Ich blättere in dem gerade bei Hanser erschienenen Gedichtband „Asymmetrie“ von Adam Zagajewski, stoße auf das Gedicht „Rachmaninow“, lese, lege das Buch aus der Hand, gehe an meine Musikmaschine, höre Martha Argerich, wie sie 1982 zusammen mit Ricardo Chailly und dem Berliner Rundfunkorchester Rachmaninows 3. Klavierkonzert einspielte – und dies, weil ich bei Zagajewski lese:
Hörte ich früher das dritte Konzert, war mir noch nicht klar, dass diese Musik für Kenner zu konservativ sei, (ich wusste damals nicht, dass es in der Kunst außer Kunst auch Hass, fanatischen Streit gibt, Verurteilungen wie in der Zeit der Religionskriege:
In diesem Konzert hörte ich ein Versprechen der Dinge, die kommen würden, die Ankündigung eines schwierigen Glücks, der Liebe, eine Skizze der Landschaften, die ich noch kennenlernen sollte, eine Ahnung von Fegefeuer und Paradies, von Wanderung,und schließlich vielleicht auch von etwas wie Verzeihung.
Derweil ich jetzt höre, wie Martha Argerich das Konzert d-Moll interpretierte, bewundere ich ihr meisterhaftes Spiel, ihre Leidenschaft, ihre Inspiration, aber zugleich versucht der Junge, der ich einmal war, zu verstehen, nicht ohne Mühe, was sich erfüllt hat und was erloschen ist. Was lebt …
Das führt mich weit weg von Polen. Youtube treibt mich von dieser Aufnahme zu einer, bei der Rachmaninow selbst am Klavier sitzt und das ganze Konzert in elf Minuten weniger spielt. Was ist richtig? Es gibt kein richtig?
Ich mag die Argerich-Einspielung sehr und es fällt mir schwer, mich danach auf Rachmaninow, der alles viel weniger wichtig zu nehmen scheint, einzustellen. Als würde er – es kommt mir jedenfalls so vor – wie manche Autoren, bei ihren Lesungen, die „schönen Stellen“ überspielen, weil es ihm peinlich wäre, bei der eigenen Emphase erwischt zu werden. Aber so redet ein Ahnungsloser, der erst jetzt im hohen Alter sich wieder die Zeit nimmt fürs vergleichende Hören. Es wird ihm leicht gemacht: Das Internet stellt die unterschiedlichsten Aufnahmen zur Verfügung.
Und so dauert es eine Weile, bis ich alsdann weiter lese in Zagajewskis „Asymmetrie“.
Zitiert seien nun noch einige Zeilen aus Zagajewskis Gedicht zu seinem Besuch an Brechts Grab auf dem Friedhof an der Chausseestraße:
„Bertolt Brecht in der Ewigkeit“:
Du hast Ostdeutschland gewählt, doch für alle Fälle
Hast du den österreichischen Pass behalten.
Du warst ein vorsichtiger Revolutionär –
doch kann ein Oxymoron die Welt retten?
Du schriebst das Gedicht An die Nachgeborenen – auch die Zukunft
Wolltest du überreden. Aber die Zukunft ist vorbei.
Die Nachgeborenen kreisen gleichgültig zwischen Gräbern – wie Touristen
Im Museum, die hauptsächlich auf die Bildunterschriften schauen.
Es ist April, ein sonniger, kühler Tag, schwarze Schatten kleben
An den Grabsteinen, als wären die Spitzel unsterblich.
Einige seiner schönsten Gedichte erzählen von der Asymmetrie zwischen dem Sohn und seiner lange verstorbenen Mutter. „Das Wunderbare ist schüchtern geworden, es ist schwer zu finden, schwer zu erinnern, festzuhalten.“ Adam Zagajewski findet das Wunderbare im Alltäglichen und macht daraus große Poesie.
Adam Zagajewski, 1945 in Lemberg geboren, studierte Psychologie und Philosophie in Krakau, wo er auch heute lebt. Seit 2007 lehrt er regelmäßig an der University of Chicago. Er ist Autor zahlreicher Lyrik- und Essaybände sowie mehrerer Romane und wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Eichendorff-Literaturpreis (2014), dem Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste (2015), dem Leopold Lucas-Preis (2016), dem Jean Améry-Preis für Essayistik (2016) und dem Prinzessin-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur (2017).
Seit 2015 ist Adam Zagajewski Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Adam Zagajewski: Asymmetrie, Gedichte,
aus dem Polnischen von Renate Schmidgall,
Carl Hanser Verlag, München, 2017,
71 Seiten, 16 Euro