Würde weniger mehr gewesen sein?

Kriegen wir jetzt die wenigen Sachen, die wir an den Deutschen so schätzen: die BMWs, die Brauereien, die Elektrogeräte, den legalen Datenklau – und all das?
Doch dann fällt uns was ein: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Phänomen des deutschen Nationalismus im zwanzigsten Jahrhundert, dieser außergewöhnlichen Freisetzung von Energie, die so viel Zerstörung verursacht hat, und der Orientierungslosigkeit dieser Tage? Warum haben die Deutschen aufgehört, sich zu vermehren? Wollen Sie keine blonden Kinder mehr, ist ihnen Bratwurst und Weißbier kein emotionales Engagement mehr wert? Sind sie nicht mehr stolz auf ihre herrlichen Buchläden, auf ihre Kunst, selbst mittelmäßige Mannschaften immer wieder ins WM-Finale zu bringen, auf ihren effizienten öffentlichen Nahverkehr und die exzellente Straßenreinigung?

Gemeinschaft

Was auffällt, wenn man auf die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts zurückblickt, ist die Bedeutung des Begriffs Gemeinschaft. War Gemeinschaft in den Jahrhunderten zuvor noch etwas Selbstverständliches, so geriet sie mit dem Aufkommen der Industrialisierung und des Individualismus unter Druck. Da immer mehr Menschen allein und mobil in freizügigeren, städtisch geprägten Strukturen lebten, entstand diese zugleich erhabene wie aber auch schreckliche Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit, der Wunsch, in einer Welt zu leben mit starken menschlichen Beziehungen und einer auf einem Gemeinschaftsgefühl basierenden kraftvollen Solidarität.
Doch an diesem Punkt gab es keine natürliche, prämoderne Hierarchie, die solche Beziehungen schaffen konnte. Gemeinschaft konnte nur noch eine Ansammlung von gleichen Individuen sein, die sich für eine gemeinsame Sache zusammenfanden, unsere eigene Sache. Einheit wurde nicht durch eine „natürliche Hierarchie“, sondern eine zweckgebundene Ausrichtung auf ein Ziel hergestellt: die Bewahrung und Weiterentwicklung unserer Kultur, unseres Erbes, unserer kollektiven Identität.
Derartige Konzepte waren im Mittelalter undenkbar. Jetzt wurden sie von einer Regierung per Massenmedien verbreitet. Man redete von Blut, das einte, von heiligem Boden. Innerhalb der Nation waren alle gleich, aber die Nation als Ganzes war anderen überlegen. Das Verlangen nach Zusammengehörigkeit war so stark, dass die Menschen sich kaum darum kümmerten, hinter welcher Sache sie sich versammelten.

Buße für alles und für alle

Jedes Land in Westeuropa ist sich der Schande unserer nationalistischen Vergangenheit bewußt. Gewaltige, kampfbereite Gemeinschaften standen sich gegenüber, die nur im Verlangen nach der gegenseitigen Zerstörung zu sich finden konnten. Da dieses Phänomen in Deutschland in seiner häßlichsten Form zum Ausdruck kam, empfinden die Deutschen diese Schande tiefer als andere. Und man hat die Deutschen ermuntert, für alle zu büßen. Nach dem Krieg war verständlicherweise ein Umschwenken ins andere Extrem zu verzeichnen. Der Wunsch nach Gemeinschaft war nicht kleiner geworden, aber jetzt mussten immer größere Gemeinschaften konstruiert werden, die sich nicht auf sich selbst beriefen und die Werte anderer ausschlossen – deutsche, französische, britische, katholische oder protestantische Werte. Diese Gemeinschaften beruhten auf Werten, die Schopenhauer negative Werte, negative Ideale genannt hat: Freiheit (das zu tun, was wir nicht kennen), Frieden und Nicht-Einmischung (ungeachtet der Gefahren), Emanzipation (egal, wovon und mit welchem Ergebnis), Gleichbehandlung (egal, wie groß die Unterschiede).
Das alles war zweifellos richtig. Was sonst hätten die Europäer im Schutt von 1945 tun sollen? Im Grunde basierte die gesamte Nachkriegskultur auf einem einzigen verneinenden, durch und durch bewundernswerten Gedanken: So etwas darf nie wieder passieren.
So entstand die Europäische Gemeinschaft, der erste große Zusammenschluss von Menschen, der nicht auf Zuwachs und Verstärkung einer kollektiven Identität abzielte, sondern sich als eine Folge von kleinen Kapitulationen begriff: Jedes Land hängte seine Flagge etwas niedriger, und jedes Volk war darauf bedacht, den Wahn von einem separaten Schicksal zurückzudrängen.

