Wie Aussagen verdreht und zugespitzt werden, bis man sie fast nicht wiedererkennt, ließ sich gerade anhand eines stern-Interviews mit FDP-Chef Christian Lindner zeigen.
Jan Böhmermann hat der New York Times ein Interview gegeben, bei dem es nix zu lachen gab. Und bei der Frankreich-Wahl fallen die Medien schon wieder in alte „Wir wissen alles vorher“-Verhaltensmuster.
Da hat der Chef der Ein-Mann-Partei FDP, Christian Lindner, aber einen rausgehauen. Erzählt er doch im stern tatsächlich, dass seiner Meinung nach der deutsche Fußball-Nationalspieler Mesut Özil im Stadion die Hymne mitsingen soll. Der Express machte online daraus dann sogar eine „Gesangspflicht!“, garniert mit einem markigen Foto Lindners. Und der Alt-Grüne Jürgen Trittin rückte Lindner auf Twitter wegen jener Gesangspflicht in AfD-Nähe: „Lindner gibt den Gauland“. Sie erinnern sich: Da war diese Geschichte mit Gauland, der mal gesagt hat, dass viele Deutsche einen Boateng nicht gerne als Nachbarn hätten.
Lindner hat nunmehr das stern-Interview im Wortlaut veröffentlicht und siehe da, um diese Stelle geht es:
Frage: Herr Lindner, wir möchten Sie bitten, zunächst nur mit Ja, Nein oder „egal“ zu antworten, okay? Erste Frage: Sollte Mesut Özil vor Länderspielen die Nationalhymne mitsingen?
Lindner: Ja.
Das war alles. Der stern war es, der mit Lindner ein „Ja, nein, egal“-Spielchen spielen wollte. In dieser Form wirkt die Aussage völlig harmlos und gar nicht hetzerisch. Es handelt sich hier um eine mediale Spielart der Stillen Post. Stern.de spitzt in der Überschrift die harmlose „Ja“-Aussage Lindners ein wenig zu, so dass es so wirkt, als habe Lindner das aktiv gesagt und nicht nur bejaht (Im Text selbst steht es korrekt). Jürgen Trittin liest mutmaßlich nur die zugespitzte Überschrift und spitzt ein bisschen weiter zu, indem er den AfD-Gauland-Spin zufügt. Und der Express marktschreiert nach ein paar billigen Klicks und schon wird aus dem kleinen „Ja“ eine angeblich geforderte „Gesangspflicht!“ mit Ausrufezeichen.
Noch ein Beispiel aus der Rubrik „Sie lernen nix dazu“: Vergangenen Sonntag war die erste Runde dieser Schicksalswahl in Frankreich, von deren Ausgang der Fortgang der Welt, mindestens aber der EU abhängt. In die Stichwahl gehen die ultrarechte Marine Le Pen und der europafreundliche Emmanuel Macron. Und weil das französische Wahlsystem ist wie es ist, denken nun viele wieder, die Sache sei gelaufen. Auch und gerade in den Medien. Laut landläufiger Medien-Meinung, müssen sich jetzt alle Wähler, die nicht für Le Pen gestimmt haben, bei der Stichwahl für Macron entscheiden, weil demokratische Lösung usw. In der ersten Runde hatte Macron 24 Prozent der Stimmen und Le Pen 21,3 Prozent. Der Drittplatzierte, François Fillon, kam auf 20 und der Vierte, Jean-Luc Mélenchon, auf 19,6 Prozent. Mit anderen Worten: Es war sehr, sehr knapp. Mélenchon ist übrigens alles andere als europafreundlich. In seiner Ablehnung der EU gegenüber steht der Linke er eindeutig näher bei Le Pen als bei Macron. Wer sagt eigentlich, dass einige Eu-Verdrossene, die ihn gewählt haben, bei der Stichwahl das Kreuz nicht bei Le Pen machen? Oder dass einige Enttäuschte beim zweiten Wahlgang zu Hause bleiben, nachdem ihr Favorit nicht mehr dabei ist? Trotz solcher Unwägbarkeiten konnte man bei der Lektüre deutscher Medien den Eindruck gewinnen, das Ding sei schon entschieden. Den Vogel abgeschossen hat dabei