Thema nun Deutschland erreichte“, wie die Zeit in bescheidener Beschreibung ihrer Verdienste meint. Tremper schrieb 1966 in der Zeit, die „deutschen Sternchen“ seien allesamt „schnuppe“, einschließlich Maria Schell.
Das „Sternchen“ System ist eine wichtige Metapher und ein Schlüssel zum Verständnis: Die Abteilung „Stars und Sternchen“ ist bekanntlich eine Standard-Rubrik im Bereich “Vermischtes“, Ernährungsgrundlage für eine ganze Welt von Journalismus-Existenzen. Ohne Star keine Sternchen, und umgekehrt. Das einzig objektivierbare Kriterium des Sternchenseins ist seit jeher das Geld: Wer viel kriegt, kann ein Star sein, wer viel kriegen will, aber wenig kriegt, ist ein Sternchen. Das war’s schon. Es funktioniert, indem es Symbole unendlich reproduziert: Neid, Konkurrenz, und Kommunikation über Sexualität simuliert, wo Macht über Körper herrscht.
Für so genannte Sternchen halten die Massenmedien seit jeher die Vernichtungs-Maschine bereit, die die Träume des Starseins in die Welt der Supermarktkasse und des Dschungelcamp zurückholt: Wenig Geld für harte Arbeit. Hierher kommen die „Sternchen“, hierhin fallen sie zurück, sobald sie als VersagerInnen entlarvt sind. „Das 24jährige Sternchen“, so lasen wir tausendmal unter den einschlägigen Fotos, „ging nach Hollywood“, konnte dort aber keinen Produzenten überzeugen. (Fast) alle so genannten „Sternchen“, von denen ich jemals las oder hörte, waren weiblich (Ausnahme: Zeit, 1. 3. 2001). Noch die spießigste „Moderatorin“, die durchs Fernsehstudio stöckelt, schwatzt verächtlich über „Sternchen“. Das ist kein Zufall, und auch nicht nur ignorante Kleinkariertheit. Die verächtliche Kategorie wird mit besonderem Nachdruck von Frauen auf Frauen angewandt, und stets mit sexualisiertem Unterton. Niemand nennt eine Frau „Sternchen“, die es nicht schafft, Abteilungsleiterin zu werden.
Sternchen ist man nie selbst; es sind stets die anderen. Ihre begriffliche Existenz ist weithin sexualisiert und moralisch unterfüttert. Sie sind in der Fremddefinition charakterlich zweifelhafte Personen, die ihre Moral, Überzeugungen, Körper, vor allem eine symbolisierte sexuelle Willfährigkeit auf dem Markt anbieten und verkaufen, um Ruhm und Geld zu erlangen. Sie tragen den Geruch der Gelegenheits-Prostitution schon im Namen.
Verächtlich sind aber vor allem diejenigen, die es schreiben, reden, anwenden. Ob jemand Star oder Sternchen ist, mächtig oder machtlos, entscheidet nicht die betroffene Person, sondern entscheiden die jeweils anderen. Die Presse wiederum erschafft dieses System der Niedrigkeit, und lebt davon. Zwischen den imaginär-fantasierten Existenzen erschafft sie die magischen Schubladen von Aufstieg und Fall, Verachtung und Verehrung, über welche sie alsdann berichtet.
Die Film- und Theaterkunst lebt per definitionem davon, dass sie öffentlich ist oder dies zumindest imaginiert. Diese Öffentlichkeit besteht aus Zuschauern und Kommunikation, aus Gemeinsamkeiten des „Glaubens“ an die immanenten Regeln und Bedeutungen. Nicht der „Star“ schafft sich Öffentlichkeit, sondern diese erschafft die Stars, deren kollektive Verehrung und Bewunderung sie anschließend der individuelle Außerordentlichkeit einer idealisierten Person zuschreibt. Wer war die 29jährige Marlene Dietrich 1930 im „Blauen Engel“? Ein Star, der ein Sternchen spielte? Oder umgekehrt? Was taten die Varieté-Direktoren mit „Lola Lola“, und was die „Entdecker“ mit Frau Dietrich? Und was wurden sie alle? Frau Alice Schwarzer aus Köln, Sachverständige für Moral und Strafrecht, schrieb im Jahr 1993 – einem Jahr Wedelscher Übergriffe – über Marlene Dietrich: „Sie hat sich alle Frauen oder Männer genommen, auf die sie Lust hatte.“ Das war als höchstes Lob gemeint. Man sollte den Satz einmal probeweise in eine aktuelle Biografie des Regisseurs Wedel einbauen und warten, was dann passiert.
