Wird darüber eigentlich genug disktuiert? Wie bei der NSU tun sich bei der gerade abgeschlossenen Untersuchung der Vorgeschichte des Berliner Weihnachtstattentats Abgründe auf: Ein V-Mann des Verfassungschutzes in NRW scheint den Attentäter Anis Amri zur Tat aufgefordert zu haben.
Und während Bundesländer wie Baden-Württemberg eilig Überwachungspakete auf den Weg bringen, in Bayern Gefährder für immer präventiv eingesperrt werden dürfen, die Handys von Geflüchteten gescannt werden, die intelligenten Videokameras anlasslos auf unschuldige Bürger draufhalten – zeigt sich erst einmal eines: Es war Behördenversagen. Alle Forderungen nach Massenüberwachung sind mithin eine arglistige Täuschung der Bürger.
Der Amri-Skandal, die getötete Frau im Tiergarten, aggressive Obdachlose, eine völlig überlastete Justiz: In der Hauptstadt verdichtet sich die Sicherheitsdebatte.

„Versagt in Berlin der Staat?“

Staatsversagen – ein großes, ein schweres Wort. Wer mit diesem Begriff einen Vorwurf benennt, muss sorgfältig die Dimension dessen bedacht haben, was er damit auslöst. Denn versagt der Staat, verletzt er damit wissentlich oder fahrlässig Grundpflichten gegenüber den Bürgern: ihnen Sicherheit zu geben, friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, Gesetzesbrüche zu ahnden, Kriminalität zu unterbinden. Sind die Vorgänge, die die Menschen in Berlin in diesen Tagen bewegen, zusammengenommen Indizien für ein Staatsversagen?
Der Attentäter vom Breitscheidplatz, der am 19. Dezember 2016 das Leben von zwölf Menschen auslöschte und 59 weitere verletzte, konnte sich über Monate hinweg in mehreren Bundesländern unter verschiedenen Identitäten bewegen, immer neue Straftaten begehen, von Nachbarn gegenüber der Polizei als gefährlicher Islamist bezeichnet werden, ohne dass er abgeschoben wurde. Und nun wissen wir, dass er von einem V-Mann der nordrhein-westfälischen Polizei zu seinem Mordanschlag mit einem Lastwagen angestiftet worden sein könnte. In Berlin wurden Akten über ihn verändert, frisiert, manipuliert. Aber der Berliner Innensenator sieht keinen Grund, den jüngsten Vorwürfen nachzugehen – der V-Mann arbeite ja für die nordrhein-westfälische Polizei.

 Der Justizsenator schiebt die Schuld auf den Vorgänger

Staatsversagen? Die Anlässe für diese Frage häufen sich. Im Tiergarten wird eine Frau beraubt und ermordet, von einem polizeibekannten 18-jährigen Tschetschenen. Aggressive Obdachlose, bei denen er lagerte, belästigen Parkbesucher, andere prostituieren sich, fast alle sind angeblich, weil EU-Ausländer, nicht abschiebbar. Die Bundespolizei im nahen Bahnhof Zoo hat zu wenig Personal, die Berliner Polizei ist überlastet, die Ordnungsämter des Bezirks sind, weil unbewaffnet, gegen gewalttätige, betrunkene oder zugedröhnte Männer ohne Chance. Außerdem haben sie schlicht Angst.

Ein Berliner Oberstaatsanwalt, Ralph Knispel, sagt öffentlich: „Der Rechtsstaat ist nicht mehr funktionsfähig.“ Die Staatsanwaltschaft, beklagt er sich, braucht dringend 50 weitere Stellen, aber nur 20 wurden genehmigt. Mehrere tausend Verfahren mussten eingestellt werden, weil es aus Personalmangel nicht möglich ist, im Rahmen der gesetzlichen Fristen Anklage zu erheben. So kommen Rechtsbrecher ohne Urteil frei, und begegnen in der Stadt vielleicht den einstigen Opfern, ohne dass ihre Schuld gesühnt wurde. Der amtierende grüne Justizsenator schiebt die Schuld auf den CDU-Vorgänger, der die Verantwortung bei der vorangegangenen rot-roten Regierung sieht.

227.000 Ausländer, die keinen Anspruch auf Asyl oder Bleiberecht haben, sind ausreisepflichtig. Zwar haben 160.000 von ihnen eine Duldung, aber bei 67.000 gibt es keine Erklärung dafür, warum sie noch nicht abgeschoben sind. Einige Bundesländer schaffen das. Im Fall des Attentäters vom Breitscheidplatz konstatierte der unabhängige Sonderermittler Bruno Jost „in fast allen Bereichen Fehler, Versäumnisse, Unregelmäßigkeiten, Mängel“. Die Abschiebung des Attentäters wäre möglich gewesen.

Wen wundert da der Zulauf zu einer rechtspopulistischen Partei? In keinem der aufgeführten Fälle hätte es einer Gesetzesänderung bedurft, um einen Missstand zu beenden. Die Exekutive hätte nur handeln, die Politik den nötigen Druck ausüben müssen. Staatsversagen? Urteile jeder selbst.

