Nida-Rümelin1 2Ob sich Julian Nida-Rümelin zu den Skandalen der Autobranche äußern möchte, darüber muss er –  der Ex-Minister, Philosoph und VW-Aktionär – nicht lange nachdenken.

Er erklärt, wie die Autobranche in den Ethik-GAU rutschte. Und warum er ihr beim Reinigungsbad helfen möchte:
„Passt thematisch bestens in die Zeit“. Im Gespräch wird schnell klar, warum.

Professor Nida-Rümelin, welchen philosophischen Text würden Sie den Herren Zetsche, Müller und Krüger in ihrer jetzigen Lage zur Lektüre empfehlen?

Sie ahnen es vielleicht: „Die Optimierungsfalle. Eine Philosophie humaner Ökonomie“.

3 000 Jahre Ideengeschichte – und Sie empfehlen Ihr eigenes Buch? Nein, das haben wir nicht geahnt.

Ich empfehle mein Buch, weil es Einsichten der Philosophie praktisch umsetzbar macht und sie mit ökonomischen Erkenntnissen zusammenbringt. Ich möchte zeigen, dass man nicht alle ethischen Fragen an den Gesetzgeber und die Strafverfolgungsbehörden delegieren kann. Meiner Erfahrung nach wissen die meisten Praktiker aus dem Management sehr wohl, wie wichtig ethische Regeln sind: Wahrhaftigkeit, Vertrauen, Verlässlichkeit, Integrität.

Damit scheint es in der deutschen Autoindustrie nicht weit her zu sein. Der Dieselskandal ist noch nicht überwunden, da bricht schon die nächste Enthüllung über die Branche hinein: der Verdacht, dass deutsche Autobauer sich jahrzehntelang abgesprochen und gegen das Kartellrecht verstoßen haben.

Der Dieselskandal bekommt durch die Kartellenthüllungen eine ganz neue Note. Bisher schien es ja so zu sein: VW-Manager haben festgestellt, dass es Emissionsnormen in den USA gab, die sie mit der vorhandenen Technologie nicht erfüllen konnten. Konzernchef Martin Winterkorn hat trotzdem Druck gemacht, also wurde betrogen, um die Konzernziele für Amerika zu erreichen. Wenn sich der Kartellverdacht bestätigt, war es aber ganz anders. Die Autokonzerne hatten die notwendige Technologie. Sie haben sich aber darauf verständigt, sich bei der Abgasreinigung auf einen Achtliterkanister für Harnstoff zu beschränken, um Platz im Kofferraum zu sparen – und 80 Euro pro Fahrzeug. Das ist der Skandal im Skandal. 80 Euro! Das wäre, wenn es sich bestätigt, eine Verantwortungslosigkeit, die atemberaubend ist.

Vielleicht liegt diese fehlende Verantwortung daran, dass man ganz andere Eigenschaften als die von Ihnen genannten Tugen den braucht, um in Konzernen nach oben zu kommen. Wie wäre es stattdessen mit Rücksichtslosigkeit und Opportunismus?

Es gibt tatsächlich das Phänomen, dass üble Charaktere erfolgreich sind, Narzissten ganz besonders – in der Politik, in oberen Managementbereichen, vielleicht auch in der Wissenschaft. Das kommt vor, aber man kann es nicht verallgemeinern. Erfolg haben in den meisten Fällen eher jene, die kooperieren, andere mitnehmen und gelegentlich sogar als Vorbild taugen.

Das heißt, der Homo Nida-Rümelinicus würde mit all seiner Tugendhaftigkeit in einem deutschen Konzern nicht von den Haien aufgefressen, sondern wäre irgendwann Chef der Haie?

Ich darf daran erinnern: Ich war selbst in einem Haifischbecken, nämlich in der Bundesregierung. Ich bin nicht untergegangen.

Sind Sie dort denn in Situationen gekommen, in denen Sie Ihre ethischen Prinzipien verraten mussten?

Diesen Grenzfall, bei dem man sich zwischen ethischen Grundsätzen und politischem Überleben entscheiden muss, hat es für mich nie gegeben. Es hat aber sicher Fälle gegeben, in denen es einfacher gewesen wäre, zynischer zu reagieren.

Zum Beispiel?