Europa über alles

Wir haben versucht, das Projekt mit Begeisterung anzupacken. Wir hatten ja wohl auch keine andere Wahl. Die Franzosen sehen darin die Stärkung sozialistischer Ideale.
Die Engländer stellen es sich als eine Erweiterung der Ideologie vom freien Unternehmertum vor – und brexitieren sich flugs.
Und die Deutschen haben vielleicht die Chance gesehen, daß sich ihre nationale Schande in einem großen, optimistischen und entschieden pazifistischen Superstaat in nichts auflösen würde, als finale Blütezeit der Aufklärung wie auch – merkwürdigerweise – als Vollendung einer geläuterten christlichen Welt.
Inmitten der Aufregung um die Wiedervereinigung Deutschlands gewann das beruhigende Projekt zweifellos noch zusätzlich an Bedeutung. Der Tatsache, dass auf einer tiefer liegenden geistigen Ebene das Projekt Europa nicht zufriedenstellend verlief und oft mehr Zwist als Gemeinsamkeit produzierte, begegnete man mit immer ehrgeizigeren Idealen: der Einführung des Euro, der Osterweiterung, der Europäischen Verfassung.

Langzeitengagement für irgendein Ideal

Man könnte sagen, daß die Europäer dann am besten funktionieren, wenn man die Langeweile und die Kompromisse des Alltagsgeschäfts als etwas Vorläufiges begreift, das eingebettet ist in ein Langzeitengagement für irgendein in der Zukunft liegendes Ideal: Demokratie, Sozialismus, die Einheit Europas, das Königreich Gottes.
Es fällt leichter, die Freuden und Annehmlichkeiten einer hedonistischen Konsumgesellschaft zu genießen, wenn man gleichzeitig davon überzeugt ist, dass man selbst – wie auch die Gesellschaft als Ganzes – im Einklang steht mit verantwortungsvollen und idealistischen politischen Entwicklungen.
Dumm nur, dass es immer schwieriger wird, diese bequeme Strategie durchzuhalten. Idealismus – wohin man auch blickt – interessiert seit Jahren niemanden mehr. Wir können uns selbst einfach nicht mehr davon überzeugen, dass da tatsächlich an einem verantwortungsvollen, fortschrittlichen Projekt gearbeitet wird.

Der Sozialismus hat – was Wunder – uns nicht erlöst

Das freie Unternehmertum beschwört nur das Schreckgespenst von Importfluten aus China (oder Polen) herauf; und das Ideal Europa überzeugt keine junge Frau von der Mutterschaft. Und das vielleicht Entscheidendste: Wir haben jegliches Vertrauen in eine Medienlandschaft verloren, die doch eigentlich unsere zersplitterte Gesellschaft zusammenhalten will. Die seichte Phrasendrescherei, die Endlosschleife aus Melodram und Beruhigungspille ist abstoßend.

Bliebe noch das Königreich Gottes …

Wenn man an nichts mehr glauben kann oder nichts mehr da ist, um das herum sich eine Gemeinschaft bilden kann, dann kehre zurück zu Gott.
Allerdings ist der christliche Glaube in Westeuropa eine ziemlich armselige und kraftlose Zuflucht, verglichen mit dem starken,  stolzen, oft genug fundamentalistisch einherkommenden Islam. Sicher, es gibt eine christliche Liturgie, und für die krankhaft Ängstlichen auch einen Moralkodex, aber die alles durchdringende Leidenschaft fehlt. Tief im Innern wissen wir, jeder steht für sich allein. Wir sind nicht mehr Teil einer „religiösen“ Gemeinschaft, die uns Mut macht und zu Mutterschaften ermuntert.
Kürzlich ergab eine Umfrage, dass   w i r  fast auf allen Gebieten pessimistisch in die Zukunft blicken, während Einwanderer (oder „Geflüchtete“) gespannt und hoffnungsfroh nach vorn schauen.
Sie bilden eine Gemeinschaft. Oder viele Gemeinschaften. Oder Parallel- sowie Gegengesellschaften. Sie wollen es schaffen, ihre gemeinsame Identität ist von Kampfbereitschaft geprägt. Sie haben in tiefster Armut angefangen, ihre wirtschaftlichen Verhältnisse bessern sich. Und ihr religiöser Glaube wird durch den Kontakt mit dem dekadenten Westen gestärkt. Sie setzen freudig Kinder in die Welt, damit die ihre Zuversicht und ihren Glauben teilen können.

Nur noch Fußball sinnstiftend?

Wir können ihnen weder nacheifern noch von ihnen lernen. Unseren Individualismus und Skeptizismus kann man nicht einfach wieder zurückdrehen. Manchmal müssen wir den Eindruck haben, dass die einzigen begeisterungsfähigen, positiven Gemeinschaften, die wir uns noch zu bilden trauen, die rund um Fußballmannschaften sind.

Bleiben wir ernst, und zu guter Letzt

Könnte es sein, dass der Islam oder die chinesischen Importe uns retten werden? Mit dem Rücken zur Wand werden wir erkennen, dass unsere Freiheiten es tatsächlich wert sind, sich mit heißem Herzen Gedanken darüber zu machen. Sind wir erst mal arbeitslos und ärmer, dann werden wir gezwungen sein, auf neue Art und Weise zusammenzuleben.
Der Fehler aller grobschlächtigen demographischen Vorhersagen ist, dass wir nicht wissen, wie die Menschen auf den Ernstfall reagieren werden. Das Leben wird sich ziemlich verändern, wenn es nur noch sechzig Millionen Deutsche gibt. Oder zwanzig  …

Apr 2017 | Allgemein, In vino veritas, Politik | Kommentieren