
Wolfgang Kraushaar, Politikwissenschaftler von der Hamburger „Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur“ „Die blinden Flecken der RAF“.
423 Seiten
Klett-Cotta Verlag
ISBN: 978-3608981407
Preis: 25,00 Euro
Das Deutschland der 1960er-Jahre diskutiert, sitzt, blockiert und protestiert – zumindest der junge Teil der Bevölkerung sorgt für Schlagzeilen. Der Vietnamkrieg und die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die NS-Vergangenheit und ihre Sünden, eine freie Sexualität und die Gleichberechtigung sowie die („Unter den Talaren, Muff von 1000 Jahren“) verkrusteten Strukturen in den Hochschulen – das sind die Themen, die die Studenten bewegen. Ihre Aktionen sind zunächst friedlich, experimentell und fröhlich. Als aber am 27. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration in Berlin erschossen wird, löst dies heftige Unruhen aus, Teile der Studentenbewegung radikalisieren sich. Für einige endet der Weg im Terror. Der „deutsche Herbst“ jährt sich zum 40. Mal. In den vergangenen 40 Jahren ist so viel dazu geforscht und geschrieben worden, dass man meinen könnte, es gebe keinen blinden Fleck mehr in dieser Geschichte. Doch Wolfgang Kraushaar, der seit Jahrzehnten zu 68er-Bewegung, Radikalisierung und RAF forscht und publiziert, hat ein neues Buch geschrieben: „Die blinden Flecken der RAF“.
Das verwundert: Gibt es in der Tat noch blinde Flecken in der Geschichte der RAF?

Das berühmteste Plakat der Studentenbewegung wurde am 9. November 1967 in Hamburg enthüllt. Die Aktion war der Auftakt zur großen Revolte – das Foto aus dem Audimax wurde zur Ikone.
Wolfgang Kraushaar: Es gibt unzählige blinde Flecke. Aber damit ist nicht gemeint, was man normalerweise damit assoziieren würde, nämlich die vielen ungeklärten Fälle. Was ich meine, ist etwas anderes, nämlich die analytischen blinden Flecke. Dass bestimmte Rollen, dass bestimmte Situationen und Faktoren nicht wirklich gut erhellt worden sind. Und dass es wichtig wäre, anlässlich dieses 40. Jahrestages, so etwas noch einmal aufzuwerfen.
Geben Sie uns dazu Beispiele. Ein Stichwort, über das ich bei Ihnen gestolpert bin, ist das „Schweigekartell“, dem sich die Ex-Terroristen immer noch verpflichtet fühlen. Ein Schweigekartell – immer noch? So lange danach?
Ja. Das konnte man ziemlich gut beobachten, als es 2010 zum Prozess gegen Verena Becker wegen ihrer mutmaßlichen Involvierung in die Ermordung des damaligen Generalbundesanwalts Siegfried Buback vor dem Oberlandesgericht Stuttgart gekommen war. Denn dort sind fast alle namhaften ehemaligen RAF-Mitglieder dazu gezwungen gewesen, als Zeugen aufzutreten – und es hat so gut wie niemand irgendetwas Sachdienliches beigetragen. Man hat sich zurückgehalten, hat bestenfalls Auskünfte zur eigenen Person gemacht.
Kann man diesen Korpsgeist irgendwie erklären? Warum halten diese Menschen, die doch mittlerweile sehr autarker Wege gehen, trotzdem zusammen wie Pech und Schwefel?
Das ist relativ leicht erklärbar: Denn in dem Augenblick, wo jemand beginnen würde auszupacken und andere zu belasten, müssten diejenigen befürchten, dass sie von der Gegenseite auch wiederum belastet werden würden. Und da es ja in vielen Fällen um Mordanschläge geht und solche Delikte nicht verjähren, wäre nicht auszuschließen, dass erneut ein Gerichtsverfahren eröffnet werden würde.
Als eine andere Hauptschwierigkeit bei der Aufklärung der RAF-Taten bezeichnen Sie in ihrem Buch die „Kollektivitätsannahme der Strafverfolger“. Was ist damit gemeint?
In Ihrem Buch schreiben Sie auch, dass die Geheimdienste scheinbar auch etwas zu verbergen haben: „Geheimdienste haben ja zunächst einmal eine Gemeinsamkeit mit terroristischen Organisationen: Sie versuchen im oder aus dem Verborgenen heraus zu operieren. Und diese Einstellung gilt zumeist auch für die Zeit danach.“ Da werden sich die Geheimdienste bei Ihnen ganz schön bedanken, wenn sie in einen Topf mit den Terroristen geworfen werden, oder?
Sie müssen sich Manches in dieser Hinsicht gefallen lassen, weil ich glaube, dass gerade der Übergang von einer Protestbewegung zu einer terroristischen Gruppierung sehr stark auch mit der Rolle von Geheimdiensten zu tun gehabt hat. Man denke an einen Mann namens Peter Urban, der der erste war, der in der West-Berliner Szene als ein Undercover-Agent des damaligen Landesamtes für Verfassungsschutz die entsprechenden Leute, die daran interessiert waren, mit Waffen und mit Sprengstoff versorgt hat. Man muss sich im Nachhinein fragen: Warum hat so jemand, der für ein Amt gearbeitet hat, so etwas getan? Das ist nicht so einfach zu beantworten, zumal derjenige irgendwann, als er 1971 dazu gezwungen war, als Zeuge vor Gericht auszusagen, verschwunden ist. Da haben wir ein echtes Problem: Wir wissen nicht, wie weit die Rolle gegangen ist und welche Rolle das insgesamt gespielt hat bei der Entstehung der RAF.
Das waren schon drei blinde Flecken, die Sie in Ihrem Buch aufzählen. Wie bringt das nun die historische Forschung weiter?
Sie zeigen in Ihrem Buch Parallelen, die öffentlich angestellt werden zwischen einem Terrorismus, den wir heute kennen, beispielsweise in Form von IS, und einem Terrorismus, der vor 40 Jahren stattgefunden hat unter dem Signum RAF. Das sind aber zwei vollkommen verschiedene Paar Schuhe, oder?
Genau darauf kommt es mir an. Im Laufe der letzten zwei Jahre ist dort sehr viel Hanebüchenes vertreten worden – auch in der Presse -, dass es eine zu enge Gleichsetzung zwischen dem IS und dem Linksterrorismus der RAF gegeben hat. Ich glaube, dass man da drastisch unterscheiden muss, weil man ansonsten die unterschiedlichen Wurzeln verkennt. Mir kommt es darauf an, nicht im Nachhinein die Verbrechen, die die RAF zwar zweifelsohne begangen hat, abzumildern, sondern sie besser zu verstehen. Und auch im Kontrastverständnis auch das, was der IS gemacht hat oder immer noch verübt, besser begreifen zu können. Und das kann man nur durch Vergleichsoperationen.