Oft stellt sich die Frage: Muss man seinen Gesprächspartnern klarmachen, welche langfristigen Ziele man verfolgt? Ich würde sagen: Ja. Als Staatsminister für Kultur gab es viele Reibereien mit Landesministern. Deshalb war es wichtig, offen seine langfristigen Ziele zu kommunizieren. Die Kulturstiftung des Bundes wäre nicht zustande gekommen, wenn der Wortführer der Unionregierten Länder, damals der CSU-Minister Zehetmair, nicht Vertrauen zu mir gefasst hätte. Aber die offene Kommunikation hatte auch Nachteile, etwa beim Umgang mit den Medien. Die politischen Beobachter erwarten eigentlich, dass die Politiker egoistische Motive haben. Ich habe dann den Fehler gemacht, darauf zu reagieren und zu sagen: „Moment, das ist doch gar nicht so.“ Das ist nicht immer gutgegangen.

Erleben wir einen Werteverfall in der Wirtschaft?

Sie werden überrascht sein, ich würde sagen, dass die ökonomische Praxis im Großen und Ganzen gut funktioniert – und zwar deshalb, weil Ethosnormen befolgt werden. Oft ganz unbewusst. Nehmen wir mal an, Sie rufen bei einem Bäcker an und fragen: „Können Sie mir zehn Baguettes zurücklegen, ich hole sie mir heute Abend ab?“ Der Bäcker kennt Sie nicht; wenn Sie nicht kommen, ist es für ihn ein Nachteil, weil er die Baguettes nicht mehr loswird – aber er macht es trotzdem. Das heißt, wir haben überall Vertrauensvorschüsse, und das funktioniert nur, weil wir uns aufeinander verlassen können. Ich glaube übrigens, dass die relative Stärke der deutschen Wirtschaft mit der Bedeutung von Mittelstandsbetrieben zusammenhängt.

Inwiefern?

Mittelstandsbetriebe sind oft paternalistisch, junge Leute finden das manchmal abstoßend. Aber Mittelständler achten nicht nur auf den Augenblickserfolg, sondern denken in Generationen: Das Unternehmen soll Bestand haben, wir haben einen Ruf zu verlieren. Das kann man alles belächeln. Aber es hat eine Wirkung. Man sollte die Imprägnierung der ökonomischen Praxis durch eine nicht niedergeschriebene, oft nicht einmal bewusste ethische Haltung nicht unterschätzen. Dieses Ethos erodiert von den Rändern. Es erodiert in der Internetkommunikation, wenn man nicht mehr weiß, mit wem man es zu tun hat. Es erodiert durch die Zockermentalität in der Finanzwirtschaft.

Und jetzt durch Kungelei in der Autoindustrie …

Es gibt tatsächlich das Phänomen, dass üble Charaktere erfolgreich sind, Narzissten ganz besonders.

Ja, wenn sich das bestätigt, wäre das ein Schock.

Müssen wir jetzt nicht eher die Regeln des Spiels verbessern, als an die Tugendhaftigkeit der Spieler zu appellieren?

Das ist ja der uralte Konflikt in der Wirtschaftsethik: Lässt sich ein System bauen, das unabhängig von den Charaktereigenschaften der Spieler funktioniert? Ich sage ganz klar: Nein. Ich habe nichts gegen Regeln und Sanktionen. Aber die Vorstellung, man könne ethisches Verhalten dadurch erzwingen, dass man es für die Menschen in jeder einzelnen Situation vorteilhaft macht, diese Regeln einzuhalten, ist geradezu beängstigend. Das ist ein Big-Brother-Modell der totalen Kontrolle, der unablässigen Steuerung und Sanktionierung. Auch Anreizmodelle wie Bonuszahlungen sind zumindest ambivalent, weil sie eine intrinsische Motivation „Ich will was Gutes machen“ durch eine extrinsische ersetzen. Das Ergebnis sind Angestellte, die nicht verlässlich sind, sondern sprunghaft und darwiportunistisch.

Darwi… was bitte?

Ein Begriff aus der Managementliteratur, der Leute beschreibt, die Darwinisten und Opportunisten in einem sind. Sie passen ihr Verhalten in jeder Situation so an, dass es ihrem individuellen Vorteil dient.

