Derzeit wird das sonst so hofierte Europa der Regionen als drohende Kleinstaaterei diskreditiert und Tafelsilber aus dem Werteschrein der EU opportunistischem Kalkül geopfert: das nämlich bei anderer Gelegenheit geheiligte Selbstbestimmungsrecht von Völkern und Nationen. Alle relevanten EU-Staaten, die sich jetzt bedingungslos hinter die Disziplinierung Kataloniens durch eine konservative Minderheitsregierung in Madrid stellen, haben dieses Recht schon über das Prinzip der territorialen Unversehrtheit von Staaten gestellt, sofern ihnen das nützlich erschien. Das war so bei der Erosion der Sowjetunion, als Litauen, Lettland und Estland als Erste ausscherten und sich zu unabhängigen Republiken erklärten. Gleiches passierte auf der Schwelle zum jugoslawischen Bürgerkrieg. Kaum hatten sie der Föderativen Republik Jugoslawien den Rücken gekehrt, wurden Slowenien und Kroatien Anfang 1992 auf Drängen Deutschlands von der EU diplomatisch anerkannt. Die Gewaltexzesse besonders in Bosnien hat das seinerzeit mehr angefacht als eingedämmt.
Gleichsam war die Federführung der EU gesetzt, als im Februar 2008 die Republik Kosovo durch Abspaltung vom serbischen Staat entstand. Bis heute hat Spanien diesen Staat, der eher ein EU-Protektorat vorstellt, nicht anerkannt. Was einleuchtet, andernfalls wäre zu fragen, weshalb Madrid Basken und Katalanen verweigert, was es Kosovo-Albanern zugesteht.
Das unabhängige Kosovo finalisierte die territoriale Neuordnung Jugoslawiens. Es gab dafür ein genuines Interesse der in den 1990er Jahren noch weitgehend westeuropäischen EU. Serbiens postjugoslawische Geltungsmacht sollte ebenso beschnitten werden wie der Einfluss seines traditionellen Verbündeten Russland in Südosteuropa. Schließlich konnten die USA mit Camp Bondsteel im Kosovo eine Militärbasis errichten, die in dieser Gegend ihresgleichen sucht und mehr als eine Machtenklave ist.
Mit anderen Worten, es gab nach 1990 geopolitische Interessen in Westeuropa wie Nordamerika, denen der Wille zu Sezession und Selbstbestimmung durchaus entgegenkam. Dass sich dadurch Grenzen änderten, wurde nicht etwa als bedauerlicher Kollateralschaden empfunden, sondern war gewollt, weil sich dadurch Staaten veränderten, größer oder kleiner, stärker oder schwächer wurden.
Mithin empören sich die Falschen, werden auf Unabhängigkeit bedachte Katalanen beschuldigt, sie wollten neue Grenzen durch Europa ziehen. Der Vorwurf gründet zudem auf einer Lüge. Die bisherige Regionalregierung unter Carles Puigdemont hat sich ausdrücklich zum Verbleib in der EU bekannt, sollte man einst über den eigenen Staat verfügen. Was dann ja wohl die Anerkennung des Schengen-Systems einschließen dürfte.
04.Nov..2017, 16:55
Es wird gemeinhin noch nicht verstanden, dass ein Europa der Regionen statt der Nationen auf längere Sicht die Zukunft unseres Kontinent ausmachen dürfte, wenn überhaupt. Das aktuelle Buch von Robert Menasse ist gerade erst erschienen. Auch Ulrike Guérot, die Politikwissenschaftlerin, hat gerade Bemerkenswertes zum Thema zu sagen.
Zu derselben Seite der Medaille gehört, dass es einen wachsenden Rückzug ins Lokale geben wird, der längst begonnen hat. In einer italienischen Stadt vor Jahren und mit dem Namen Cittá Slow.