Zur Existenz von „Sternchen“ auch jenseits der Yellow Press kann man probeweise zwei allerneueste Quellen empfehlen, die das „System“ illustrieren. Die erste findet sich auf Zeit Online am 8. November 2017 unter der schönen Überschrift: „Porno-Sternchen muss runter von der Brust“. Es handelt sich um einen Bericht darüber, dass einer Fußballmannschaft untersagt wurde, Trikot-Werbung für die Internet-Seite einer „Porno-Sternchen“ genannten Frau zu machen. Die Schlagzeile „runter von der Brust“ reflektiert vermutlich die Potenz des #MeeToo-Journalismus, der sich zum Jahresende 2017 selbst „Thema des Jahres“ ernannte.
Die zweite Quelle ist noch tiefgründiger und stammt aus dem Zeit Magazin vom 15. Oktober 2017. Dort erschien der traurige Bericht eines sehr traurigen Autors über eine unermesslich traurige „Erotik-Messe“ in Berlin. Der Verfasser, ein augenscheinlich deprimierter Lyriker, veranschaulicht das Elend kommerzialisierter Sexualität wie folgt: „Vor der Halle 10 des Messegeländes, nicht weit vom Funkturm im Westen Berlins, steht ein Erotiksternchen in der Kühle des beginnenden Herbstes, es trägt nur einen Bikini, telefoniert und raucht dabei sein Schicksal auf Lunge. Unten gehen drei Männer breitbeinig über den Parkplatz (…) Das Erotiksternchen setzt ein phänomenal falsches Lächeln auf, macht einen geübten Knicks, dann wendet es sich ab. ‚Ja, supi, so machen wir es‘, sagt es leicht zitternd in sein Mobiltelefon…, ‚ich kauf dann noch was ein fürs Abendbrot‘.“
Dem Realitätsgehalt dieses Textes muss man nicht weiter nachspüren. Er ist hier zitiert, weil er gerade an dem medialen Ort erschien, an dem die Debatte über die systematische Erniedrigung von jungen, hoffnungsvollen Schauspielerinnen „in Deutschland ankam“, und weil er uns just an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt das bereits aus dem Jahr 1961 und allen Folgejahren vertraute „Sternchen“ erneut vorführt. Das System-Opfer heißt auch in der Zeit 2017 „Erotik-Sternchen“, sagt „supi“ und trägt „nur einen Bikini“, ist dem berichtenden Dichter also um mehrere Evolutionsstufen unterlegen. Deshalb heißt die zum Sternchen ernannte Frau „Es“. Vor der Messehalle steht „es“ wie auf dem Straßenstrich, „zitternd“, zugleich am Mobiltelefon Hausarbeit verrichtend und von „Brunftschreien“ missbraucht. Mit ein paar metaphorischen Pinselstrichlein wird seine Existenz auf ihren Kern reduziert: Verliererin.
6. System: Wer, Wie?
„Sternchen“ steht symbolisch in einem hochgradig sexualisierten hierarchischen Macht-System. Die Verwendung des begrifflichen Symbols repräsentiert daher in beispielhafter Weise die Struktur eines Zusammenhangs von Macht, Abhängigkeit und Missbrauch. Wenn man das System verstehen will, in welchem „die Frauen“ zu den Opfern wurden, als welche sie beschrieben werden, muss man klären, wer dieses System wie erschafft, aufrechterhält und ausbeutet.
Die in den Wedel-Enthüllungen „sprechenden Frauen“ sind als idealtypische Verkörperungen des „Sternchen“-Bildes inszeniert: Unerfahren, ambitioniert, mit in einem spezifischen Umfeld ungefestigter Position, aber hohen Träumen. Das Umfeld („Filmgeschäft“; Schauspielerei) ist besonders, weil dort berufliche Ungesichertheit typischerweise mit der Forderung nach extremer persönlicher Offenheit zusammentrifft. Schwer fassbare Ambivalenz: Nach wochenlangem Nachstell-Terror, sagt sie Zeugin G., den „das gesamte Team mitbekommen“ habe und sie in ständiger Angst vor Wedel lebte, sei sie mit ihm zunächst zum Abendessen und sodann auf sein Hotelzimmer gegangen, „aus Furcht, den Regisseur erneut gegen sich aufzubringen“.