Kann man einen guten Charakter denn erlernen? Ist der nicht angeboren oder zumindest bereits in der Kindheit unwiderruflich geprägt worden?

Dass es diese angeborenen Prägungen gibt, weiß jeder, der Kinder hat. Aber ich bin überzeugt: Der Mensch ist frei, sich gegen seine Affekte zu entscheiden, wenn er das Wissen darüber hat, was ethisch richtig ist.

Brauchen wir also eine fundamentale Reform der ökonomischen Ausbildung, einen stärkeren Ethikbezug?

Wenn man jungen Menschen in BusinessAdministration-Kursen erzählt, die einzige Form des rationalen Handelns ist die Optimierung des eigenen Vorteils, ganz egal, was das für andere bedeutet, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn diese Menschen, konfrontiert mit ganz neuen Einkommensmöglichkeiten in Form von Boni-Systemen, hohe Risiken eingehen und sich um die Folgen nicht kümmern. Die Antwort auf Ihre Frage lautet also: Ja.

Die Ökonomie ist doch gar nicht so blind für dieses Problem des Kurzfristdenkens, wie Sie suggerieren. Sie behilft sich mit der Spieltheorie und sagt: Wenn ein Spiel oft genug wiederholt wird, ist es rational, kooperativ zu sein.

Und Sie? Nida-Rümelin4Sie spielen auf die Axelrod-Lösung an: die Konvergenz zwischen Eigeninteresse und Kooperationsbereitschaft. Diese funktioniert aber nur, wenn es potenziell unendlich viele Spielrunden gibt. Sonst ist es nämlich rational, bei der letzten Spielrunde unkooperativ zu sein. Und damit auch schon bei der vorletzten, der vorvorletzten und so weiter. Also nie. Kein Fortschritt. Das Problem der Axelrod-Lösung ist, dass es Unendliches in unserer Welt nicht gibt – und im Geschäftsleben schon gar nicht, wo die Interaktionspartner ständig wechseln. Gerade dort sind bestimmte Grundregeln des anständigen Kaufmanns umso wichtiger.

Liegt das Problem vielleicht darin, dass sich die mutmaßlichen Kartellabsprachen der Autokonzerne für die Täter gar nicht illegal angefühlt haben? Die Manager taten ja nur, was Sie einfordern: Sie kooperierten, entwickelten Vertrauen zueinander, dachten langfristig.

In der Tat muss man da genau hinschauen. Ein Beispiel: Angenommen, die deutschen Fleischproduzenten würden sich darauf verständigen, aus ethischen Gründen nur noch Fleisch aus artgerechter Tierhaltung anzubieten. Damit würde das Fleisch in Deutschland teurer, vermutlich würde das Kartellamt einschreiten, aber es wäre für mich aus ethischen Gesichtspunkten völlig in Ordnung.

Es gibt also gute und schlechte Kartelle?

Absolut. Es gibt gute und schlechte Kooperation aus ethischer Sicht.

Aber dadurch bringen wir doch den Manager in eine unmögliche Lage. Er muss ständig entscheiden, ob das abstrakte und ja auch höchst subjektiv definierte Gemeinwohl es rechtfertigt, eine bestimmte Kooperation einzugehen – oder ob es sich um ein illegales Kartell handelt.

Nun ja, so subjektiv ist da längst nicht alles. Nehmen wir Korruption. Es gab bis vor kurzem die weitverbreitete Ansicht bis hinein ins Finanzministerium, dass Schmiergeldzahlungen im Ausland okay sind und man sie daher sogar von der Steuer absetzen können sollte. Unterdessen hat sich da die Meinung völlig gedreht. Wenn sich deutsche Unternehmen einigen, dass sie sich mit Bestechung im Ausland keine Konkurrenz machen, dann würden wir das doch als humanen Fortschritt interpretieren.

Schon bei Ihrem Fleischbeispiel ist es nicht mehr so eindeutig. Höhere Standards heben den Preis und schränken die Konsummöglichkeiten von ärmeren Menschen ein. Was zur Frage führt: Überwiegt das Tierwohl oder die Verbraucherinteressen?

Es gibt Grenzfälle, ganz klar …

… die in der Autoindustrie mutmaßlich bei weitem überschritten wurden. Hat diese Branche ein systematisches Ethikproblem?

