Für die US-Amerikanerin Barbara Oakley war die Schulzeit grauenvoll. Ihre Eltern zogen berufsbedingt oft um und sie mit. Seattle, Boston, Los Angeles, eine Stadt in Georgia, ein Dörfchen in Texas und überall eine neue Schule. Zehn Umzüge hatte Oakley hinter sich, als sie 16 war. In den Fächern, die sie mochte, Sprachen, Geschichte, Kunst, kam sie trotzdem ganz gut hinterher. Aber Mathe und Physik? Den Anschluss hatte sie schon nach dem ersten Umzug verloren.
„Dass man Lernen lernen muss, weiß man erst, wenn man scheitert“, sagt sie heute. Zu zeigen, dass es geht, dass man alles lernen kann, was man will, ist heute ihre Lebensaufgabe. Aus dem Mädchen ohne Mathe-Talent ist eine Professorin für Ingenieurwissenschaften geworden – die kürzlich von der kanadischen McMaster University als Lernexpertin ausgezeichnet wurde, als herausragende Wissenschaftlerin für „Global Digital Learning“.
Ihr Onlinekurs „Learning How to Learn“, also lernen, wie man lernt, ist der erfolgreichste der Welt. Fast zwei Millionen Menschen haben ihn bisher auf Coursera absolviert dem Portal, auf dem Universitäten aus aller Welt eigene On linekurse anbieten. Oakley hat die Inhalte mit dem Neurowissenschaftler Terrence Sejnowski vom Salk Institute for Biological Studies in San Diego entwickelt. Noch immer gebe es viele Mythen darüber, was beim Lernen hilft, was schadet oder unnötig ist, sagen beide. Dabei wisse man inzwischen sehr genau, wie und warum Neues am besten im Gehirn gespeichert wird. Und welche Lerntechniken deshalb wirklich funktionieren, und zwar bei jedem.
Ein Fehler, den viele machen, ist zum Beispiel dieser: Sie strengen sich viel zu sehr und viel zu lange an beim Lernen. Sie brüten über einer Sache, die sie nicht verstehen, kämpfen mit Frust und Müdigkeit. Und zwingen sich trotzdem dazu, sich zu konzentrieren. Das ist quälend. Und für den Lernerfolg leider nur wenig hilfreich.
„Natürlich ist Konzentration wichtig und gut“, sagt Barbara Oakley. „Aber viele übertreiben es damit. Nicht jedes Lernen braucht Konzentration. Manches lernt man sogar erst, wenn die Konzentration weg ist.“ Das liegt daran, dass das Gehirn zwei ganz unterschiedliche Zustände hat – und man beide braucht, um etwas richtig zu lernen. Oakley nennt den einen den „fokussierten“, den anderen den „diffusen“ Zustand.
Im fokussierten Zustand konzentriert man sich auf ein Problem, eine neue komplizierte Formel zum Beispiel. Dann sind Gehirnareale direkt hinter der Stirn aktiv. Sie versuchen herauszufinden, wohin diese Formel gehören könnte. Je weniger Erfahrung das Gehirn aber mit dieser Art von Formel hat, umso schwieriger ist es, den richtigen Weg und Ort zu finden.
Wie eine kleine Rennmaus saust die Information dann hin und her und versucht, das passende Regal in der riesigen Bibliothek des Gehirns zu finden. Dabei nimmt sie Wege, die sich für Formeln bewährt haben, ausgetretene Pfade. Klappt das nicht, setzt Frust ein. Man kommt einfach nicht dahinter, was die neue Formel bedeuten soll und was sie mit den Formeln zu tun hat, die man früher gelernt hat.
Wenn Eltern merken, dass ihren Kindern das beim Lernen passiert, dass sie frustriert sind, blockiert, dann sollten sie sie zu einer Pause ermuntern, sagt Barbara Oakley: kurz den besten Freund anrufen, eine Kleinigkeit essen, eine Runde auf dem Trampolin hüpfen. Denn in dieser Pause schaltet das Gehirn um in den diffusen Modus. Forscher sagen auch: Das Ruhenetzwerk wird aktiv.