das „heute journal“. Claus Kleber moderierte dort einen Beitrag über Macron mit den Worten an: „Es ist ein Präsident, der als Außenseiter beginnt …“ Erde an Kleber: Er ist kein Präsident, die Wahl ist erst am 7. Mai! Auch Theo Koll, Leiter des Pariser ZDF-Studios, sprach in der Sendung bereits von Macron als dem künftigen Präsidenten Frankreichs. Erinnern wir uns noch kurz an die ganzen Medienschwüre nach der Brexit- und der Trump-Wahl, als die Wähler den Medien nicht den Gefallen taten, so abzustimmen, wie sie wollten. Man wollte künftig vorsichtiger sein und genauer usw. Und jetzt: Eben wieder mal nix dazugelernt. Silke Burmester hat das für die taz drastisch aber treffend diagnostiziert:
Der öffentlich-rechtliche Journalismus ist wie ein Krebspatient, dem man ein Stück Lunge entfernt hat. Als hätte das, was ihn zerfrisst, nichts mit ihm zu tun, sitzt er im Rollstuhl vor der Kliniktür und raucht. Seine Vertreter sind getrieben. Vernunft ist es nicht.
Wobei das Phänomen sich nicht nur auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk beschränkt. Bei dieser Nachricht der FAZ musste ich kurz auf den Kalender schauen, ob wir noch immer noch den 1. April haben: „Peer Steinbrück startet Comedy-Karriere“ Aber nein, es ist bitterer ernst. Leider. Der glücklose Ex-Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, macht gemeinsam mit dem vermutlich unlustigsten Kabarettisten Deutschlands, Florian Schroeder, ein Bühnenprogramm. Muss das sein? Auf die Idee sind die beiden „Spaßvögel“ vielleicht gekommen, als Steinbrück in der radioeins Satireshow von Schröder zu Gast warManche würden das Gespräch der beiden launig nennen. Ich persönlich fand es bewienernd auf Seiten Schroeders und selbstgefällig auf Seiten Steinbrücks. Ich werde mir wohl kein Ticket kaufen.
Dass er auch mal unlustig kann, bewies diese Woche übrigens auch Jan Böhmermann. Der war in den USA in einer Late-Night-Talkshow zu Gast, was wegen der limitierten Englisch-Kenntnisse Böhmermanns nur gebremst komisch war. Und er wurde von der New York Times interviewt. Von dem Interview gibt es ein Video-Dokument, das fast wehtut anzuschauen.
Böhmermann radebrecht so ungelenk Englisch („…but äh…“) und die Times-Tante ist so gnadenlos humorlos – wäre das ein Bühnenprogramm gewesen, das Publikum wäre in Scharen geflohen. Sonst kennen wir Böhmermann als detailversessenen Komödianten der perfekt produzierte Einspielfilmen und aberwitzigen Aktionen präsentiert. Hier ist er einmal das, was er so oft von sich behauptet zu sein: ein blasser, dünner Junge. Er kann also doch nicht alles. Das hat auch schon wieder was Tröstliches.
Und falls Sie sich fragen, liebe Leser, was Gruner + Jahr-Chefin Julia Jäkel am Ostersonntag den lieben langen Tag so gemacht hat – sie hat es bei der Verleihung des Henri Nannen Preises am Donnerstagabend verraten. Sie hat nach eigener Aussage am Ostersonntag alle Siegerreportagen des Egon-Erwin-Kisch-Preises der vergangenen 40 Jahre gelesen! Jawohl! Am Ostersonntag! Wie lange braucht man eigentlich, um so eine Reportage zu lesen? Die sind ja manchmal recht lange. Nehmen wir an, Frau Jäkel liest sehr schnell und sie brauchte für eine Reportage nur rund 15 Minuten. Dann hätte sie am Ostersonntag bei 40 Siegerreportagen zehn Stunden lang Reportagen gelesen. Pausen nicht mitgezählt. Chapeau …
Der Mai, der ist (gerade mal wieder) gekommen – und nicht nur die Bäume schlagen aus!