Ich bin selber, wenn ich das sagen darf, ein – sehr kleiner – Aktienbesitzer von Volkswagen. Und zwar als Trotzreaktion auf den Dieselskandal. Ich habe mir gesagt: „Ja, da haben sie ziemlichen Mist gebaut, aber insgesamt ist das doch ein anständiges Unternehmen.“ Aber die Kette von Skandalen, die wir nun in der Autoindustrie erleben, lässt mich doch vermuten, dass es um das Ethos dieser Unternehmen nicht gut bestellt ist. Meine vage Vermutung ist, dass es sich um Imperien handelt, die nicht mehr den Eindruck hatten, dass sie wirksam kontrolliert werden – und dann allmählich ethisch verlotterten.

Bestand diese Einstellung zu Recht? Wurde wirklich zu wenig kontrolliert?

Die systematische, über Jahre aufgebaute Verletzung von Normen, die offenbar für Fachleute leicht erkennbar gewesen ist, lässt das vermuten. Möglicherweise hat sich in den Chefetagen der Autokonzerne die Einstellung ausgebreitet: „Von uns wird erwartet, dass wir gute Geschäfte machen und Arbeitsplätze schaffen, aber Normen – davon sind wir weitgehend freigestellt. Weil wir für die deutsche Wirtschaft ein derart zentrale Rolle spielen.“

Dafür spricht, dass der Dieselskandal in den USA aufgedeckt wurde, wo die Nähe zwischen deutscher Autoindustrie und Regulierungsbehörden nicht bestand.

Genau. Mit den Kunden der Autokonzerne wurde ein böses Spiel getrieben. Erst hieß es: „Diesel ist gut wegen des Klimawandels.“ Also kauft sich der anständige Mensch einen Diesel. Und dann, potz Blitz, heißt es: „Es gibt Fahrverbote in den Innenstädten, denn es hat sich herausgestellt, das sind alles Dreckschleudern.“ Das ist schon an Zynismus nicht zu überbieten. Inwieweit die Politik da eine Mitschuld trägt, ist noch zu klären.

Sie klingen entrüstet. Fahren Sie Diesel?

Nida-Rümelin2Nein, ganz schlimm: Ich fahre einen Alpha Romeo Giulietta, Benziner. In der öffentlichen Diskussion geht es ja oft völlig durcheinander. Beim Diesel geht es um Stickoxide. Bei Benzinern um Treibhausgase. Und bei den Elektrofahrzeugen ist auch nicht alles sauber. Die Herstellung der Batterien erfordert einen Energieaufwand, der sieben bis acht Jahre Fahrt mit einem Benziner entspricht. Und die Entsorgung ist da noch gar nicht eingerechnet, ganz zu Schweigen von der Herkunft des Stroms, mit dem die Batterien geladen werden. Das heißt, aktuell ist vermutlich von den drei Autotypen Benziner, Diesel und Elektro das Elektroauto der klimaschädlichste.

Die Autoindustrie ist die Vorzeigebranche der deutschen Wirtschaft. Beschädigen die Skandale den Ruf der Deutschland AG?

Das Image ist beschädigt, keine Frage. Aber grundsätzlich gilt: Deutschland behauptet sich im internationalen Vergleich sehr gut. Und das, obwohl die Stimmung in der internationalen Ökonomie eher gegen Deutschland gerichtet ist. Gegen den Austeritätskurs der Bundesregierung, gegen das Mitbestimmungsmodell auf Betriebsebene.

Die Autoskandale zerstören Vertrauen und schüren Wut. Fürchten Sie, dass sich der Zorn über „die da oben“, die unantastbaren Regelverletzer, bei uns mit ähnlicher Wucht entladen könnte, wie es in den USA mit der Wahl von Donald Trump und in Großbritannien mit dem Brexit der Fall war?