Im diffusen Zustand sind viele Teile des Gehirns gleichzeitig aktiv, und so wandert die Information zwischen ihnen hin und her. Findet sie tatsächlich ein passendes Regal, dann ist eine ganz neue neuronale Spur entstanden: Nervenzellen, die sich vernetzen. Genau das ist Lernen. Der fokussierte Zustand bringt also einzelne neue Ideen und Informationen ins Gehirn, der diffuse Zustand bettet sie ein und verknüpft sie mit anderen, schon bekannten Dingen. „Das Geheimnis ist, regelmäßig zwischen den beiden Zuständen hin- und herzuschalten“, sagt Oakley. Der Maler Salvador Dalí hatte das perfektioniert: Wenn er bei einer Arbeit nicht weiterkam, setzte er sich in einen Stuhl, einen Schlüsselbund in der Hand, und döste weg in Tagträume. Schlief er ein, fiel der Schlüssel herunter. Dalí schreckte hoch – und hatte oft die Lösung für seine Blockade gefunden. Das funktioniert nicht nur für Künstler, sondern auch für Kinder.
Es gibt aber noch einen Grund, warum man unterbrechen sollte, sobald man gestresst ist oder abgelenkt. Für den fokussierten Zustand ist das sogenannte Arbeitsgedächtnis verantwortlich. Es sorgt dafür, eine neue Information mental festzuhalten und auf die Suche nach ihrem Platz zu schicken. Um höchstens vier Dinge gleichzeitig kann sich das Gehirn im fokussierten Zustand kümmern. Lernt man für die MathePrüfung und ist von einer Baustelle vor dem Fenster genervt, dann muss das Gehirn nicht nur den Lärm ausblenden, sondern auch den Ärger über den Lärm regulieren – das raubt dem Arbeitsgedächtnis gleich zwei Plätze seiner Kapazität. Wenn Kinder das Gefühl haben, sich nicht konzentrieren zu können, heißt das also meist: Ihr Arbeitsgedächtnis ist überfordert.
Nach der Pause im diffusen Zustand ist eine zarte neuronale Spur entstanden. Das merke man an dem guten Gefühl, die Formel und ihre Bedeutung verstanden zu haben, sagt Oakley. Das heiße allerdings noch lange nicht, dass man sie anwenden könne. „Viele denken: Wenn ich es verstanden habe, dann kann ich es auch. Aber verstehen ist leider nur ein Teil des Lernens.“ Schließlich nehme man ja auch nicht an, ein Lied singen zu können, nur weil man einmal die Melodie gesummt und dabei den Text gelesen habe.
Aber genau dieser Illusion unterliegen viele Schüler. Vor allem wenn sie mit Texten arbeiten. Wer unterstreicht, notiert und markiert, hat oft das Gefühl, alles verinnerlicht zu haben. Dass das nicht stimmt, konnten die Psychologen Jeffrey Karpicke und Janell Blunt von der Purdue University zeigen. Sie baten 80 Studenten, einen Text über Seeotter zu lesen und ihn sich zu merken. 20 Studenten sollten den Text in einer einzigen langen Einheit versuchen zu lernen, 20 weitere taten das Gleiche in einer Folge von vier kurzen Studieneinheiten. Weitere 20 sollten mit dem Text arbeiten, sich Notizen machen und Skizzen anfertigen.
Die letzten 20 sollten den Text dagegen nur einmal lesen und direkt danach aufschreiben, was sie behalten hatten. Dann lasen sie erneut und schrieben wieder sofort auf, woran sie sich erinnerten. Eine Woche später testeten die Forscher, wer am meisten behalten hatte. Drei Gruppen schnitten gleich ab, nur eine stach heraus. Es war die vierte Gruppe: Die Studenten hatten sich sowohl die meisten Fakten gemerkt als auch die meisten größeren Zusammenhänge.
Lesen und sofort wiederholen ist also die beste Methode, mit Texten umzugehen. Lesen und sofort anwenden die beste Art, Formeln auswendig zu lernen. Jedes Mal ist das ein kleiner Test, jedes Mal weiß man hinterher genau, was man kann – und was nicht. Auch wenn das viele Schüler nicht gerne hören: Das spricht für Hausaufgaben. Wenige, dafür täglich. Das, was man morgens in der Schule gelernt hat, nachmittags zu wiederholen ist lernpsychologisch gesehen ideal für das Gehirn.