Mehr Videoüberwachung, neue Gefährdergesetze, Verschärfung des Asylrechts. Alles wurde gefordert in der Folge des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt in Berlin. Jetzt kommt raus, dass ein V-Mann den Attentäter offenbar angestachelt hat.

Das setzt der jetzt schon atemberaubenden Serie bekannt gewordener Fehler die Krone auf. Die endlose Kette von Pleiten, Pech und Pannen in Polizeien und Geheimdiensten wirft eine Frage auf: Warum wurde der aktenkundige Dealer und Dschihadist Anis Amri eigentlich nicht von den Behörden vor seiner Tat gestoppt?

Die Reflexe der Hardliner und Überwachungsideologen sind da natürlich anders gelagert: Keine 48 Stunden nach dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt sprach der CDU-Innenpolitiker Klaus Bouillon damals vom „Kriegszustand“. Hastig forderte er Hintertüren für WhatsApp, eine Senkung der Hürden bei der Telekommunikationsüberwachung, Langwaffen für die Polizei und Änderungen beim Trennungsgebot von Geheimdiensten und Polizei. Einmal alles bitte.

Und während Bundesländer wie Baden-Württemberg eilig Überwachungspakete auf den Weg bringen, in Bayern Gefährder für immer präventiv eingesperrt werden dürfen, die Handys von Geflüchteten gescannt werden, die intelligenten Videokameras anlasslos auf unschuldige Bürger draufhalten – zeigt sich erst einmal eines: Es war Behördenversagen. Alle Forderungen nach Massenüberwachung sind damit eine arglistige Täuschung der Bürger.

Es braucht Evaluation und Lernen aus Fehlern

Was wir in der Sicherheitspolitik brauchen ist Evidenz: Fakten, Einsichten, Beweise, Tatsachen. Genau diese werden im Wettstreit um die sicherste Sicherheit fast nie erbracht. Eine evidenzbasierte Sicherheitspolitik überprüft die vorhandenen Gesetze und Maßnahmen auf ihre Tauglichkeit für die Bekämpfung von Straftaten und Terror. Eine evidenzbasierte Politik überprüft, wie die eigenen Behörden arbeiten, welche Fehler sie machen und wie diese abgestellt werden können. Eine evidenzbasierte Sicherheitspolitik geht eben nicht dem niederen Instinkt des lauthals Sicherheit schreien und Grundrechte schleifen nach, sondern setzt die Evaluation aller Maßnahmen an vorderste Stelle. Und sie zieht vor allem Konsequenzen aus Fehlern.

Ginge es um Evidenz und nicht um eine pathologische Überbietungsideologie von Überwachung und Aufrüstung der Sicherheitsapparate, stünde das Modell V-Mann schon lange auf dem Prüfstand.

V-Personen sind ständige Informanten von Polizeien und Geheimdiensten, die, wie das Wort schon sagt, in enger Verbindung zur Behörde stehen und von dieser geführt werden. Sie handeln im Auftrag und nach den Vorgaben der Behörde, die sie führt. Dafür bekommen sie – auch wenn sie im Gegensatz zum verdeckten Ermittler nicht Teil der Behörde sind – eine Gegenleistung von dieser.

Der staatlich geführte V-Mann als Terrorhelfer

Die Liste der V-Mann-Skandale in der Bundesrepublik ist lang. 1968 besorgte ein V-Mann die Bombe für einen Anschlag auf ein jüdisches Gemeindehaus, 1978 sprengten V-Männer im Auftrag des niedersächischen Verfassungsschutzes ein Loch in die Justizvollzugsanstalt Celle, V-Männer verschiedener Behörden halfen der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Undergrund. Die Liste aus dem Ruder gelaufener Aktionen von V-Leuten lässt sich beliebig fortsetzen.

Sollte sich der V-Mann-Anstachler im Fall Amri als wahr herausstellen: Er passt perfekt zu den bisherigen Skandalen. Dabei darf es in einem Rechtsstaat nicht sein, dass vom Staat bezahlte V-Leute Straftaten begehen, zu Straftaten anstiften oder sich als Agent Provocateur betätigen. Doch erst im Jahr 2015 verabschiedete die Große Koalition ein neues Verfassungsschutzgesetz. Es regelt unter anderem, dass V-Leute stets straffrei bleiben, wenn sie milieuspezifische Straftaten begehen.

Es wird spannend zu sehen, was aus den Skandalen im Fall Amri folgen wird. Bleibt die Politik bei ihren alten Mustern, wird sie keine ernsthafte Evaluation anstrengen, sondern die Behörden mit mehr Geld, mehr Personal und mehr Befugnissen belohnen.

Mit mehr Sicherheit hat das dezidiert nichts zu tun.

Okt. 2017 | Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Zeitgeschehen | Kommentieren