Die Leute fühlen sich betrogen, die Ressentimentstimmung nimmt sicher zu. Aber: Die deutsche Situation ist im Vergleich zu anderen Ländern der Welt günstig. Unsere neue Rechte, die wir in Gestalt der AfD haben, ist viel ziviler als die Le-Pen-Rechte in Frankreich, die Lega Nord in Italien oder Wilders in den Niederlanden. Das Erstaunliche ist, dass diese späte Nation, diese späte Demokratie Deutschland stabilere Institutionen hat als fast alle anderen Industrieländer. Ich bin skeptisch gegenüber den alarmistischen Tönen, die immer wieder zu hören sind: „Auch in Deutschland driftet alles ab.“ Tatsächlich gibt es wenig Sozialstaaten, die noch so gut funktionieren wie unserer.

Grundsätzlich gilt: Deutschland behauptet sich im internatio-nalen Vergleich sehr gut.

In den Nullerjahren stand auch Großbritannien gut da. Die Dienstleistungsgesellschaft galt als Zukunftsmodell. Dann kam die Finanzkrise, dann die Entdeckung, dass durch das Investmentbanking kaum etwas Nachhaltiges geschaffen wurde. Droht uns so etwas mit der Autoindustrie?

Müssen wir jetzt nicht eher die Regeln des Spiels verbessern, als an die Tugendhaftigkeit der Spieler zu appellieren?

Das ist ja der uralte Konflikt in der Wirtschaftsethik: Lässt sich ein System bauen, das unabhängig von den Charaktereigenschaften der Spieler funktioniert? Ich sage ganz klar: Nein. Ich habe nichts gegen Regeln und Sanktionen. Aber die Vorstellung, man könne ethisches Verhalten dadurch erzwingen, dass man es für die Menschen in jeder einzelnen Situation vorteilhaft macht, diese Regeln einzuhalten, ist geradezu beängstigend. Das ist ein Big-Brother-Modell der totalen Kontrolle, der unablässigen Steuerung und Sanktionierung. Auch Anreizmodelle wie Bonuszahlungen sind zumindest ambivalent, weil sie eine intrinsische Motivation „Ich will was Gutes machen“ durch eine extrinsische ersetzen. Das Ergebnis sind Angestellte, die nicht verlässlich sind, sondern sprunghaft und darwiportunistisch.

Darwi…  bitte was?

Ein Begriff aus der Managementliteratur, der Leute beschreibt, die Darwinisten und Opportunisten in einem sind. Sie passen ihr Verhalten in jeder Situation so an, dass es ihrem individuellen Vorteil dient.

Kann man einen guten Charakter denn erlernen? Ist der nicht angeboren oder zumindest bereits in der Kindheit unwiderruflich geprägt worden?

Dass es diese angeborenen Prägungen gibt, weiß jeder, der Kinder hat. Aber ich bin überzeugt: Der Mensch ist frei, sich gegen seine Affekte zu entscheiden, wenn er das Wissen darüber hat, was ethisch richtig ist.

Brauchen wir also eine fundamentale Reform der ökonomischen Ausbildung, einen stärkeren Ethikbezug?

Wenn man jungen Menschen in BusinessAdministration-Kursen erzählt, die einzige Form des rationalen Handelns ist die Optimierung des eigenen Vorteils, ganz egal, was das für andere bedeutet, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn diese Menschen, konfrontiert mit ganz neuen Einkommensmöglichkeiten in Form von Boni-Systemen, hohe Risiken eingehen und sich um die Folgen nicht kümmern. Die Antwort auf Ihre Frage lautet also: Ja.

Die Ökonomie ist doch gar nicht so blind für dieses Problem des Kurzfristdenkens, wie Sie suggerieren. Sie behilft sich mit der Spieltheorie und sagt: Wenn ein Spiel oft genug wiederholt wird, ist es rational, kooperativ zu sein.

Und Sie? Sie spielen auf die Axelrod-Lösung an: die Konvergenz zwischen Eigeninteresse und Kooperationsbereitschaft. Diese funktioniert aber nur, wenn es potenziell unendlich viele Spielrunden gibt. Sonst ist es nämlich rational, bei der letzten Spielrunde unkooperativ zu sein. Und damit auch schon bei der vorletzten, der vorvorletzten und so weiter. Also nie. Kein Fortschritt. Das Problem der Axelrod-Lösung ist, dass es Unendliches in unserer Welt nicht gibt – und im Geschäftsleben schon gar nicht, wo die Interaktionspartner ständig wechseln. Gerade dort sind bestimmte Grundregeln des anständigen Kaufmanns umso wichtiger.