Ein paar Fragen zu den Personen: Die reihenweise aufgeführten Leumunds- und Sekundärzeugen sind, folgt man den „erdrückenden Beweisen“ der Zeit, allesamt soziale Versager, auch wenn sie noch so bedeutsam aus ihren Agentur-Fotos blicken: Reihenweise berichten da Menschen, dass sie jahrelang Zeugen schwerer Übergriffe und dadurch verursachter Notsituationen wurden, ohne jemals einen Finger zur Hilfe gekrümmt zu haben. Am 25. Januar wird referiert, Schauspieler und Theatermitarbeiter seien anwesend gewesen, als Wedel eine Geschädigte vor ihren Augen so lange gedemütigt habe, bis sie auf der Bühne zusammenbrach, einen so genannten „Nervenzusammenbruch“ (was immer das sein mag) und später eine Fehlgeburt erlitt (von der recht deutlich insinuiert wird, sie sei von Wedel verursacht, also eine Quasi-Abtreibung gewesen). Alle Zeugen hätten dem untätig beigewohnt. Wenn das zutrifft, handelte es sich um eine grundsätzlich strafbare unterlassene Hilfeleistung, in jedem Fall aber um ein feiges und verächtliches Verhalten. Es ist bemerkenswert, dass Personen solchen moralischen Kalibers kritiklos als Zeugen präsentiert werden, die (nach 25 Jahren) tapfer „das Schweigen brechen“.
Interessant ist die Rolle und Darstellung der Geschädigten. In dem RBB-Interview vom 25. Januar antwortete Frau Wahba auf die Frage nach dem Grund der in dieser Form erfolgten Veröffentlichung: Hätte man etwa über die „Odenwald-Schule“ nicht berichten sollen? Diese Antwort ignoriert den Unterschied zwischen einem Verdachtsbericht und einem öffentlichen Tribunal und verdeutlicht darin die Veränderung des journalistischen Selbstverständnisses innerhalb weniger Jahre. Bemerkenswert ist auch hier wieder, dass erwachsene, gesunde, entscheidungs- und verantwortungsfähige Menschen, die in vielfältigen sozialen Beziehungen verantwortliche Entscheidungen treffen können und sich für einen komplizierten freien Beruf entschieden haben, in ihrer Opfer-Rolle notorisch mit kleinen Kindern gleichgesetzt werden, die einer institutionalisierten Struktur ohne Ausweg ausgeliefert sind.
In der heute üblichen Pathologisierung der (behaupteten, wirklichen und potenziellen) Opfer wird Erniedrigung wiederholt oder schon vorweggenommen: Sexuell motivierte Grenzüberschreitungen jedes Schweregrads werden ausnahmslos dargestellt als Untaten mit der geradezu zwangsläufigen Folge schwerer psychischer „Traumatisierungen“, Folgeschäden und biografischer Brüche. Unklarheiten der Darstellung werden zu Beweisen für deren Richtigkeit umgedeutet: Je schlimmer die Tat, desto weniger genau die Erinnerung, und umgekehrt: Gerade die Unplausibilität der Erinnerung soll das Kennzeichen höchster Plausibilität der Beschuldigung sein. So etwas geht vielleicht als therapeutisches Konzept, aber gewiss nicht als Beweiswürdigung in einem rechtsstaatlichen Verfahren.
Es ist unangemessen, erwachsene Menschen wie Kinder zu behandeln, für die es keinen Ausweg, keine Vertrauenspersonen, keinen Ansprechpartner gibt. Nicht jedes Opfer von sexuell motivierten Bedrängnissen wird psychisch krank oder ist „schwer traumatisiert“, hat „Martyrien“ und Leiden hinter sich, die sich von allen anderen Erlebnissen des Lebens qualitativ unterscheiden. Die populäre „Opfer“-Perspektive enthält Elemente einer sekundären Opfer-Erniedrigung. Die Pathologisierung des Erlebens und die Umdeutung von unklaren oder ambivalenten Motiven eigenen Handelns in irrationale Krankheits-Anzeichen sind Beispiele dafür.
