Wahrscheinlich tat er das – freilich ungesehen von der Öffentlichkeit – mit einem Augenzwinkern. Wenn sich nämlich einer wirklich stark gemacht hat für diese endlich zustande gekommene Entscheidung, dann war das Volker Beck. Die Grünen dankten ihm auch dies auf ihre Weise: Zur nächsten Bundestagswahl wurde er auf einen (beinahe?) chancenlosen hinteren Listenplatz gesetzt.
Wenn in Russland oder Uganda Gesetze verabschiedet werden, die Homosexuelle diskriminieren, dann sehen sich die Deutschen gerne als Führungsmacht der toleranten und aufgeklärten Weltgesellschaft. Verwiesen wird dann auf den offen schwul lebenden Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, den ehemaligen Bundesaußenminister Guido Westerwelle sowie auf eine Vielzahl von prominenten Schwulen und Lesben im Medien- und Showgeschäft. Und seit sich mit Thomas Hitzelsperger vor kurzem erstmals auch ein früherer Fußball-Nationalspieler als schwul geoutet hat und dies von einer riesigen Welle medialen Beifalls begleitet wurde, scheint ein Mehr an Toleranz kaum möglich.
Fast verwundert dürfte daher mancher zur Kenntnis nehmen, dass erst genau 20 Jahre vergangen sind, seit der berüchtigte Schwulenparagraf 175 aus dem deutschen Strafgesetzbuch gestrichen wurde. Seinen Namen verdankte er der Tatsache, dass stets nur die gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Männern unter Strafe stand, während sich Lesben in der Bundesrepublik stets strafrechtlichen Desinteresses erfreuen konnten.
Langer Kampf gegen den Schwulen-Paragraphen
Die deutschen Schwulen haben einen langen Kampf gegen den Paragraphen geführt, der unter dieser Nummer bereits im Reichsstrafgesetzbuch von 1871 stand. Wenn heute rückblickend die Ära Adenauer als bieder und verkrustet bezeichnet wird, dann ist ein Indiz hierfür auch, dass der § 175 in der von den Nazis 1935 deutlich verschärften Form bis zum Jahr 1969 galt. Und erst 1973 verzichtete der Gesetzgeber auf den diskriminierenden Begriff „Unzucht“ für die Liebe zwischen Männern. Doch selbst die Streichung der letzten Version des § 175, der nur noch die schwule Liebe zwischen Erwachsenen und Jugendlichen ahndete, war nicht Ausdruck politischen Willens der damaligen Regierung Kohl. Sie war 1994 vielmehr pure Notwendigkeit in Folge der deutschen Einheit: Ausgerechnet die im Westen als so muffig-bieder angesehene DDR hatte die Strafbarkeit der schwulen und lesbischen Liebe bereits 1987 ersatzlos aufgehoben.
So wurde DDR-Recht an dieser Stelle zum Vorbild für gesamtdeutsches Recht. Ein interessantes Detail – insbesondere im Vergleich zur Entwicklung in anderen post-sozialistischen Gesellschaften!
… und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland
Parallel zur Rechtssetzung hat sich auch die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexualität in Deutschland entwickelt. Den früheren Glauben, Homosexualität sei ansteckend, man könne zu ihr „verführt“ werden, teilt dank moderner Wissenschaft kein ernst zu nehmender Mensch mehr. Welche Form von Sexualität man lebt, ist keine Frage der freien Entscheidung, sondern der Veranlagung.
Und die ist eben so oder so. Punkt.
Erst auf solchen Erkenntnissen kann gesellschaftlicher Wandel gründen: Homosexuelle Paare haben es heute in der Regel nicht schwerer als andere, eine Wohnung zu finden. Und auch in katholischen Familien auf dem Lande, die stets als Synonym für strukturellen Konservatismus gelten, bringen schwule Familienmitglieder heute ganz selbstverständlich ihre Lebenspartner zu Omas 80. Geburtstag mit – ohne das jemand deshalb den Raum verlässt. All das wäre in der Tat vor 30 oder 40 Jahren noch undenkbar in Deutschland gewesen!