Liegt das Problem vielleicht darin, dass sich die mutmaßlichen Kartellabsprachen der Autokonzerne für die Täter gar nicht illegal angefühlt haben? Die Manager taten ja nur, was Sie einfordern: Sie kooperierten, entwickelten Vertrauen zueinander, dachten langfristig.

In der Tat muss man da genau hinschauen. Ein Beispiel: Angenommen, die deutschen Fleischproduzenten würden sich darauf verständigen, aus ethischen Gründen nur noch Fleisch aus artgerechter Tierhaltung anzubieten. Damit würde das Fleisch in Deutschland teurer, vermutlich würde das Kartellamt einschreiten, aber es wäre für mich aus ethischen Gesichtspunkten völlig in Ordnung.

Es gibt also gute und schlechte Kartelle?

Absolut. Es gibt gute und schlechte Kooperation aus ethischer Sicht.

Aber dadurch bringen wir doch den Manager in eine unmögliche Lage. Er muss ständig entscheiden, ob das abstrakte und ja auch höchst subjektiv definierte Gemeinwohl es rechtfertigt, eine bestimmte Kooperation einzugehen – oder ob es sich um ein illegales Kartell handelt.

Nun ja, so subjektiv ist da längst nicht alles. Nehmen wir Korruption. Es gab bis vor kurzem die weitverbreitete Ansicht bis hinein ins Finanzministerium, dass Schmiergeldzahlungen im Ausland okay sind und man sie daher sogar von der Steuer absetzen können sollte. Unterdessen hat sich da die Meinung völlig gedreht. Wenn sich deutsche Unternehmen einigen, dass sie sich mit Bestechung im Ausland keine Konkurrenz machen, dann würden wir das doch als humanen Fortschritt interpretieren.

Schon bei Ihrem Fleischbeispiel ist es nicht mehr so eindeutig. Höhere Standards heben den Preis und schränken die Konsummöglichkeiten von ärmeren Menschen ein. Was zur Frage führt: Überwiegt das Tierwohl oder die Verbraucherinteressen?

Es gibt Grenzfälle, ganz klar …

… die in der Autoindustrie mutmaßlich bei weitem überschritten wurden. Hat diese Branche ein systematisches Ethikproblem?

Ich bin selber, wenn ich das sagen darf, ein – sehr kleiner – Aktienbesitzer von Volkswagen. Und zwar als Trotzreaktion auf den Dieselskandal. Ich habe mir gesagt: „Ja, da haben sie ziemlichen Mist gebaut, aber insgesamt ist das doch ein anständiges Unternehmen.“ Aber die Kette von Skandalen, die wir nun in der Autoindustrie erleben, lässt mich doch vermuten, dass es um das Ethos dieser Unternehmen nicht gut bestellt ist. Meine vage Vermutung ist, dass es sich um Imperien handelt, die nicht mehr den Eindruck hatten, dass sie wirksam kontrolliert werden – und dann allmählich ethisch verlotterten.

Bestand diese Einstellung zu Recht? Wurde wirklich zu wenig kontrolliert?

Die systematische, über Jahre aufgebaute Verletzung von Normen, die offenbar für Fachleute leicht erkennbar gewesen ist, lässt das vermuten. Möglicherweise hat sich in den Chefetagen der Autokonzerne die Einstellung ausgebreitet: „Von uns wird erwartet, dass wir gute Geschäfte machen und Arbeitsplätze schaffen, aber Normen – davon sind wir weitgehend freigestellt. Weil wir für die deutsche Wirtschaft ein derart zentrale Rolle spielen.“

Dafür spricht, dass der Dieselskandal in den USA aufgedeckt wurde, wo die Nähe zwischen deutscher Autoindustrie und Regulierungsbehörden nicht bestand.

Genau. Mit den Kunden der Autokonzerne wurde ein böses Spiel getrieben. Erst hieß es: „Diesel ist gut wegen des Klimawandels.“ Also kauft sich der anständige Mensch einen Diesel. Und dann, potz Blitz, heißt es: „Es gibt Fahrverbote in den Innenstädten, denn es hat sich herausgestellt, das sind alles Dreckschleudern.“ Das ist schon an Zynismus nicht zu überbieten. Inwieweit die Politik da eine Mitschuld trägt, ist noch zu klären.