7. Verklärung
Wer könnte es sein, der all die vielen tausend „Sternchen“-Opfer zu dem gemacht hat, was sie denen gelten, die sie als solche beschreiben? Wer sind die Mächtigen, die durch die Ställe schreiten und von tausend Hühnchen eines ins Töpfchen der Verwendbarkeit legen und den Rest ins Kröpfchen des Scheiterns? War es Herr Wedel, der das System erfand, oder könnte er nur dessen Parasit gewesen sein? Wer fährt die Ernte und die Profite des Systems ein? Und woraus bestehen diese Profite? Wir lesen und hören zu jeder Zeit, es handle sich um „die Bosse“ des Geschäfts, bevorzugt „alte“ geile Böcke, deren Profit in der Befriedigung sexueller Gier an jungen Frauen bestehe. Das ist, selbst wenn einiges dran sein mag, eine recht bescheidene Analyse. Sie wurde kürzlich dadurch entwertet, dass die Schauspielerin Deneuve und andere, weil sie eine mediale Denunziationskultur kritisierten, als „alte Frauen“ beschimpft wurden.
Die Zeit hatte früher auch andere Profiteure im Blick: „Steuern sparen mit Stars und Sternchen“ (26.9.1975). Verantwortliche und Nutznießer des Systems sind, offenkundig, die Medien selbst, und die Konsumenten als ihre notwendigen Tatgenossen. Ohne sie gibt es überhaupt kein „System“, über das man schweigen könnte. Die Selektionsmaschine zwischen Erfolg und Misserfolg, Verachtung und Bewunderung des Film-, Theater- und Modegeschäfts wird nicht in einer fremden Welt betrieben, über die Journalisten wie außenstehende Beobachter „berichten“ könnten. Sie wird vielmehr von ihnen selbst unterhalten und gepflegt: aktiv und aus eigenem Interesse. Jeder Skandal-Aufdeckung haftet daher stets ein Geruch von Unehrlichkeit an, wie den Klageliedern der Sportfunktionäre über das schreckliche und immer wieder neu überraschende Doping-System.
Die Geschichte vom „System des Schweigens“ ist daher allenfalls die halbe Wahrheit. Die heute ein Schweigen beklagen, haben nicht geschwiegen, sondern zu allen Zeiten das Erniedrigungs-System mit Dackelblick – mal moralisierend, mal bewundernd, mal hämisch, mal verächtlich – beschrieben und kommentiert. Man muss nicht weit zurückgehen: „Stars und Sternchen sind am Abend zur Verleihung des Film- und Fernsehpreises in die Hamburger Messehallen gekommen (und) „präsentierten sich Fans und Fotografen (…) Später erwartet wurden drei Hollywood-Stars: Jane Fonda, Nicole Kidman und Colin Farrell…“ Das stammt aus Zeit Online, vom 4.3.2017, unter der Schlagzeile „Stars und Sternchen bei der Goldenen Kamera in Hamburg“. Da ist der rote Tanzboden des „Systems“ hell erleuchtet ausgebreitet. Und „Schweigen“ ist wahrlich das Letzte, was in diesem System geschieht: Reality-Soaps übers „Sternchen“-Leben und –Sterben sind TV-Renner, und Frauen, die sich aus Not oder Blödheit öffentlich dazu zwingen lassen, lebende Regenwürmer zu schlucken und dabei ihre Brüste zu zeigen, kriegen drei Wochen Dauerpräsenz im Fernsehen und den Ehrentitel „Model“.
Nicht „die Bosse“, sondern die Medien haben die Erniedrigungs-Maschine erfunden, genutzt und aktiv betrieben. Sie haben die „Sternchen“, deren emotionale oder finanzielle Abhängigkeit und Gefügigkeit sie zum eigenen Ruhm aus dem Dunkel der Vergessenheit ziehen, höchstselbst in dieses Dunkel getrieben. Das „System“, welches sie zu entlarven behaupten, sind sie selbst. Auch deshalb erzeugt die atemlose Präsentation der Entlarvung ein ungutes Gefühl.
Das Lexikon des internationalen Films beschreibt den Film „Deutschland, Deine Sternchen“ übrigens wie folgt: „Ein Machwerk, das praktiziert, was es anderen ankreidet.“
Anmerkung der Redaktion: Gastbeiträge geben generell die Meinung des Autors wieder. Thomas Fischer war Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe. Bei Zeit Online schrieb er die viel beachtete Kolumne „Fischer im Recht“, die teilweise auch als Buch veröffentlicht wurde. Hier geht es zu Fischers Texten bei der Zeit. Nach dem Ende seiner Kolumne schreibt Thomas Fischer immer noch in unregelmäßigen Abständen für Die Zeit.