Gesellschaftlicher Wandel braucht viel Zeit
Wenn auf www.dw.de nicht oben der Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest als Zeichen von Toleranz gedeutet wird, während weiter unten auf der Seite von zunehmender Homophobie in den Fußballstadien berichtet wird – so geschehen am 12. Mai. Und so weiter …
All das wird aber noch dauern. Zum erhobenen Zeigefinger aus Deutschland gegenüber vermeintlich archaisch-homophoben Gesellschaften besteht daher noch kein Anlass.
Am 11. Juni 1994 wurde der §175 StGB, der so genannte „Schwulen-Paragraph“, gestrichen.
Homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen gehen den Staat seither nichts an
Seit wann gab es den Paragrafen 175 im StGB? Der Strafrechtsparagraf 175 wurde nach Gründung des Deutschen Reichs 1871 eingeführt und hatte einen Vorläufer im preußischen Staat. Er bedrohte „widernatürliche Unzucht“ zwischen Männern mit bis zu sechs Monaten Gefängnis.
Was passierte bei den Nationalsozialisten mit dem Paragrafen? Bereits ab 1934 wollten die Nazis alle Personen erfassen, „die sich irgendwie homosexuell betätigt haben“. 1935 verschärften die Nazis den Paragrafen. Sie strichen das Adjektiv „widernatürlich“ und definierten vermeintliche „Unzucht“ so, dass schon ein Kuss oder „begehrlicher Blick“ reichen konnte, um Schwule ins Gefängnis zu bringen. Ein zusätzlicher Paragraf 175a bedrohte „schwere Unzucht“ mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren.
Was bedeutete die Verschärfung der Nazis? Während der systematischen Schwulenverfolgung der Nazis wurden mehr als 100 000 Männer polizeilich erfasst und etwa 50 000 nach Paragraf 175 verurteilt. Zwischen 10 000 und 15 000 Homosexuelle wurden in Konzentrationslagern gequält, Tausende ermordet. Im KZ waren die mit „Rosa Winkel“ markierten Schwulen in der Rangordnung oft ganz unten.
Warum war die Verfolgung nach dem Ende der NS-Herrschaft nicht vorbei? Nach 1945 behielt die Bundesrepublik die NS-Fassung des Paragrafen weitgehend unverändert weiter, während die ebenfalls 1949 gegründete DDR zur alten Fassung zurückkehrte. Strafrechtliche Verfolgung gab es also für westdeutsche Schwule bis 1969 weiter, etwa 50 000 Urteile wurden gefällt. In der DDR konnten Schwule meistens unbehelligter leben. Dort verschwand der Paragraf 175 1968 komplett, jegliche strafrechtliche Sonderbehandlung im Jugendschutz 1988.
Wann gab es in der Bundesrepublik Reformen am Paragrafen? Im Zuge des 68er-Reformaufbruchs wurde Homosexualität unter Erwachsenen in der Bundesrepublik 1969 straffrei. Zunächst gab es noch eine doppelte Schutzaltersgrenze. Täter konnte nur ein Mann über 18, Opfer nur ein Mann unter 21 Jahren sein – mit zum Teil absurden Auswirkungen. Ende 1973 wurde diese Regelung verworfen und die Straflosigkeit ab 18 eingeführt. Die Formulierung „Unzucht zwischen Männern“ verschwand und wurde zu „Homosexuelle Handlungen“. Nach wie vor gab es unterschiedliche Schutzalter: Jugendliche besäßen zwar mit 16 die Reife, sich selbstbestimmt für das andere Geschlecht zu entscheiden, jedoch erst mit 18 für das eigene Geschlecht.
Warum verschwand der 175er erst 1994? Der Bundestag hatte nach der Wiedervereinigung 1990 im Zuge der Rechtsangleichung zu entscheiden, ob Paragraf 175 auf die östlichen Bundesländer ausgeweitet werden sollte. In der DDR gab es keine Sondervorschriften für Schwule mehr. 1994, mit Ablauf der Frist für die Angleichung, ließ der Bundestag den Paragrafen wegfallen.