Sie klingen entrüstet. Fahren Sie Diesel?

Nein, ganz schlimm: Ich fahre einen Alpha Romeo Giulietta, Benziner. In der öffentlichen Diskussion geht es ja oft völlig durcheinander. Beim Diesel geht es um Stickoxide. Bei Benzinern um Treibhausgase. Und bei den Elektrofahrzeugen ist auch nicht alles sauber. Die Herstellung der Batterien erfordert einen Energieaufwand, der sieben bis acht Jahre Fahrt mit einem Benziner entspricht. Und die Entsorgung ist da noch gar nicht eingerechnet, ganz zu Schweigen von der Herkunft des Stroms, mit dem die Batterien geladen werden. Das heißt, aktuell ist vermutlich von den drei Autotypen Benziner, Diesel und Elektro das Elektroauto der klimaschädlichste.

Die Autoindustrie ist die Vorzeigebranche der deutschen Wirtschaft. Beschädigen die Skandale den Ruf der Deutschland AG?

Das Image ist beschädigt, keine Frage. Aber grundsätzlich gilt: Deutschland behauptet sich im internationalen Vergleich sehr gut. Und das, obwohl die Stimmung in der internationalen Ökonomie eher gegen Deutschland gerichtet ist. Gegen den Austeritätskurs der Bundesregierung, gegen das Mitbestimmungsmodell auf Betriebsebene.

Die Autoskandale zerstören Vertrauen und schüren Wut. Fürchten Sie, dass sich der Zorn über „die da oben“, die unantastbaren Regelverletzer, bei uns mit ähnlicher Wucht entladen könnte, wie es in den USA mit der Wahl von Donald Trump und in Großbritannien mit dem Brexit der Fall war?

Die Leute fühlen sich betrogen, die Ressentimentstimmung nimmt sicher zu. Aber: Die deutsche Situation ist im Vergleich zu anderen Ländern der Welt günstig. Unsere neue Rechte, die wir in Gestalt der AfD haben, ist viel ziviler als die Le-Pen-Rechte in Frankreich, die Lega Nord in Italien oder Wilders in den Niederlanden. Das Erstaunliche ist, dass diese späte Nation, diese späte Demokratie Deutschland stabilere Institutionen hat als fast alle anderen Industrieländer. Ich bin skeptisch gegenüber den alarmistischen Tönen, die immer wieder zu hören sind: „Auch in Deutschland driftet alles ab.“ Tatsächlich gibt es wenig Sozialstaaten, die noch so gut funktionieren wie unserer.

Grundsätzlich gilt: Deutschland behauptet sich im internatio-nalen Vergleich sehr gut.

In den Nullerjahren stand auch Großbritannien gut da. Die Dienstleistungsgesellschaft galt als Zukunftsmodell. Dann kam die Finanzkrise, dann die Entdeckung, dass durch das Investmentbanking kaum etwas Nachhaltiges geschaffen wurde. Droht uns so etwas mit der Autoindustrie?

Es kann ein bitteres Erwachen geben. Die Autokonzerne agieren hilflos, sie reagieren nur auf Herausforderungen. Stichwort Tesla. Sie ahmen nach, statt mit all der technologischen Potenz, die wir in Deutschland haben, einen eigenen Weg einzuschlagen. Es gibt da eine bemerkenswerte Hasenfüßigkeit.

Manager sind eben oft keine Gestalter, sondern Getriebene.

Was hier wohl eine Rolle spielt, ist, dass die riesigen Apparate der multinationalen Konzerne kaum noch steuerbar sind. Es gilt in Konzernen ja als modern, Hierarchieebenen einzudampfen und schlanke, teilautonome Bereiche zu schaffen. Das läuft ja anders als in Ministerien, wo ganz klar ist, wer für was verantwortlich zeichnet, welche Akte über welchen Schreibtisch gelaufen ist. Das habe ich in meiner Rolle als Kulturstaatsminister im Kanzleramt selbst erlebt. Man muss jetzt darüber sprechen: Was ist eigentlich mit der Verantwortungsdiffusion durch Dezentralisierung? So sympathisch es klingt, wenn jeder im Unternehmen seine Gestaltungsspielräume hat: Am Ende ist niemand mehr zur Verantwortung zu ziehen.