50 Großregionen statt 25 Nationen. So in etwa. Die EU-Kommission und der verdeckter und nationalinteressiert agierende EU-Rat handeln einseitig, obwohl sie sich offiziell nicht einmischen, wie sie sagen. Sie haben noch nicht erkannt, dass Sie die EU-Schaukel erneut falsch belasten.
Katalonien war im Widerstand gegen Franco im Spanischen Bürgerkrieg und danach ein Aktivposten. Jetzt rächt sich, dass das zum politischen Chauvinismus neigende Zentral- und Gesamtspanien seine schlimme Geschichte, die bis in die Mitte der 70er des letzten Jahrhunderts reichte, nicht aufgearbeitet hat.
Mit den besten Grüßen
Fritz Feder
05.Nov..2017, 17:23
Selbst nach der Übernahme der katalanischen Regierungs-Infrastruktur steigert sich die Repression ins Absurde. tagesschau.de zufolge ist gegen acht der vorgeladenen Minister sofort Untersuchungshaft verfügt worden. Gegen Carles Puigdemont und die vier derzeit in Belgien befindlichen Ex-Minister ist EU-Haftbefehl ergangen. Was passiert, wenn die Katalanen im Dezember wieder »falsch« wählen, steht in den Sternen.
Rational erklärbar ist das nicht. Würde die Rajoy-Regierung lediglich ein (aus ihrer Sicht) rationales Ziel ansteuern (die Einheit des spanischen Staates), wäre spätestens jetzt der Zeitpunkt da, die Lage mittelfristig zu befrieden und mittels Konzessionen zu versuchen, die aufgebrochenen Wunden zu heilen. Die Vorgehensweise der Rajoy-Regierung ist das Gegenteil davon. Sie hat in Katalonien nicht nur demokratische Standards außer Kraft gesetzt, sondern behandelt die Bürger der Region nunmehr auf die Art einer Kolonialmacht. Über den reinen Sieg in einer politischen Auseinandersetzung geht dies deutlich hinaus. Das Gebahren von Rajoy und seiner liberal-konservativ-neofalangistischen Regierungsclique zeigt, dass es nicht um Konfliktlösung geht, sondern vielmehr die imperiale Geste der Demütigung – den Stiefel im Genick des Unterworfenen.
Wäre dies eine innerspanische Angelegenheit, so wäre das alles schlimm genug. Erschwerend hinzu kommt, dass diese Außer-Inkraftsetzung demokratischer Grundregeln und der damit verbundene halbfaschistische Staatsnotstand von den maßgeblichen EU-Entscheidungsträgern und den großen Leitmedien hierzulande kritiklos begrüßt werden. Die Medien hierzulande hetzen wieder, manipulieren wieder und setzen ihre parteiischen Polit-Spins wieder ab wie zu den schlimmsten Zeiten der Ukraine-Krise. Jene Politiker, die sich von der Idee eines demokratischen Europas (falls sie diese je einmal geteilt haben sollten) innerlich verabschiedet haben, bereiten sich erkennbar auch außerhalb Spaniens auf den Notstand vor – auf Ausnahmegesetze, Suspendierung demokratischer Bürgerrechte und mehr.
Die demokratische Bewegung in den europäischen Ländern kann sich schon mal warm anziehen.
MfG, Mark Schenk
05.Nov..2017, 17:33
Die Katalanen sind Europäer, die Nationalisten sitzen in Madrid. Schon die Schotten wurden bei ihrem Unabhängigkeitsreferendum betrogen. Weil ihnen gedroht wurde, dass sie aus der EU fliegen, wenn sie für Unabhängigkeit stimmen, haben sie für „Remain“ gestimmt – dieses „Remain“ galt Europa und nicht Großbritannien. Auch auf der Insel gilt: Die Schotten sind Europäer, die Nationalisten sitzen in London – und die haben mit dem Brexit-Referendum die irrationale und gefährliche Spielart des Nationalismus gezeigt.
Gerhard Kaether