Sie empfehlen ernsthaft das Kanzleramt als Managementmodell?

Nein, aber jedenfalls klare Verantwortungsstrukturen.

Das Drehbuch großer Wirtschaftsaffären kennen wir inzwischen. Den Konzernen drohen Geldbußen. Und die werden letztlich von den Aktionären bezahlt, nicht von den Managern. Müssen wir über schärfere Strafen nachdenken, vielleicht sogar Haftstrafen?

Ich bin skeptisch, dass härte Gesetze eine Verbesserung bewirken. Das beste Beispiel ist die Dieselkrise von VW in den USA. Allen Managern im Konzern muss eigentlich klar gewesen sein: In den USA wird kaum kontrolliert, aber wehe, wenn. Eine Regelverletzung wird unter Umständen extrem teuer. So ist es gekommen. Wie vorher auch bei Daimler wegen der Bestechung von Kommunalverwaltungen. Das heißt: Die Sanktionen waren hoch genug, aber sie haben nichts genützt. Ich habe daher auch Zweifel, ob ein Unternehmensstrafrecht weiterhilft. Praktiken wie die Installation einer Software, die dazu führt, dass der Motor sich auf dem Prüfstand anders verhält als auf der Straße, sollten für ein anständiges Unternehmen einfach nicht infrage kommen.

Sie waren ja in einem Ethikboard bei Daimler. Sind Sie jetzt wütend darüber, dass das Unternehmen sich mit Ihrem Namen geschmückt und ein ethisch sauberes Image verpasst hat?

Wut ist der falsche Ausdruck. Aber der seit 2010 leider belegte Vorwurf, dass Daimler systematisch Kommunen bestochen hat, um mehr Busse zu verkaufen, hat mich schon enttäuscht. Ich habe so etwas nicht für möglich gehalten, nicht bei Daimler. Das hat mich sogar noch mehr enttäuscht als der jetzige Kartellverdacht. Wir Philosophen haben manchmal so altmodische Begriffe: ein Purgatorium, ein Reinigungsbad. Da müssen die Autokonzerne jetzt durch, das wird viel Geld kosten und viel Renommee, aber es könnte einen Neubeginn ermöglichen.

Wenn Sie morgen einen Anruf von einem deutschen Autohersteller bekommen würden: „Professor Rümelin, helfen Sie uns durch das Purgatorium.“ Würden Sie annehmen? Und welche Empfehlungen würden Sie aussprechen?

Die Antwort wäre: Ja, mich interessiert die konkrete Praxis, nicht nur die luftige Höhe der Philosophie. Die Empfehlungen würden sich an Nelson Mandela nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis orientieren: erstens Wahrheit, zweitens Gerechtigkeit und drittens Verzeihen. Das bedeutet für die Autoindustrie: völlige Offenlegung der Vorgänge – und nicht nur dessen, was gerade nötig ist, um bei den Kartellbehörden gut rauszukommen. Zweitens Gerechtigkeit: Es muss Strafen geben, möglicherweise auch eine Verschärfung der Strafen durch den Gesetzgeber. Aber drittens: Verzeihen. Die Bereitschaft, wieder Vertrauen zu fassen und Vertrauen zu rechtfertigen in Gestalt einer ethisch akzeptablen unternehmerischen Praxis.

Hätten Sie nicht die Sorge, dass Ihr Name dabei missbraucht werden könnte?

Gremien, die am Rande stehen und keinen Impact entwickeln, machen keinen Sinn. Beratung ja, aber nur, wenn sie mit konkreten Einflussmöglichkeiten verbunden ist.

Werden Sie Ihre VW-Aktien jetztverkaufen?

Nein, die behalte ich, bis wir – hoffentlich bald – durch das Purgatorium durch sind.

Aber da war dann ja doch noch was – zu guter Letzt und live:
WISO im ZDF am Montag  31. Juli um 19.55: „Her Müller …? – Herr Müller: „Wir beantworten keine Frage“!
F. d. Richtigkeit: Jürgen Gottschling

 

Jul 2017 | Allgemein, Buchempfehlungen, Politik, Wirtschaft | Kommentieren